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Die Mär vom Gleitwachs

Olympia 2006. - Es ist eines der am strengsten gehüteten Geheimnisse von olympischen Skilangläufern: Sie würden niemals verraten, wie genau sie ihre Bretter präparieren. Ganze Teams von Technikern sind mit dem geheimnisumwitterten Wachsen der Skier beschäftigt. Sie tragen ein bestimmtes Paraffingemisch auf die Lauffläche auf, fest überzeugt davon, die Skier so gleitfähiger zu machen. Aber hilft Wachs überhaupt? Ein ehemaliger Trainer und Team-Techniker aus Russland ist der Sache jetzt wissenschaftlich auf den Grund gegangen und kommt zu einem - für die Wachshersteller - verheerenden Ergebnis.

Von Volker Mrasek | 16.02.2006
    35 Läufer laufen um die Medaillen von Pragelati.

    Die, die die ganze Zeit die Arbeit an der Spitze gemacht haben, sind nach wie vor vorne.

    Komm, auf geht's, komm! Geht schon, komm!


    Zwei oder drei Stunden kann ein Wettkampf im Skilanglauf dauern. Dann nämlich, wenn es über die strapaziöse 50-Kilometer-Distanz geht. Doch das ist noch gar nichts im Vergleich zu der Zeit, die die Athleten vorher mit dem Wachsen ihrer Skier zubringen:

    "1972, bei den Winterspielen in Sapporo, da haben die Skilangläufer noch höchstens 30 Minuten gebraucht, um ihre Skier für das Rennen zu präparieren. Heute sind sie tagelang damit beschäftigt. Denn es heißt, die Lauffläche müsse zig Mal mit Gleitwachs behandelt werden."

    20 Kilometer sind gelaufen. Wie groß ist das Feld? Wie viel sind noch mit dabei?

    Mit dem Präparieren von Langlauf-Skiern kennt sich Leonid Kuzmin aus. Der Mann aus Moskau arbeitete als Trainer und Techniker. Er betreute lange Jahre seine Frau Antonina Ordina, eine frühere russische Spitzenathletin. Und er befasst sich heute sogar wissenschaftlich mit dem Thema. Nicht mehr in Moskau, sondern in Schweden, an der noch jungen Mittelschwedischen Universität in Ostersund, wo Kuzmin gerade dabei ist, seine Doktorarbeit abzuschließen: über das Wachsen von Skiern.

    Und das langsame Tempo könnte helfen.

    Ein langsames Tempo in der Loipe! Das muss nichts mit Taktik zu tun haben. Oder mit müden Muskeln. Das könnte eher vom Wachs herrühren, meint Kuzmin und stellt ein gängiges Paradigma in Frage: dass es für Ski-Langläufer nötig sei, ihre Bretter zu wachsen.

    " Am wichtigsten ist die Hydrophobie. Die Lauffläche des Skis muss so Wasser abweisend wie möglich sein. Denn der Athlet läuft eigentlich gar nicht über den Schnee. Zwischen seinem Ski und dem Schnee befindet sich immer ein Wasserfilm. Die Wachshersteller sagen nun, dass ihre Produkte die Wasser abweisenden Eigenschaften der Skier verbessern. Aber unsere Messungen zeigen, dass dieser Effekt sehr gering ist."

    Alles nur theoretische Erläuterungen. Die Praxis ist der Scharfrichter!

    In der Praxis bremsen die modernen Paraffin-Wachse den Ski sogar, wie Kuzmin bei seinen Studien herausfand. Denn in dem vermeintlichen Gleitmittel setzen sich feine Schmutzpartikel aus der Loipe fest. Am Anfang mag das Wachs die Reibung noch vermindern, da es glatter ist als die Ski-Unterseite aus Polyethylen. Doch je stärker das Wachs verschmutzt, desto rauer wird seine Oberfläche - und desto schlechter läuft der Langlauf-Ski:

    " Spätestens nach drei Kilometern ist der gewachste Ski langsamer als ein ungewachster, und der Vorteil der ganzen Präparierung dahin."

    Und die Gruppe ist kleiner geworden. Es sind nur noch 20. Hier, bei diesem vorletzten Anstieg.

    Komm, beiß noch mal! Komm, auf geht's, komm!

    Unten drunter sind Langlauf-Skier normalerweise schwarz. Für seine Tests ließ sich Leonid Kuzmin eigens transparente Laufflächen anfertigen. Um nachher mit Hilfe von Kamerabildern zeigen zu können, wie sehr das Ski-Wachs mit zunehmender Laufstrecke vergraut:

    " Diese Schmutzpartikel sind sehr klein. Aber es bleiben so viele am Wachs haften, dass sich die Lauffläche verfärbt. Und es zeigte sich: Je mehr Schmutz im Wachs hängen blieb, desto langsamer wurden die Skier."

    Unglaubliches hier auf diesen letzten Metern in Pragelato.

    Seine Arbeit habe sich in der Szene bereits herumgesprochen, sagt Kuzmin. Doch begeistert sei niemand. Denn würden die Langlaufteams aufs Wachsen der Skier verzichten, dann - so der Wahlschwede - wären viele Techniker fortan überflüssig. Und wer verliere schon gerne seinen Job.