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"Die Märkte treiben die Politik vor sich her"

Die Euro-Zone war eine Schönwetterkonstruktion, die Wohltaten auf Pump finanziert habe, sagt der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer. Nun habe sie handfeste Finanzprobleme, die gelöst werden müssten, um das Vertrauen der Anleger wieder zu gewinnen. Sonst drohe eine Wirtschaftskrise großen Ausmaßes.

Thomas Mayer im Gespräch mit Michael Braun |
    Michael Braun: Herr Mayer, wie ist es Ihnen in den vergangenen Wochen gegangen, wie haben Sie diese Woche erlebt? Haben Sie auch Ihre Aktien aus dem Depot rausgehauen?

    Thomas Mayer: Also es waren schon sehr turbulente Tage, man kann schon sagen Wochen. Aber wenn Sie mich ganz persönlich fragen: Nein, ich habe meine Aktien nicht aus dem Depot herausgehauen, weil ich es einfach ablehne, in Panik und Angst zu handeln.

    Braun: Nur rund fünf Prozent der Deutschen haben direkten Aktienbesitz, mit den Fondsbesitzern zusammen sind es etwa zwölf Prozent – also keine große Betroffenheit. Auch die Versicherungen haben einen relativ kleinen Anteil an Aktien. Warum gucken wir und starren wir dennoch auf Dow und DAX?

    Mayer: Zum einen hängen natürlich die Unternehmen sehr stark davon ab, ob sie die Fähigkeit haben, sich über den Kapitalmarkt zu finanzieren, das heißt also, ob sie neue Aktien begeben können, ob sie Unternehmensanleihen begeben können. Das betrifft also auch uns, Deutschland. Aber andere Länder – da ist natürlich der Aktienbesitz weitaus größer. Und wenn der S&P 500, wenn der Dow-Jones abschmiert, dann bedeutet das doch einiges für die amerikanischen Haushalte, dann bekommen sie Angst, dann reduzieren sie ihre Konsumausgaben. Dann kommt zu einem möglichen Investitionsstau noch ein Konsumstau, und dann kann die Wirtschaft natürlich schon Schaden nehmen.

    Braun: Sind die Börsen mit ihren automatischen Kauf- und Verkaufprogrammen eigentlich ein rationaler Ratgeber? Händler berichten von Panik, von Unruhe, von Angst. Sind solche Märkte, die in solcher Verfassung sind, die ihre Verfassung so beschreiben, noch wirklich Ratgeber, auf die man hören kann?

    Mayer: Ja, man muss da unterscheiden zwischen möglichen technischen Problemen, die es im Markt gibt. Wir hatten ja mal so einen Blitz-Crash vor einiger Zeit, der durch Computerverkaufprogramme ausgelöst wurde. Das sind meines Erachtens nicht die Probleme, die großen Probleme. Die kann man in den Griff bekommen, da kann man drauf schauen, da es entsprechende Regulierungen gibt, zum Beispiel Handelsunterbrechungen. Wir haben nach dem '87er Aktienmarkt-Crash sehr viel verändert in den Märkten, das ist nicht das Problem.

    Das Hauptproblem ist die Psychologie der Anleger. Und was wir momentan erlebt haben, ist ein Vertrauensverlust der Anleger. Und ich würde sagen, es ist eigentlich ein Misstrauensvotum der Anleger gegenüber der Politik. Man hat das Vertrauen verloren in die Gestaltungsfähigkeit der Politik – denken Sie an die Euro-Schuldenkrise, denken Sie an die amerikanische Schuldenkrise. Vertrauensverlust in die Gestaltungsfähigkeit der Politik plus Sorge um die Weltkonjunktur. Und das sind die Faktoren, die jetzt momentan die Psychologie des Marktes beeinflussen, die dann zu zum Teil panikartigen Reaktionen führen.

    Braun: Und dieses Panikartige ist dennoch rational genug, um diese Botschaft ernst zu nehmen?

    Mayer: Es ist nicht rational, es ist irrational. Ich glaube, es ist verkehrt zu sagen, die Märkte sind immer rational. Die Märkte sind meist rational, aber zum Teil auch sehr irrational. Dennoch muss man diese irrationalen Bewegungen ernst nehmen, weil sie eben realwirtschaftliche Folgen haben können. Wenn Marktturbulenzen, wenn irrationale Übertreibungen in den Märkten sich auswirken auf das Vertrauen der Unternehmen, die investieren sollen, der Konsumenten, die konsumieren sollen, dann haben solche Ausschläge, die vielleicht jetzt zunächst fundamental gar nicht begründet sind, dann haben solche Ausschläge dann letztlich realwirtschaftliche fundamentale Folgen.

    Braun: Haben fundamentale Folgen – wie gefährlich ist denn die Situation? Ist es nur ein Vermögensschaden, der sozusagen bei dem einzelnen Aktionär halt angekommen ist? Das kann ja wohl nicht der Maßstab sein dafür, dass Politiker und Regierungen reagieren müssen.

    Mayer: Nein, das kann's natürlich nicht sein. Wenn Sie sich das so anschauen, hatten wir ja gigantische Papierverluste. Hoffentlich bleiben das Papierverluste, hoffentlich verbessert sich die Stimmung in den Märkten und die Märkte kommen wieder zurück, bevor das tatsächlich realwirtschaftlichen Schaden anrichtet.

    Aber eines sollten die Politiker schon beherzigen und eine Botschaft sollten sie mitnehmen. Und das ist eben die Botschaft, dass die Anleger den Politikern ein Misstrauensvotum ausgesprochen haben. Und ich glaube, es ist nicht ganz unbegründet. Überlegen Sie sich, was passiert ist: Seit über einem Jahr laborieren wir mit der Eurokrise herum, und wir haben keine nachhaltige Lösung gefunden. Die Politik hat die – will ich mal sagen – harten Fragen immer hinausgeschoben: Ist Griechenland solvent oder nicht? Man hat es immer hinausgeschoben dieses Problem.

    Schauen Sie sich die amerikanische Schuldenkrise an: Die Amerikaner haben es so weit kommen lassen, dass einige unter den amerikanischen führenden Politikern so getan haben, als ob es ihnen nichts ausmachen würde, wenn der Staat bankrott geht. Der Markt hat die Zahlungswilligkeit der Politik infrage gestellt. Wenn man so leichtfertig mit dem Vertrauen der Märkte umgeht, dann denke ich, dann muss man sich hinterher nicht wundern, wenn die Märkte letztendlich das Vertrauen verlieren.

    Braun: Geht diese Vertrauensbekundung nicht auch umgekehrt? Also sind die Märkte nicht auch selbst schuld an der Situation, zum Beispiel an der Verschuldung der Staaten, weil sie mit irrationalen Produkten, zumindest in der Zeit bis zum Jahr 2007, 2008 auf den Märkten agiert haben und damit den Staat in Zugzwang gebracht haben? Sind da Banken, die sich haben retten lassen, nicht selbst schuld?

    Mayer: Ja richtig. Ich meine, die Ereignisse, die wir jetzt über die letzten Jahre schon gesehen haben – ich meine, diese Finanzkrise begann ja im Jahr 2007, und wir sind momentan nur in einer weiteren Phase, nämlich in der Staatsschuldenkrisenphase. Diese ganze Entwicklung, die kann man nur erklären aufgrund der vorangegangenen zehn Jahre, in der die Märkte das genaue Gegenteil von dem waren, was sie jetzt sind.

    Wenn sie jetzt riesige Vertrauensprobleme haben, dann waren sie damals viel zu vertrauensselig. Man gab jedem Kredit. Ob das jetzt amerikanische Haushalte waren, die knapp über der Armutsgrenze lagen, denen Kredite gegeben wurden, so dass sie sich teure Häuser kaufen konnten, die sie nie im Leben wieder zurückbezahlen konnten – Kredite, die sie nie zurückbezahlen konnten. Oder ob das Staaten waren mit extrem hohen Schuldenlasten und hohen Defiziten.

    Nein, jeder hat Kredit gekriegt. Die Märkte hat es nicht gekümmert, da waren sie in einem irrationalen Überschwang – na ja, wie ein manisch depressiver Mensch. Manchmal fallen Märkte aus irrationalem Überschwang in die rationale Depression. Ich glaube, wir haben in dieser Finanzkrise sehr viel dazugelernt, wie die Märkte funktionieren. Wir haben gesehen, dass die ökonomischen Theorien der rationalen Märkte, der rationalen Erwartungen, eben nicht immer gelten. Märkte sind – ich würde mal sagen – oft rational, aber eben nicht immer. Und wenn man sich darauf verlässt, dass sie immer rational wären, dann kommt man in Schwierigkeiten.

    Braun: Wenn diejenigen, die nun Handlungen von der Politik einfordern, die die Politik selbst mit ihrem irrationalen Überschwang in solche Situationen hineingeführt haben – haben die dann überhaupt die moralische Kraft, Anforderungen an die Politik zu stellen?

    Mayer: Es ist sehr schwierig, hier eine moralische Dimension hineinzubringen. Ich sehe den Markt irgendwie als eine wilde Kraft. Ist es moralisch, wenn Wasserkraft den Berg herunterbricht, Schlammlawinen loslöst und Leute dabei umbringt? Ich frage nicht danach: Ist das moralisch? Es passiert. Und Märkte werden einfach auch durch Massenpsychologie bestimmt, und das entzieht sich meines Erachtens der Dimension der moralischen Frage. Man kann sagen, es ist bedauerlich, es ist extrem unschön, es sollte nicht passieren. Aber mit Moral hat das eigentlich meines Erachtens nichts zu tun.

    Braun: Und wie vermittelt man das dem – sagen wir mal – interessierten Laien, der letztlich auch womöglich der Steuerzahler ist?

    Mayer: Man kann es ihm nur so vermitteln, dass man tatsächlich sagen muss: Eine solche Masse von Marktteilnehmern reagiert halt nun mal nach massenpsychologischen Gesichtspunkten.

    Da hilft es nichts, darüber zu verzweifeln oder darüber zu schimpfen, sondern man muss das einfach als Gegebenheit hinnehmen und sich dann darauf einstellen. Man muss sehen, dass Märkte nach oben wie nach unten übertreiben können, aber man muss natürlich auch sehen, dass solche massenpsychologischen Entwicklungen ja nie ganz ohne Ursachen sind. Er kommt nicht aus völlig heiterem Himmel, der irrationale Überschwang, den wir in den vergangenen Jahren bis zur Krise gesehen haben – ich meine, der wurde natürlich auch begünstigt durch das Handeln der Politik. Die Zentralbanken haben die Zinsen auf Rekordtiefs gesetzt, haben den Märkten signalisiert: Jetzt geht mal raus, nehmt Risiko. Das ist, wie wenn ich mit einem roten Tuch vor einem Stier wedle, dann greift der an.

    Die Regulierer haben in den USA zum Teil beide Augen zugedrückt. Man wollte, dass arme Familien hohe Kredite aufnehmen können, um sich Häuser zu kaufen. Das war gewünscht, politisch gewünscht. Hier im Euro-Raum hat sich niemand beschwert, so lange die Märkte auch marode Staaten finanziert haben. Da waren alle Regierungen froh, keiner stand auf und hat gesagt: Jetzt werdet mal vernünftig. Also, diese massenpsychologischen Entwicklungen haben auch immer noch ganz konkrete Hintergründe. Man muss eben auch sehen, dass auch die Politik dabei nicht ganz unschuldig war.

    Braun: Zu den Folgen – ich weiß nicht, ob es so ist – aber zu den Folgen könnte man ja auch möglicherweise die Unruhen in Großbritannien in der vergangenen Woche zählen. Sehen Sie da einen Zusammenhang zwischen Krise, Lösung der Krise und sozialen Unruhen?

    Mayer: Ich wäre sehr vorsichtig, jetzt da einen Zusammenhang zwischen den Sparprogrammen der Regierung in Großbritannien, die meines Erachtens absolut notwendig sind, und diesen Unruhen zu sehen. Zum Teil, was man jetzt auch darüber gehört hat, waren das ja nicht nur jetzt sozial völlig benachteiligte Schichten – Leute, die da gekommen sind und geplündert haben. Also, da wäre ich sehr, sehr vorsichtig.

    Was wir aber tatsächlich jetzt in dieser Zeit mitnehmen können, ist die Botschaft, dass das alte System, wo wir den Sozialstaat auf Pump finanziert haben – das ist vielleicht nicht so sehr bei uns passiert, aber woanders, denken Sie an Griechenland –, dass also soziale Wohltaten auf Pump, dass das einfach nicht geht. Dass dann, wenn der Geldhahn abgedreht wird, die sozialen Wohltaten fehlen, und wenn sich dann soziale Verwerfungen auftun, dann sollte man auch berücksichtigen, dass es eben zu Anfang falsch finanziert war – dass man eben tatsächlich auch die Leistungen, die man da vergeben hat, nicht erarbeitet hat.

    Braun: Kommen wir noch mal zum Krisenmanagement zurück nach der Analyse. Was läuft da im Moment schief? Fangen wir mal bei den Regierungen an. Es scheint ja im Moment so zu sein, dass die Märkte – Sie hatten es selbst gesagt – großes Misstrauen haben in die Regierungen. Passen die Entscheidungsmechanismen nicht zusammen? Die Märkte wollen eine schnellere Reaktion, eine schnelle Entscheidung, die Parlamente brauchen ihre Zeit. Oder sind da die Entscheidungen inhaltlich falsch?

    Mayer: Also wir haben jetzt – nehmen wir mal die Euro-Zone, die uns natürlich jetzt am nächsten ist, wo man ganz konkret werden kann –, wir haben da natürlich gesehen, dass die Euro-Zone bisher eine Schönwetterkonstruktion war. Die lief eben nur dann so lange, als sich hoch verschuldete Staaten am Markt immer wieder günstig refinanzieren konnten. Und sobald der Markt jetzt diesen irrationalen Überschwang verloren hat, war das beendet. Und jetzt müssen wir daraus die Schlussfolgerungen ziehen, dass Euro-Land – die EWU – nur dann wieder auf eine stabile Basis gestellt werden kann, wenn zwei Dinge verwirklicht werden.

    Das eine ist, dass die Staaten wieder eine verantwortungsvolle Finanzpolitik verfolgen und damit auch einhergehend für ihre finanzpolitischen Entscheidungen voll in Haftung genommen werden können. Das alte Prinzip, dass Sie und ich eigentlich immer befolgen müssen, dass wir haften für das, was wir tun, das muss auch wieder innerhalb der Euro-Zone verwirklicht werden, sonst funktioniert es nicht. Und zweitens muss die Zentralbank sich wieder auf ihre Kernaufgabe konzentrieren, was die Wahrung der Währungsstabilität ist, der Preisstabilität.

    Beide Dinge sind momentan verletzt. Staaten haften eben nicht für ihre vergangenen Entscheidungen, sondern nehmen andere mit in Haft. Die Zentralbank kümmert sich eben nicht nur um Preisstabilität, sondern hat angefangen, marode Staaten zu finanzieren. Da sind wir auf einer schiefen Ebene gelandet mit der Währungsunion, und man kann es eigentlich den Märkten nicht verübeln, dass sie das nicht als besonders glaubwürdig empfinden, das Ganze. Da müssen wir zurückkehren zu der Basis, die wir ursprünglich mal gedacht haben, dass wir sie hätten.

    Braun: Das heißt, Griechenland muss pleite gehen, Portugal muss pleite gehen, Umschuldung möglicherweise auch in anderen größeren Ländern wie Spanien und Italien?

    Mayer: Manche Länder werden es nicht schaffen können. Dazu gehört möglicherweise Griechenland. Andere Länder werden es schaffen müssen. Dazu gehört Italien, auch Spanien. Es ist ja nicht so, dass Italien eine kleine, periphere Wirtschaft wäre, die sich jetzt maßlos überschuldet hätte. Nein, im Gegenteil, die italienischen Haushalte sind sogar starke Sparer. Die italienische Industrie, wenn Sie den Norden Italiens nehmen, ist so wettbewerbsfähig beinahe wie die Schweizer oder die Österreicher oder bei uns in Süddeutschland.

    Und von daher gesehen ist das in Italien eine Frage der Staatsfinanzen. Und da hat der Staat viel zu lange über seine Verhältnisse gelebt. Da sind die Politiker ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Und das muss sich jetzt ändern. Die Politik muss sich in Italien konzentrieren auf die Rückführung der Defizite, die Rückführung der Staatsschuld und die Flexibilisierung der Wirtschaft. Dann kann Italien in der Währungsunion überleben ohne Schuldenschnitt. Und dann, wenn Italien in der Währungsunion überlebt, dann wird auch die Währungsunion wieder auf eine stabilere Basis kommen. Also, da muss sich jetzt Italien vor allem anstrengen.

    Braun: Die neue Währungsunion sozusagen, wenn Italien sich angestrengt haben wird, muss möglicherweise nicht die gleiche sein wie vor der Krise, also müssen Mitglieder ausscheiden?

    Mayer: Wir bekommen die EWU 2.0, wenn Sie so wollen. Ich würde das nicht daran festmachen, dass Mitglieder ausscheiden müssen. Es gibt ja in der deutschen Volkswirteszene eine Debatte darüber, ob das möglich wäre oder nicht. Vielleicht könnte ein kleines Land an der Peripherie ausscheiden. Das kann man nicht ausschließen.

    Aber damit die EWU 2.0 tatsächlich funktioniert, müssen wir, wie gesagt, zu diesen beiden Grundprinzipien zurück kommen: Die Zentralbank konzentriert sich auf Preisstabilität, Staaten haften für ihre finanziellen Entscheidungen. Aber wir werden wahrscheinlich in der Übergangszeit, bis wir wieder da sind, ein drittes Element brauchen, und das ist ein effektiver Krisenmanagement-Mechanismus. Da sind wir gerade dabei. Da sind die Politiker dabei, einen solchen zu konstruieren. Der muss aber so konstruiert sein, dass er tatsächlich hilft, die Krisen zu managen und nicht Anpassungen zu verschleppen.

    Braun: Wäre eine Erhöhung des Rettungsfonds – 440 Milliarden hat er jetzt, bei Italien mit 1,9 Billionen Schulden würde er sicherlich überfordert sein – wäre das ein erster Schritt für ein dauerhaftes Krisenmanagement oder wäre das gerade der falsche?

    Mayer: Ich glaube, solche Überlegungen wären Giftpillen für die EWU. Ob sie jetzt den Rettungsschirm auf mehrere Billionen erhöhen oder ob sie Euro-Bonds einführen, also gemeinschaftlich haftende Schuldtitel, all das würde ein ganz grunddemokratisches Prinzip verletzen, nämlich dass niemand zu Zahlungen herangezogen wird, über die er keinen demokratisch legitimierten Einfluss ausüben kann.

    Wenn also über Euro-Bonds oder die Anhebung der Verschuldungsgrenze des EFSF, wenn das dazu führt, dass letztlich deutsche, holländische, finnische Steuerzahler verantwortlich gemacht werden für Entscheidungen, die in anderen Parlamenten getroffen werden, dann wird es zum politischen Zusammenbruch der EWU führen. Das kann es nicht sein. Es kann auch nicht sein, dass die EZB ohne Ende Staatsanleihen aufkauft. Nein, ich denke, was wir hier tun könnten, wäre, diesem neuen Krisenmanagement-Mechanismus den Status einer Bank zu geben. Das heißt also, einer Bank, die im Notfall – und ich betone hier: im Notfall – auf die Zentralbank als Kreditgeber der letzten Instanz zurückgreifen kann. In allen normalen Fällen außer den extremsten sollte dieser Krisenmanagement-Mechanismus in der Zukunft mit dem Eigenkapital und seiner Verschuldungsfähigkeit am Markt auskommen können. Aber wenn es extrem wird, dann müsste er als eine Art europäischer Währungsfonds auch als letzte Instanz Zugriff auf die Zentralbank haben können.

    Das hat der IWF ja auch, denn der IWF holt sich ja seine Mittel nicht vom Kapitalmarkt, sondern von den Zentralbanken. Und das erlaubt es ihm, sich auch in schwierigen Kapitalmarktsituationen zu refinanzieren. Für die EZB hätte das den Vorteil, dass die Funktion als geldpolitische Instanz wieder ganz klar getrennt würde von der jetzt hineingemischten Funktion als fiskalpolitische Instanz.

    Wenn die EZB dann Kredite geben würde, die dann über diesen EWF einem Staat zugute kommen würde, dann würde die EZB diesen Kredit aber einer Euro-Institution geben und nicht einzelnen maroden Staaten. Das heißt, sie wäre auch dadurch abgesichert. Und diese Euroinstitution, dieser EWF, würde dann entscheiden, wie diese Kredite verwendet werden, um Marktverspannungen zum Beispiel zu lösen.

    Braun: Das aktuelle Krisenmanagement, dringt das zu den wahren Ursachen der Krise überhaupt durch?

    Mayer: Wir kommen schrittweise dahin, leider für den Geschmack der Märkte viel zu langsam. Der Lernprozess, den wir alle durchmachen, den die Politik durchmacht, braucht Zeit. Und die Märkte sind viel schneller als die Politik und treiben die Politik deshalb jetzt vor sich her. Es ist der Politik nicht gelungen, den gordischen Knoten zu durchschlagen und sich vor die Märkte zu setzen. Und insofern ist es nicht schön, aber wahrscheinlich auch unvermeidlich, diesen Lernprozess durchzumachen und dann hoffentlich, hoffentlich zur richtigen Schlussfolgerung zu kommen.

    Braun: Wie sähe denn ein Lösung aus, wenn man sozusagen die Volkswirtschaften sich selbst überließe, wenn also die Politik nicht intervenierte? Bedeutete das Arbeitslosigkeit, Zusammenbruch, Kaputtsparen, wäre das sozusagen Nachkriegssituation?

    Mayer: Es wäre Vorkriegssituation. Ich glaube, die Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren hat deutlich gezeigt was passiert, wenn man nichts tut. Wir hatten damals eine Situation im Goldstandard, die der jetzigen gar nicht so unähnlich war. Wir hatten im Verlauf der 20er-Jahre enorm steigende Börsen. Wir hatten internationale Zahlungsbilanzungleichgewichte. Deutschland hatte ein hohes Leistungsbilanzdefizit, das durch kurzfristige Kapitalzuflüsse finanziert wurde. USA und Frankreich hatten Leistungsbilanzüberschüsse, haben Goldreserven gehortet.

    Mit dem Aktienmarktkrach von 1929 brachen dann die kurzfristigen Kapitalflüsse ein. Man traute sich nicht mehr, Deutschland Geld zu geben. Deutschland kam in Zahlungsschwierigkeiten, das Bankensystem kippte um, niemand gab irgendjemand einen Kredit mehr, die Wirtschaft schmierte ab. Wir hatten dann drei Jahre bis 1933/34 eine Depression enormen Ausmaßes. In den USA stieg die Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent, das Bruttoinlandprodukt brach um 30 Prozent in dieser Zeit ein, das Preisniveau senkte sich um etwa ein Drittel in den USA und in Deutschland war alles noch viel schlimmer. Das kann es nicht sein.

    Braun: Ja, das kann es nicht sein. Aber wer hat denn jetzt derzeitig das Sagen in der aktuellen Situation? Gilt noch der Primat der Politik? Sie haben eben gesagt, die Finanzmärkte treiben die Politik vor sich her. Haben die Finanzmärkte wirklich das Recht, den Staaten zu sagen, ihr müsst bei den Sozialausgaben sparen, ihr müsst bei den Militärausgaben sparen? Ist der Primat der Politik noch gesichert in der aktuellen Situation?

    Mayer: Schauen Sie, wenn die Politik das richtige Vorausschauende tut, dann behält sie das Heft in der Hand. Dann werden ihr die Finanzmärkte folgen, wenn sie davon überzeugt sind, dass das, was die Politik tut, nachhaltig ist – kein Problem. Natürlich macht jeder lieber Gewinne als heftige Verluste, wie es jetzt der Fall ist.

    Wenn aber die Finanzmärkte zu der Überzeugung kommen, dass die Politik hinter der Entwicklung her hinkt, dann ist der Primat der Politik verloren, aber aus gutem Grund. Wenn die Politik die Ereignisse nicht mehr kontrollieren kann, weil sie hinterher hinkt, dann beginnen die Finanzmärkte, die Politik vor sich her zu treiben. Und leider sind wir in eine solche Situation gerutscht. Es kommt drauf an, um den Primat der Politik wieder zu etablieren, muss man eine überzeugende Politik verfolgen, die nachhaltig ist und von der die Leute auch die Überzeugung haben, dass sie letztlich die richtigen Lösungen bringt.

    Braun: Kann man sagen, die Macht des Geldes will den Primat der Politik?

    Mayer: Wir wollen den Primat der Politik. Wir wollen nicht in eine Situation kommen, in der wir die Handlungsunfähigkeit der Politik beklagen. Das ist fürchterlich kostspielig, wie wir das jetzt an den Märkten sehen. Andererseits muss sich die Politik auch diesen Primat verdienen. Sie kann nicht einfach erwarten, dass Märkte ihr blindlings folgen. Die Wähler folgen ja auch nicht blindlings. Die Politik muss sich diesen Primat verdienen.

    Braun: Volkswirte, denke ich, denken in Szenarien. Wie lautet Ihr negatives, wie lautet Ihr positives Szenario für den Ausgang dieser Krise?

    Mayer: Ja, mein Negativszenario oder meine Befürchtung ist, dass sich diese Aktienmarktturbulenzen, die wir jetzt sehen, in die Realwirtschaft hineinfressen, indem sie das Vertrauen der Investoren und der Konsumenten zerstören und dass dann die Realwirtschaft darunter leidet, dass wir in eine erneute Rezession hinein fallen. Deshalb wäre es so wichtig, dass Vertrauen wieder geschaffen wird. Und mein positives Szenario wäre: jetzt entschlossene Fiskalkonsolidierungspolitik in Europa, aber auch in Amerika und das Anpacken der notwendigen Strukturreformen.

    Und da denke ich insbesondere an die lange beklagte aber nicht erfolgte Flexibilisierung der Wirtschaft der Euroländer. Wir brauchen mehr Flexibilität. Wir in Deutschland haben das durch die Agenda 2010 zum Teil erreicht und sind den anderen voraus. Jetzt brauchen die ihre Agenda 2020, dass eben durch eine solche positive Politik Reaktion auf das Misstrauensvotum der Märkte die Wiedergewinnung des Vertrauens gelingt, dass sich dann, was wir jetzt hier gesehen haben an den Märkten, als Sommergewitter erweist und dass wir dann einen Herbst haben, wo sich die Märkte beruhigen und wir sagen können, das war eine Wachstumsdelle. Das wäre mein positives Szenario.

    Braun:Herr Mayer, vielen Dank für das Gespräch.

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    Mayer: "Märkte werden einfach auch durch Massenpsychologie bestimmt" (AP)