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Die Magie der Geschichten

Salman Rushdie steht mit seinem neuen Märchenroman in der Tradition der indischen Mythologie, der Mahabharata. Der zwölfjährige Luka muss losziehen, um seinen Vater, den genialen Geschichtenerzähler Raschid, zu retten. Eine fantastische Abenteuerreise beginnt.

Von Johannes Kaiser | 31.08.2011
    "Die erste Geschichte, die ich schrieb und an die ich mich erinnere, hieß wenig originell "Über den Regenbogen". Ich schrieb die wohl, kurz nachdem ich den Film "Der Zauberer von Oz" gesehen hatte. Die Geschichte handelt von einem Jungen, der den Anfang des Regenbogens entdeckt. Er geht auf dem Bürgersteig und plötzlich steigt vor ihm ein Regenbogen direkt in die Höhe. Der besteht praktischerweise aus Stufen. Er steigt also auf den Regenbogen und erlebt dabei Abenteuer."

    An Fantasie hat es Salman Rushdie nie gemangelt und er hat sich stets als Nachfolger jener indischen Erzähler gesehen, die über die Dörfer zogen und ihren Bewohnern Geschichten aus der indischen Mythologie, der Mahabharata, vortrugen. Deren Götterwelt bot für alle etwas: Mord, Verrat, Hass, Liebe, Neid, Gier und Geiz, Helden und Schurken. Die Götter dieses Epos sind in ihrem Verhalten sehr menschlich, wenn auch mit übermenschlichen Kräften ausgestattet.

    Salman Rushdie steht mit seinem neuen Roman "Luka und das Lebensfeuer" zweifelsohne in dieser Tradition. Er setzt dort an, wo er mit seinem Märchen "Harun und das Meer der Geschichten" aufgehört hat.

    Wieder einmal gerät der geniale Geschichtenerzähler Raschid in große Not. Wurde ihm damals der Geschichtenhahn abgedreht, sodass aus seiner Kehle nicht mehr als ein Krächzen entwich, so versinkt er jetzt in einen todesähnlichen Tiefschlaf. Wieder muss einer seiner Söhne, diesmal der zwölfjährige Luka, losziehen, um ihn zu retten. Dem Jungen zur Seite stehen ein Bär, der Hund heißt, und ein Hund, der auf den Namen Bär hört. Die beiden Tiere gehörten zum Zirkus des Zirkusdirektors Aag. Der war aber so gemein und grausam gegenüber seinen Tieren, dass Luka ihn verfluchte. Ergebnis: Der Zirkus geht in Flammen auf, alle Tiere fliehen. Hund und Bär flüchten sich zu Luka und schwören ihm Treue.

    Doch der Fluch hat böse Folgen. Vater Raschid wacht aus seinem Schlaf nicht mehr auf und was noch schlimmer ist: Er wird immer durchsichtiger. Das Leben scheint ihm zu entweichen. Dafür verantwortlich ist Nobodaddy, eine bleiche Gestalt aus dem Schattenreich. Es ist der Tod, der entschlossen ist, sich Raschid zu holen außer seinem Sohn gelingt es, das Lebensfeuer zu holen.

    "Zur Geistesgestörtheit des Schriftstellers gehört, dass er sich um alle Figuren kümmert, nicht nur um die netten. Wen interessieren schon die Netten. Jago ist eine viel interessantere Figur als Othello und Sie können sich sicher sein, dass es Shakespeare weit mehr Spaß machte, Jagos Figur zu beschreiben als Othellos. Das ist doch das Großartige an Literatur, egal wo sie spielt, in welchen Kultur und zu welcher Zeit, wenn sie es schafft, einen in ihre Welt hineinzuziehen, dann taucht man in sie ein, als wäre es die eigene Welt, als wären das ihre Freunde und ihre Familie. Genau diese Erfahrung möchte ich beim Lesen erwecken. Dem Leser soll das Schicksal dieser Menschen und die Entscheidungen, die sie treffen, wirklich etwas bedeuten."

    Eine Abenteuerreise beginnt, auf der der junge Luka immer schwierigere Aufgaben zu bewältigen hat, die übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten verlangen. Doch er hat das Glück, auf seinem gefährlichen Weg Freunde und Unterstützer zu finden, die ihm mit ihren Zauberkräften helfen. Dennoch braucht er allen Mut, um bis zum Ende durchzuhalten. Seine Vaterliebe gibt ihm die Kraft, das Unmögliche zu meistern. Und wie es sich für ein Märchen gehört, es endet glücklich. Allerdings muss dafür einer von Lukas treusten Helfern sterben.

    Salman Rushdie bedient sich aller Tricks und Schliche, die uns aus Märchen bekannt sind. Luka muss Rätsel lösen, um sein Leben zu retten, Zeitstrudeln entkommen, ohne die Erinnerung zu verlieren, Feuerringe durchqueren. Eine wunderschöne Prinzessin mit einem fliegenden Teppich, der ungeahnte Fähigkeiten besitzt, besiegt mit Lukas Hilfe eine fiese Rattendiktatur. Es gibt Drachen, Elefantenvögel, die sich an alles erinnern, Feuerkäfer. Der Schriftsteller hat sich so gut wie alle Fabelwesen aus sämtlichen Sagen und Mythen der Menschheit ausgeliehen, um Luka in Angst und Schrecken zu versetzen.

    "Entscheidend bei den griechischen, den römischen, auch den hinduistischen und nordischen Göttern, all diesen unterschiedlichen Götterwelten ist doch, dass sie Rollenmodelle sind. Sie sind habgierig, gewalttätig, rachsüchtig und kleinlich, bösartig und eitel und so weiter. Sie sind alles, was wir unseren Kindern nicht empfehlen würden, aber weil sie dies beides miteinander verknüpfen: unendliche Möglichkeiten und große Macht, schaffen sie letztendlich verblüffende Geschichten und manchmal sehr tragische."

    Natürlich kennt Salman Rushdies kindlicher Held all diese Geschichten und so rutscht ihm denn auch das Herz in die Hose, als sie ihn gefangen nehmen und umzubringen drohen. Doch dann nimmt er all seinen Mut zusammen und hält eine flammende Verteidigungsrede. Es ist eine grundsätzliche Abrechnung mit einer materialistischen und rationalistischen Welt, die für Wunder und Magie keinen Sinn mehr hat:

    "Soll ist euch verraten, wer ihr jetzt seid?... Nun, vorab will ich euch daran erinnern, wer ihr nicht mehr seid. Eigentlich seid ihr nämlich Götter von nichts und niemanden mehr und habt keine Gewalt mehr über Leben und Tod, über Erlösung und Verdammnis. Ihr könnt euch auch nicht länger in Stiere verwandeln und Erdenmädchen rauben, euch im Kriege einmischen oder eines der vielen Spielchen treiben, die ihr so gern gespielt hat... Also hört zu: Allein durch Geschichten könnt ihr zurück in die reale Welt gelangen und wieder an Macht gewinnen. Wird eure Geschichte gut erzählt, glauben die Menschen an euch; nicht wie früher, nicht, dass sie euch anbeten, aber so, wie die Menschen eben an Geschichten glauben - erfreut, beglückt und mit dem Wunsch, sie mögen niemals enden. Ihr wollt Unsterblichkeit? Die kann euch heutzutage nur mein Vater geben - oder Menschen wie er. Mein Vater kann seine Zuhörer vergessen lassen, dass sie euch ganz vergessen haben, kann dafür sorgen, dass sie euch wieder verehren und sich aufs Neue dafür interessieren, was ihr so treibt, und dass sie sich wünschen, ihr mögt auf ewig leben ... Ich bin Luka Khalifa, eure letzte Hoffnung."

    So helfen die Götter Rushdies Kinderhelden im ureigensten Interesse, das Lebensfeuer zu erobern und seinen Vater zu retten. Ein Märchen gewiss, aber doch mit einer, wenn auch eher versteckten Moral. In den Zeiten von Reality-Shows, blödelnder Comedians, klein gehackter Nachrichtenschnipsel, zappender ungeduldiger Zuschauer, twitternder Internet-Analphabeten beschwört er die Magie der Geschichten, preist die Erzähler, ohne die die Welt grau und traurig aussähe. Salman Rushdies Roman ist eine Beschwörung und zugleich Ehrenrettung der schriftstellerischen Fantasie.

    Salman Rushdie: "Luka und das Lebensfeuer"
    Übersetzung von Bernhard Robben
    Rowohlt Verlag 2010, Reinbeck bei Hamburg
    268 Seiten, 19,95 Euro