Freitag, 19. April 2024

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Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben. Beschreibungskunst und Bildästhetik der Dichter

Mancher erinnert sich vielleicht an eine mehr oder weniger geliebte Übung im Deutschunterricht: die Bildbeschreibung. Wer empfand damals nicht die Armut der Sprache, wenn es galt, all das in ein Nacheinander der Worte zu fassen, was die Augen als einen simultanen Eindruck meldeten. Man ahnte in dieser Schülernot, dass man zu etwas Unmöglichem verdammt war Wie sollte man Farbe, Kontur, Stimmung, Schönheit eines Bildes nacherzählen'?

Manfred Schneider | 31.01.2000
    Nichts aber wusste man damals davon, dass diese unmögliche Schulaufgabe eine uralte gymnasiale Schreibübung war, die auf das ansehnliche Alter von mehr als zweitausend Jahren zurückblickte. In der griechischen und römischen Antike hatte diese Aufgabe freilich ihren Sinn. Denn nur die Bildbeschreibung oder, wie der griechische gelehrte Begriff dafür lautet, die Ekphrasis, konnte eine Vorstellung von Kunstwerken geben, die sich nicht in unmittelbarer Nähe der Augen befanden, Die uns vertrauten Techniken der Speicher und Vervielfältigung wie Holzschnitt, Radierung, Druck, Photo waren der Antike unbekannt, und so gehörte die Beschreibung von Bildwerken zum Pensum der schulischen Vorbereitung auf den Umgang mit Kunst. Andererseits verdanken wir heute den überlieterten antiken Bildbeschreibungen wie etwa den umfangreichen "Eikones" des Philostratus aus der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert wichtige Auskünfte über verlorene Kunstwerke. Allerdings setzte auch bereits In der Antike der Streit darüber ein, ob es überhaupt möglich und rechtens ist, mit den Mitteln der Sprache die Augenlust an einem Bildkunstwerk mitzuteilen. Und wie manche Schulübungen so haben auch die Streitfragen der Antike unsere Neuzeit und Moderne erreicht.

    Die unbefangene Gleichsetzung von Malerei und Dichtung, die in der Horaz-Formel "ut pictura poesis" festgehalten ist, fand nicht allenthalben Zustimmung. Nur stellen sich diese ehrwürdigen Fragen heute ganz anders. Als Museumsbesucher, als Eigentümer schwergewichtiger Bildbande, als Nutznießer so vieler Reproduktionstechniken greifen wir leicht auf ein riesiges Bildergedächtnis zu. Wir benötigen heute weniger Beschreibungen als Erklärungen der modernen Kunstwerke, die ja nur noch selten "Bilder" oder Plastiken" heißen, sondern "body painting", "Objekt", "Installation" oder"Environment'. Tatsächlich ist die moderne Kunst mit ihrem Hang zum Exzentrischen und ihrem Zwang zu Überbietungen vor allem darauf aus, den staunenden Sinnen zu präsentieren, was - wie ein geläufiger Ausdruck besagt - aller Beschreibung spottet.

    Der Kunsthistoriker Stefan Greif hat eine Geschichte der Bildbeschreibung verfasst. Dabei gilt sein Interesse vornehmlich der Debatte über die Zulässigkeit oder über die Grenzen der Ekphrasis. Manche Künstler bestehen ja auf der wechselseitigen Unübersetzbarkeit von Sprache und Bild. Obwohl wir doch auch über Mittel der bildhaften Rede verfügen. Durch Metaphern, Metonymien, durch farbige Vergleiche lassen sich Gegenstände oder gar Ereignisse höchst lebendig vor Augen stellen. Andererseits vermögen auch Bilder zu sprechen, zu erzählen, zu überzeugen - Kommunikationsweisen, die sonst als Privileg der Rede gelten. Greif widmet seine Aufmerksamkeit dabei jenem Typ der Ekphrasis, die er die poetische nennt und die den knstlerischen Eigenwert und die Unübersetzbarkeit des Bildes mit ausdrückt - Literatur und Kunst benötigten ja einige tausend Jahre, um von dem Gedanken Abschied zu nehmen, dass ein Bild oder ein Text lediglich eine Aufzeichnung seien, eine Gedächtnishiffe für etwas, das als Geschichte, als mythische oder religiöse Erzählung oder als ein Stück Welt in Originalform existierte.

    Erst die Neuzeit konnte anerkennen, dass selbst ein Stillleben, das nur eine Schüssel mit Ftüchten darbietet, kein Stück aus der Welt schneidet, sondern das Ergebnis eines restlos subjektiven Malerblicks bildet. Aber dieser Abschied von der alten Aristotelischen Nachahmungslehre war erst rnöglich, als die Aufbewahrung und Tradition des gemeinsamen Wissens und der gemeinsamen Erfahrung in der Kultur des Abendlandes durch moderne Techniken der Speicherung gesichert waren. Jetzt durften Bilder ihre eigene Sprache entwickeln unabhängig von aller Erfahrung und mit einer schweigengebietenden Wirkung - So etwa schreibt um 1800 der Dichter Ludwig Tieck: "Wir können nicht aussprechen, wie uns jede Farbe bewegt und rührt, denn die Farben selber sprechen in zartester Mundart zu uns (... ). wir merken wohl, dass wir etwas vernehmen, doch können wir keinem andern, uns selber nicht Kunde davon bringen (...)."

    Dank neuer Verfahren der Datengewinnung und der Datenspeicherung konnten sich um 1800 also die Künste von der Welt und der vermeintlichen Wirklichkeit emanzipieren so wie die Kunstbeschreibung von den Bildern. Welche Probleme also sind übrig geblieben? Die Kunstbetrachtung hat nie aufgehört, auf Bildern das eigene Wissen wiederzuerkennen. Die Geschichte der Kunstbeschreibung erzählt Greif daher als allmähliche Befreiung der Bilder von der Gedächtnisfunktion. Die neuzeitliche Kunst will weder dem Gedächtnis dienen noch irgendeiner Mimesis der Welt, sondern möchte reinstes Original sein. Diesen Gedanken, den Gedanken der Moderne überhaupt, verfolgt Greif nicht ohne ein gewisses Pathos, als wäre dies das höchste Befreiungstelos der Kunst. Nach Ansicht des Verfassers verlangt es die Gerechtigkeit gegenüber einem Bild, dass die Ekphrasis den Betrachter durch Schweigen in das Schweigen des Bildes eintauchen lässt. Zwar versteht Greif seine Problemgeschichte als ein unaufhörliches Nachdenken über die gleiche Grundfrage, gleichsam gegen seinen Willen sichtbar, dass er seine Fragestellung der Moderne verdankt. Die großen Namen, die fallen, sind Winckelmann, Diderot, Lessing, Goethe, die Romantiker, Baudelaire, Rilke, Valery, Adorno und zuletzt Sartre. Diese Namen zeigen an, dass die Kunstästhetik immer schon Sache der Schriftsteller und Philosophen gewesen ist, und dass es eigentlich erst im 19. Jahrhundert prominente Kunsttheoretiker - man denke an Delacroix oder Cezanne - gegeben hat. Im 20. Jahrhundert sind alle prominenten Künstier zugleich Kunsttheoretiker - von Kandinsky, Klee oder Mondrian bis Beuys, Warhol oder Damett Newman. Der moderne Bildersturm ist kopflastig. Und so bleibt es eine von Greif nur am Rande erwähnte Paradoxie, dass die moderne Kunst um so mehr nach Kommentaren verlangte je weiter sie sich von der Abbildlichkeit entfernt.

    Stefan Greifs Problemgeschichte der Ekphrasis ist ein überaus gelehrtes Werk, das aber den Ungelehrten das Vergnügen reicher Belehrung bietet. Es präsentiert sein reiches Material in einer nie nachlassenden Spannung. Nicht selten aber auch wird das Buch schwer lesbar, weil es sich gerne in kleine Scharmützel mit postmodemer Theorie einläßt, wo der Verfasser jedoch nicht immer ganz sattelfest ist. Seine gegen aktuelle Tendenzen in der Ästhetischen Theorie gerichtete Aufwertung der romantischen Hermeneutik, vor allem Friedrich Schleiermachers, muss sich ja vor keinem Einwand fürchten, er benötigt nicht den Lorbeer solch papierner Siege über vermeintlich feindliche Theoretiker wie Roland Barthes oder Jacques Derrida. Altmodisch an diesem interessanten Buch über ein hochinteressantes Thema ist nicht die Besinnung auf kluge Denker des 19. Jahrhunderts wie Goethe oder Schleiermacher, sondern eine spürbar einzelgängerische und in sich versponnene Haltung. Seine begreifliche Frontstellung gegen ein Kunstrezeption, die das einzelne Werk nur als kulturelles Gedächtnis ausschlachtet, umspielt unser Verfasser in einer Unzahl von selbstgebildeten Begriffen, die bisweilen sogar komisch wirken. So stößt man auf Wendungen wie "mnemopsychologisch", auf "Memoriakreise" oder "Mnemojünger"; sogar der Gegenbegriff "amnemotisch" wird gebildet- Diese schwerfällige Terminologie, dieser Begriffslehm, gibt dem Leser auch zu erkennen, warum der Verfasser dem Traum einer schriftlosen, gedächtnislosen, stummen Kunst nachhängt. Es ist das Verlangen nach einem unmittelbaren, nämlich unbegrifflichen Kunstbezug. Das Buch schließt mit der pointierten moralisierenden Formel: "Solange wir immer noch erinnern, brauchen uns die Bilder nicht." Der Leser, der aber bis zu diesem letzten Satz vordringen will, braucht Geduld und Neugierde. Belohnt wird er mit der Erkenntnis, warum die Bildbeschreibung die Oberstufenreform von mehr als zwei Jahrtausenden überlebt hat.