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Die Mandelbaumgasse

Die Generation der jungen Schriftsteller in Israel sucht nach Vaterfiguren. "Der Zionismus ist für uns ein Beagle", sagt Etgar Keret, "in der Mitte hat er ein Loch." Andere wenden sich den Orthodoxen zu, wie die junge Autorin Mira Magen und wieder andere suchen nach ihren Wurzeln. "Mit gutem Grund", so Keret, denn wenn sich Sami Michael nach der facettenreichen Welt des jüdischen Bagdad sehnt, dann sehnt sich Etgar Keret, dessen Bagdad in Polen läge, nach der Sehnsucht. Seit ihrem matriarchalen Roots-Roman "Die Mandelbaumgasse" gilt die damals 23jährige Dorit Rabinyan in Israel als shooting star. "Ich bin 1972 in Kfar Saba geboren worden, in einem kleinen Ort bei Tel Aviv", so Dorit Rabinyan. Sie ließ sich von ihren Großmüttern, Tanten und den weiblichen Verwandten von der Familienvergangenheit erzählen und beschrieb das jüdische Leben im Iran: "Meine Eltern stammen beide aus Isfahan, aufgewachsen aber sind sie in Teheran. Getroffen haben sie sich dann in Kfar Saba. Später hat mein Vater einen Textilbetrieb geführt, meine Mutter hat uns Kinder aufgezogen. Ausgewandert war die Familie wegen meiner Mutter; mit zwölf Jahren kam sie nach Hause und hat ihrer Familie mitgeteilt, daß sie nach Israel gehen würde. Bis dahin hatte sie einer persisch-zionistischen Jugendbewegung angehört. Letzten Endes ist ihr die Familie dann nach Israel gefolgt."

Jochanan Shelliem |
    Mit einem ungebrochenen Selbstbewußtsein, wie es nur einer traditionellen Gesellschaft entspringen kann, doch mit dem sensiblen Blick der Enkelin, die sich nach der zauberhaften Welt ihrer Großmutter sehnt, entwirft Dorit Rabinyan ein Bild vom Leben in der Mandelbaumgasse von Omeridschan, aus der ihre Großmutter stammt. Genüßlich spielt der Roman mit den arabesken Erzählformen des Orients. Einen Tewje sucht man in dieser Welt ebenso vergeblich wie Kosaken, Klezmer und ein Pogrom, hier beherrschen die unterschiedlichsten archaischen Mythen das Leben der Frauen. Zwei Tage im Leben der elf- und fünfzehnjährigen Cousinen Nasi und Flora führen uns durch den Roman. Zwei schicksalhafte Tage. Ihre Mutter hatte sie gewarnt, sich nicht während einer Mondfinsternis schwängern zu lassen. Nun ist die Hochzeitsnacht vorbei, Schahin, der schielende Tuchhändler, ist verschwunden und Flora sehnt sich nach ihrem fahrenden Ehemann. Die Nachbarinnen aber wissen Rat. Ein Auszug aus dem Roman "Die Mandelbaumgasse" von Dorit Rabinyan:

    "Ich werde mir die Augen ausstechen, mein Geliebter, azizam ... die Augen werde ich mir ausstechen, und ihr Licht wird in deinem Herzen leuchten ... ", stimmte Flora das Lied an, das sie von ihren Tanten und den alten Tanten väterlicherseits gelernt hatte, die in Scharen aus den umliegenden Dörfern herbeigeeilt waren, um ihr mit Rat beizustehen, wie sie ihren kleinen, unredlichen Mann wieder nach Hause locken könnte. Mit greisen Händen, auf denen braune Flecken blühten wie die Maserung von Katzenfell, mischten die Tanten wie Zauberinnen die Karten, stülpten Kaffeetassen um und prüften mit entrückter Miene die Windungen von Floras Schicksal. Sie wiesen Flora an, ihren Morgenurin, der der zähfließendste und schärfste war und die Farbe von Tee hatte, auf ein frisches Hühnerei abzuschlagen und das beseichte Ei unter einem blühenden Baum aufzubrechen. Am Abend war Flora gehalten, in der Kohleschaufel platzende Spinatknospen anzuzünden, sich die Eingeweide mit dem aufsteigenden Rauch zu füllen und mit reinem Herzen den Mond zu beschwören, er möge seinen Fluch von ihr nehmen."

    "In Isfahan pflegten die Frauen bei der Geburt vor der Tür zu warten", erzählt Dorit Rabinyan. "Wenn es dann hieß, das es ein Mädchen geworden war, dann stießen sie einen ganz durchdringenden Schrei aus, um ihre Trauer auszudrücken. So geschah es bei der Geburt meiner Mutter, und dieser Klagelaut erklang gleichfalls als meine Großmutter geboren wurde." Es ist die Geschichte der Großmutter, die der elfjährigen Nasie da Patin stand. Auch Nasie, die als Waise im Hause von Floras Familie aufwächst, fehlt der Bräutigam, nicht der Geliebte, doch der Bräutigam, sie kann es kaum erwarten, den ihr versprochenen Cousin Mussa zu heiraten. Erst nach der ersten Regel aber, so lautet das Gesetz, und so macht sich die knabenhafte Nasie auf den Weg, um den Mullah von der Dringlichkeit ihres Anliegens zu überzeugen. Die gespaltenen Ohrläppchen der Großmutter berichten von dem Treffen. Dorit Rabinyan schreibt diesen Roman ausschließlich aus der Sicht der Frauen, so wie sie sich von der Vergangenheit ihrer Famlie ausschließlich durch die weiblichen Verwandten hatte berichten lassen, was sie dann später aufschrieb: "Nazi und Flora, die Heldinnen meines Romans wohnen in dem Haus von Miriam Chanum, derjenigen Frau, die es als erste des Dorfes ganz deutlich zu sagen wagte, daß die Frauen auch eigene Interessen haben können und nicht allein versteckt der Versorgung der Familie und der Aufzucht ihrer Nachwuchses dienen. Gleichzeitig aber wird sie von ihren Nachbarinnen kontrolliert. Diese Frauen sind die Hüterinnen des patriarchalen Systems von Omeridschan. Und es hat mich sehr erstaunt herauszufinden, daß es letztlich die Frauen sind, die im täglichen Leben die Werte des Patriarchat bewahren. Diese selbstbewußen, starken weiblichen Persönlichkeiten haben im Zentrum der patriarchalen Gesellschaft einen Tisch der lnquisition errichtet, die Hüter ihrer eigenen Unterdrückung sind Frauen."

    Wer nun eine ideologisch überfrachtete gender novel erwartet, der irrt. "Ich habe kein jüdisches Buch geschrieben, sondern einen schiitischen Frauenroman." Den Mut aber, all dies aufzuschreiben schöpfte Dorit Rabinyan aus den Erfahrungen des irakisch-jüdischen Schriftstellers Sami Michael und dem gereiften Interesse einer zunehmend selbstbewußten israelischen Nation, die sich den Blick zu ihren Wurzeln zu gestatten beginnt.

    "Also ich denke, daß es einfach an der Zeit gewesen ist, darüber zu schreiben, nach den Romanen von Sami Michael und deren Erfolg hat jeder gehofft, daß so etwas geschrieben wird. Zuvor war es im Prinzip so gewesen, daß die Einwanderer aus anderen Ländern, besonders die sefardischen Juden, die nach Israel kamen, quasi von Null anfangen und alles hinter sich lassen würden, was die Tradition ihrer Heimatländer betraf: ein glattes Stück Land, das neu bepflügt werden würde, sollten sie sein, ein leeres Blatt Papier, das neu beschrieben werden würde. Ich schrieb meinen Roman, weil ich da ein anderes Gefühl, eine andere Position hatte, wir hatten eben nicht bei Null angefangen, als meine Eltern nach Israel gekommen sind, wir waren nicht auf der Flucht, meine Eltern sind nach Israel gekommen, weil sie Zionisten waren, bei uns hat das Leben eben nicht erst angefangen, als wir eingewandert sind." Mit ihrem fabelreichen Roman "Die Mandelbaumgasse" führt Dorit Rabinyan die Tradition von Sami Michael fort. Israel als Vielvölkerstaat, nicht in "Utopia", wohin einst Herzl wollte, sondern im Orient schreibt sich seine Geschichte heute neu.