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Die Marathonläufer der Misere

Boulevard Saint Martin, zwischen Place de la République und der Kreuzung Strasbourg Saint Denis. Man kann ihn leicht übersehen, den Eingang der ehemaligen Metrostation. Ein paar arabisch oder asiatisch aussehende junge Männer beeilen sich, in den Untergrund zu kommen, gleich nachdem um neun das Gitter aufgezogen wird. Über der Tür hängt diskret das Zeichen der Heilsarmee.

Von Günter Liehr |
    Drinnen: eine etwas muffige Wärme. Wo früher mal die Fahrkartenschalter waren, stehen zwei Frauen hinterm Empfangstresen und bereiten sich auf den täglichen Ansturm vor. Wer in diesem Obdachlosen-Tagesasyl ein ruppiges Klima erwartet hat, ist überrascht vom ausnehmend freundlichen Umgangston.

    "Unsere Aufgabe ist es zunächst, Menschen ohne Wohnsitz aufzunehmen, die hierher zu uns kommen. Wir stellen dazu keinerlei Bedingung, das heißt: man muss keine Aufenthaltsgenehmigung oder einen Personalausweis vorzeigen, um hierher zu kommen, einen Kaffee zu trinken und einen Sozialarbeiter zu treffen!"

    Françoise Imperi. Sie ist die Leiterin dieser umgemünzten Metrostation. Die energische, dunkelhaarige Frau ist um die Ausstrahlung guter Laune bemüht. Freundlichkeit, sagt sie, sei unabdingbar. Nur so könne man das Vertrauen der Leute gewinnen, sie dazu bringen, sich irgendwann vielleicht helfen lassen. Selbst die alten Clochards aus der Metro, die zwei, drei Mal pro Woche von einer Spezialbrigade der Verkehrsgesellschaft RATP gebracht werden. Die müsse man freilich ein wenig abseits von den anderen umsorgen…Sie seien ja meist in einer sehr schlechten Verfassung und röchen ziemlich übel. Madame Imperi schlägt nun einen kleinen Rundgang durch die unterirdische Anlage vor, deren weiß gekachelten Röhrengänge an die frühere Funktion erinnern.

    " Das ist Radidja am Empfang, bonjour, und hier ist Laurent, unser Sozialarbeiter!"

    Laurent, ein hoch gewachsener junger Mann in blauem Overall, mit langer Wuschelmähne. Auch er strahlt Gelassenheit aus. Als wäre es das Normalste von der Welt, hier unten zu arbeiten.
    Ein grauhaariger gedrungener älterer Herr bahnt sich einen Weg durch die Menge, kommt strahlend auf Madame Imperi zu.

    Doktor Christian Commencais, der Arzt. Früher war er für die Hilfsorganisation "Médecins du monde" im Irak, in Bosnien und sonstwo. Jetzt, im Ruhestand, kommt er zwei Mal die Woche zu Sprechstunden her, ehrenamtlich… Kommen Sie, sehen Sie sich mein Reich an, sagt er und macht eine unscheinbare Tür auf, hinter der früher vielleicht mal Arbeitsgerät der RATP aufbewahrt wurde.

    "Bisschen eng, aber besser als nichts! So setzen Sie sich doch, irgendwo muss noch ein Hocker sein…"

    Eine schlichte Kammer, dieses Behandlungszimmer. Eine Liege. Ein kleiner wackliger Tisch, ein Stuhl, ein Hocker, ein Wandschrank mit einigen Medikamenten, Tinkturen und Mullbinden…
    Womit hat er hier hauptsächlich zu tun, der Doktor? Hautkrankheiten, Schmerzbehandlung, Probleme mit den Füssen!

    "Obdachlos-Sein ist ein schwieriges Metier! Man muss akzeptieren, jeden Tag rund 35 Kilometer zu laufen. Jawohl! Man ist dauernd unterwegs! Wo geht man hin, wenn man pinkeln muss? Wenn man ein Glas Wasser haben möchte? Die Pariser Cafébesitzer geben das nicht gratis her!. Und wenn man sich rasieren oder sein Hemd wechseln will, was macht man da? Man muss permanent irgendwohin laufen. Und reden wir gar nicht erst von administrativen Formalitäten, die kilometerweite Wege erfordern. Fazit also: Obdachloser, das ist ein Beruf des Zu-Fuß-Gehens. Ich habe sie mal ‚die Marathonläufer der Misere’ genannt. Hübsche Formulierung! Schenk’ ich Ihnen!"

    Natürlich seien die Behandlungen gratis. Schwierigkeiten gebe es bei den Medikamenten, aber da nützten ihm bisweilen seine alten Beziehungen. Zeit nun für Doktor Commencais, mit den Konsultationen zu beginnen. Inzwischen erklärt Laurent, der Sozialarbeiter, was in den alten Metrogängen noch angeboten wird, neben der medizinischen Versorgung.

    "Wir haben hier eine Wäscherei, wir haben Duschen, wir können mit Kleidung aushelfen. Was wir außerdem tun: Wir versuchen, für sie einen Platz für die Nacht zu finden, wir helfen ihnen mit den Papieren, in den oft sehr komplizierten Situationen, in denen sie sich befinden."

    Besonders schwierig ist die Lage für viele der jungen Ausländer, die sich tagsüber hier aufhalten. Die meisten haben weder Papiere noch Geld, ihre Habe beschränkt sich auf Jeans, Turnschuhe, Anorak und Reisetasche. Oft sind sie auf beschwerlichen Wegen und mit großen Erwartungen hergekommen. Einige sitzen lethargisch da, spielen versunken Schach, andere stehen in Gruppen herum und palavern. Als sie das Mikrophon sehen, kommen sie näher. Jeder will nun etwas sagen, klammert sich an die Hoffnung, man könnte etwas für ihn tun.

    Mohammad drängt sich vor, wedelt mit amtlichen Schreiben, die ihm den Aufenthalt in Frankreich verwehren wollen. Er kommt aus dem Iran, und ist außer sich.

    "Hören Sie, Monsieur! Bevor ich nach Frankreich kam, sagte man, du musst politisches Asyl beantragen, dann kriegst du Papiere, dann Arbeit, dann eine Wohnung. Aber die Asylbehörde: negativ! Zwei Jahre bin ich schon in Frankreich. Ich wollte hier ein neues Leben anfangen. Warum kann ich nicht arbeiten? Ich bin Heizungsmonteur! Keine Papiere, keine Arbeit. Und immer muss ich laufen, laufen, laufen. Heute Abend gibt’s ein bisschen Suppe, dann kommt das Nachtasyl. Das sind dort alles Alkoholiker! Alle besoffen! Zwei Jahre bin ich jetzt schon hier. Was soll aus mir werden?"