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Die Masse, der Aufstand und die Kultur

Fischer: Kaum eine Revolution nach der russischen hatte noch eine Farbe. Jetzt, in der Ukraine gibt es sie wieder. Alle sprechen von der "orangenen Revolution" denn die Hunderttausenden, die den Kandidaten der Opposition Viktor Juschtschenko auf seinem Weg zu Neuwahlen auf den Straßen Kiews und anderswo unterstützen tragen orangefarbene Schals. Diese Farbe symbolisiert in Kiew aber nicht nur den Wunsch nach Demokratie, sondern sie ist auch ein Zeichen der Auflehnung gegen Moskau und gegen eine russische Arroganz, die den Ukrainern bis vor Kurzem nicht nur politische Selbstbestimmung, sondern auch jede eigene kulturelle Leistung absprach. Meine Kollegin Natascha Freundel ist derzeit in Kiew, um solchen Emanzipationsbewegungen etwas nachzuspüren. Frau Freundel, in den Zeitungen hier melden sich ja viele Schriftsteller und Intellektuelle zu Wort. Ist deren Meinung in der Ukraine selbst denn auch so gefragt? Welche Rolle spielen die Intellektuellen in diesem Prozess gerade?

Natascha Freundel im Gespräch |
    Freundel: Man muss sagen, dass die Intellektuellen von der Entwicklung mehr oder weniger überrascht wurden. Es gibt natürlich Verbindungen der akademischen Welt zum Oppositionslager, es gibt Studenten, die überhaupt die Aktivitäten auf der Straße ins Leben gerufen haben. Aber man muss sagen, dass Schriftsteller wie zum Beispiel Juri Andrukowitsch oder der Theatermacher Andri Schardak eher staunen und sprachlos sind über das Potenzial der ukrainischen Zivilgesellschaft. Und in diese Situation lehnen sich manche Intellektuelle, wie zum Beispiel der Herausgeber der Zeitschrift "Kritika" zurück und er sagt: "Wir müssen erst darüber nachdenken, inwiefern der Begriff "Revolution" hier überhaupt richtig ist. Er sagt, dass wir noch zu nah dran sind, um das einschätzen zu können, man weiß noch gar nicht, was sich denn eigentlich verändert durch diese Revolution, vollzieht sich hier wirklich ein Systemwechsel? Man betrachtet das eher von der Seite und überlässt diese Fragen künftigen akademischen Untersuchungen, die er aber sehr wohl erwartet und die sich insbesondere auf die Rolle der ukrainischen Sprache beziehen.

    Fischer: Die tagesaktuellen Medien spiegeln ja sehr deutlich einen Prozess der Öffnung. Wie man hört haben viele Journalisten, die bisher geforderte moskautreue Haltung einfach aufgegeben. Betrifft diese Umwälzung, wie Sie es gerade angedeutet haben, auch die ukrainische Sprache selbst?

    Freundel: Absolut und das ist interessant. Man hört heute in Kiew sehr viel Ukrainisch, viel mehr als gewöhnlich. Kiew ist ursprünglich eine russischsprachige Stadt und die derzeitige Dominanz des Ukrainischen hat nicht nur damit zu tun, dass die Stadt voll ist mit Leuten aus allen Ecken des Landes und natürlich auch viele Leute aus Galizien, die ja ohnehin als die eigentlichen Sieger dieser Revolution betrachtet werden. Aber die Dominanz des Ukrainischen ist auch darauf zurück zu führen, dass das Ukrainische jetzt auch in der Durchschnittsbevölkerung ein bisschen wie die Farbe Orange zu einem Symbol dieser Bewegung geworden ist. Es ist plötzlich schick, es ist in draußen auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz singt gerade Ruslan und sie singt natürlich in Ukrainisch, der ukrainische Pop dominiert plötzlich gegenüber dem russischen, der sonst allerorts immer noch die Grenzen des alten Sowjetreiches markierte. Insofern signalisiert auch das Ukrainische jetzt ein verändertes Nationalbewusstsein, man ist Ukrainer und spricht natürlich ukrainisch, beziehungsweise ukrainisch-russisch, es gibt da viele Schattierungen.

    Fischer: Man hat ja hier immer wieder von einem geteilten Land gehört, der moskautreue Osten, der dem Westen zugewandte Westen der Ukraine. Manchmal wurde diese Aufteilung auch bestritten, aber kann da eigentlich so eine Art von Sprachenpolitik wirksam werden, um diese Diskrepanzen ein bisschen zu glätten?

    Freundel: Da muss zunächst eine Sprachenpolitik wirksam werden. Ich habe mit einem Ethnologen und Politologen der Nationalen Akademie der Wissenschaften gesprochen, der meinte, das ist ein Thema, das jetzt unbedingt nach der sehr offenen, liberalen Stimmung auf den Straßen nach der Revolutionseuphorie geklärt werden muss, auf welche Sprache wollen wir uns in der Ukraine einigen. Ihm schwebt ein kanadisches Modell vor, also die Anerkennung von beiden Sprachen, wahrscheinlich Ukrainisch als erste Landessprache und Russisch als zweite Landessprache. Aber er meint, es muss unbedingt gesetzlich festgeschrieben werden, dass die russischsprachigen Ostukrainer sich auch in der Westukrainer in ihrer Sprache, die sie täglich verwenden verständigen dürfen und ebenso muss das umgekehrt gelten. Es geht ganz klar darum, nach der Euphorie auf der Straße, nach der liberalen Stimmung, in der alles möglich ist, dafür Gesetze zu finden und das ganz konkret auch in einer Sprachenpolitik anzupacken.

    Fischer: Natascha Freundel war das, vielen Dank nach Kiew zu den Entwicklungen hinter dem ukrainischen Demokratieprozess.