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Die Mauern von Derry

Das nordirische Derry hat Touristen viel zu bieten: eine einzigartige Kathedrale, ein ehemaliges Tor zur Neuen Welt, viel Geschichte und Kultur und vor allem eine Stadtmauer, von der aus man all das erkunden kann. Das war nicht immer so, denn Derry war auch der Schauplatz des Bloody Sunday, und die Wachtürme der britischen Polizei überblickten noch lange von der Mauer aus die katholische Bogside. Heute jedoch finden hier interessante Touristenführungen statt.

Von Martin Kaluza | 16.03.2008
    John McNulty redet schnell. Innerhalb einer Stunde möchte der Fremdenführer die Stadtmauer umrundet haben. Es gibt viel zu erzählen. Manchmal bleibt er gar nicht erst stehen. Er läuft dann rückwärts vor den Besuchern her und spult seine Erklärungen ab. Dabei pfeifen ihm Wind und Nieselregen um die Ohren. Wenn Touristen nach Derry kommen, dann nicht wegen des Wetters.

    Die Stadtmauer aus dem 17. Jahrhundert ist der Dreh- und Angelpunkt der Tour. Von hier aus lässt sich in jeder Himmelsrichtung ein Stück der Stadt erklären: der Hafen, die katholische Bogside, die protestantische Waterside und das älteste noch genutzte Gebäude Irlands: die Kathedrale Sankt Columba. Drei Meter ist die Mauer mächtig, anderthalb Kilometer lang und rundum begehbar. Ein Bauwerk wie dieses gibt es in Irland und Großbritannien kein zweites Mal. Die Stadt könnte berühmt sein für ihre Mauer. Doch bekannt ist Derry vor allem wegen des Bloody Sunday. Der Tag war ein Wendepunkt in der Geschichte Nordirlands.

    Am 30. Januar 1972 erschossen britische Soldaten 14 Demonstranten irischer Abstammung, die für Bürgerrechte, bessere Wohnungen und gegen Diskriminierung protestierten. Fast dreißig Jahre dauerte der Konflikt, der sich danach in Nordirland ausbreitete, ein Bürgerkrieg zwischen Unionisten und Nationalisten, zwischen probritischen und proirischen bewaffneten Gruppen. Das meiste Blut vergoss die IRA, die Irisch-Republikanische Armee. Ihre Bomben gingen nicht nur in Derry und Belfast hoch, sondern auch in Birmingham und Manchester.

    Aoibheann Mullan hat diese Zeit in Derry erlebt. Sie ist Irin, stammt aus Dublin und kam vor 35 Jahren nach Derry. Aoibheann spricht fließend Italienisch und Deutsch und unternimmt seit 1999 Stadtführungen. Dabei war Derry - wie Nordirland allgemein - lange kein Pflaster für Touristen.

    "Wenn man in der Republik zum Beispiel einen Mietwagen fuhr, konnte man diesen Mietwagen nicht nach Nordirland fahren, weil hier sehr viele Autos einfach geraubt wurden, in Barrikaden in Flammen gesetzt oder benutzt für Waffentransporte. In Kriegszonen konnten viele Reisegesellschaften nicht gehen. Und außerdem: Die Touristen, die in der Republik ihren idealisierten Urlaub dank dem Einfluss von Bölls Irischem Tagebuch - diesen schönen Urlaub in einer schönen Landschaft verbringen konnten und gewohnt waren, jedes Jahr nach Irland zu kommen, für die war Nordirland ein anderes Gebiet."

    Doch seit ein paar Jahren kommen die Besucher. Und sie interessieren sich nicht nur für die schroffe Küstenlandschaft, sondern wollen etwas über den Nordirlandkonflikt erfahren. Für die Reiseführer in Derry ist das eine Herausforderung. Wie sieht die Stadt sich heute selbst? Kann man ihre Geschichte erklären, ohne für eine Seite Partei zu ergreifen?

    Derry lag immer mittendrin im Konflikt. Er ist so alt wie die Stadtmauer. Im Jahr 1608 war Derry als englische Handelsgarnison gegründet worden. Damals bauten Londoner Geschäftsleute die Mauer, um ihre Investition zu schützen. An dieser Stelle gab es schon seit über tausend Jahren eine Klostersiedlung mit dem Namen Derry. Die Engländer machten daraus "Londonderry". Englische und schottische Siedler - in der Regel Protestanten - verdrängten die irischen Bewohner - vor allem Katholiken. Unterdessen wurde die Stadt am Foyle River zum wichtigsten Hafen für Auswanderer und den Handel mit der Neuen Welt.

    Am Namen der Stadt scheiden sich bis heute die Geister. Auf den Hinweisschildern entlang der Landstraße aus Belfast steht die offizielle Version: "Londonderry". Auf den meisten Schildern haben Sprayer das "London" durchgestrichen. Wer sich aus Südirland nähert, liest auf den Schildern "Derry" und "Doire", den alten gälischen Namen. Die Stadtverwaltung hat vor ein paar Jahren eine Rückkehr zum Namen "Derry" beschlossen, doch die Queen hat den Beschluss nie bestätigt. Ein Souvenirladen in der Innenstadt hat die Frage ganz pragmatisch gelöst: Er verkauft Postkarten in zwei Versionen: Mit dem Aufdruck "Londonderry" und mit "Derry". Das Motiv ist dasselbe.

    Wer heute nach Derry reist, erkennt kaum noch, dass hier einmal bewaffnete Konflikte ausgetragen wurden. Mit dem Karfreitagsabkommen begann vor zehn Jahren ein Friedenprozess, der das Leben in der Stadt verändert hat. Die IRA hat sich zum Waffenstillstand verpflichtet. Die Wachtürme der britischen Polizei, die noch vor einem Jahr von der Stadtmauer aus die Bogside überblickten, sind abmontiert. Die neu formierte nordirische Polizei ist nicht mehr schwer bewaffnet. Sie bemüht sich um ein Freund-und-Helfer-Image. Aoibheann Mullan berichtet ihren Besuchergruppen davon.

    "Dass diese Wachposten verschwunden sind, macht viel aus. Wir sind es immer noch nicht gewohnt, diese Leere zu sehen, denn wir haben dreißig Jahre lang Wachtürme und Stacheldraht und diese Präsenz bemerkt. Es war sehr beklemmend, denn wir erinnerten uns noch an Hubschrauber, die über den Häuserdächern kreisen, und gepanzerte Wagen in den Straßen. Dass die Soldaten verschwanden, war sehr schön eigentlich. Denn man hatte immer Angst, dass sie angeschossen werden konnten, wenn man in ihrer Nähe war. Oder hinter einem Militärfahrzeug fahren mit Kindern im Auto, das war sehr beängstigend."

    Einige Überbleibsel erinnern jedoch noch an die Zeit. Wandmalereien, die für die eine oder andere Seite Partei ergreifen; die Peaceline, ein Zaun, der die protestantische Enklave "The Fountain" von der katholischen Umgebung abtrennt; die angemalten Bordsteine - je nach Stadtteil in den Farben der Republik Irland oder in denen Großbritanniens.

    Michael Cooper unternimmt Führungen durch die Bogside, den katholischen Teil der Stadt. Er zeigt die Orte, an denen sich 1972 der Bloody Sunday ereignet hat. Die meisten anderen Touristenführungen in der Stadt sind ihm zu unpolitisch. Auf seinen eigenen bezieht er deutlich Stellung.

    "Jedes Mal, wenn die britische Regierung für ihr Vorgehen hier kritisiert wurde, hat sie gesagt: ’Wir können nichts tun, wir stehen zwischen zwei Fronten, die sich wegen eines theologischen Disputs aus dem 18. oder 19. Jahrhundert bekämpfen.’ Doch damit hat das gar nichts zu tun. Im Grunde bekämpften sich hier zwei Seiten wegen ihrer Identität. Die Protestanten werden als die Siedler gesehen, die Katholiken als die ursprünglichen irischen Bewohner. Es ist eine Folge der Siedlungspolitik. Religion hat damit nichts zu tun. Sie gibt der britischen Regierung nur die Möglichkeit zu sagen: ’Es ist nicht unsere Schuld.’ Wir sehen das genau andersherum: Sie haben die Siedler hergeschickt, diese Gegend wurde zur Kolonie für die britische Regierung, und sie haben den Kolonisten geholfen, für die nächsten 400 Jahre die Kontrolle über die irischen Bewohner zu behalten, und das war die Saat für den modernen Konflikt. Wir erwähnen das immer zu Beginn, denn es ist eine ganz andere Interpretation als das, was Sie auf vielen glatt gebügelten Touren zu hören bekommen."

    Coopers Tour endet am Free-Derry-Museum. Das Museum zeichnet die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung in Derry nach und hat den Bloody Sunday dokumentiert. Ausgewogenheit gehört nicht zu seinen Zielen. Die Opfer der IRA werden in dem Museum nicht erwähnt. Dennoch ist ein Besuch interessant. Hier wird zwar nur eine Seite der Geschichte erzählt, doch es ist eine Seite, die in Großbritannien jahrzehntelang kaum gezeigt wurde.

    Die Wunden sind noch lange nicht verheilt in Derry. Wer die Stadt heute besucht, kann jedoch beobachten, wie eine Gesellschaft die alten Konflikte überwindet, ohne sie einfach zu verdrängen. Die Reiseführer der Stadt öffnen den Besuchern auf ganz unterschiedliche Weise den Blick - mit historischen Geschichten, mit persönlichen und mit politischen. Dass sie den Besuchern ihre Stadt von der Mauer aus erklären können, ist nicht selbstverständlich. Der Fußweg auf der Stadtmauer war bis vor wenigen Jahren gesperrt - aus Angst vor Heckenschützen.