Krass. Herr Stadler, als Schriftsteller und Theologe haben Sie sich mit dem Textkorpus der Psalmen beschäftigt. Der Theologe in Ihnen hat ja ohnehin eine Affinität zu diesem Stoff. Aber auch als Schriftsteller sind Ihnen die Psalmen vertraut, denn es ist ja ein poetisches Werk. Diesen Text aus dem Hebräischen neu zu übersetzen oder zu übertragen, wie sie es nennen, erfordert allerdings noch eine andere Dimension der Auseinandersetzung.
Stadler: Die Vorgeschichte zu diesem Projekt umfasst nahezu die Hälfte meiner bisherigen Lebenszeit. Anfang zwanzig habe ich begonnen, mich mit den Psalmen als Texten zu beschäftigen. Die Psalmen sind das meistübersetzte und meistdiskutierte literarische Werk, das wir haben. Der Entstehungszeitraum der Texte reicht von dem Zeitalter Davids - etwa 1000 vor Christus - bis zur Zerstörung des zweiten Tempels 7o nach Christus. Leider habe ich feststellen müssen, dass in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Rezeption der Psalmen zum Stillstand gekommen war. Man mag das Säkularisierung nennen oder Paradigmenwechsel. Jedenfalls hat sich niemand mehr mit diesen Texten beschäftigt, und da bin ich in diese alte Tradition eingetreten.
Krass: Gab es neben der Übersetzung von Martin Buber und der sogenannten Einheitsübersetzung der Kirchen noch weitere neuere Übertragungen?
Stadler Es gab noch mehrere Übersetzungen, aber die sind alle funktional. Das heißt, sie sind als liturgische Vorlagen für den Gottesdienst oder für den frommen Gebrauch der Gläubigen entwickelt worden. Die Einheitsübersetzung ist in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils als Gemeinschaftsarbeit von evangelischen und katholischen Theologen entstanden. Es war nicht mein Ehrgeiz, im philologischen Sinn diese Einheitsübersetzung zu übertreffen. Das wäre vermessen. Aber Übersetzen heißt doch: zur Sprache bringen. Und man übersetzt immer in die eigene Sprache.
Krass: Sie haben einige vorsichtige Modetnisierungsversuche vorgenommen. Es gibt z.B. die Worte Zyniker, Machtapparat oder eine Heine - Anspielung mit der Sentenz Denk ich an Gott in der Nacht. Das hat ja sicher nicht so im Original gestanden.
Stadier Das ist richtig. Deshalb ist meine kleine Sammlung von Psalmen im streng philologischen Sinn auch als gescheitert zu betrachten. Ich spreche aber auch nicht von einer Übersetzung, sondern von einer Übertragung. Und diese Übertragung orientiert sich nicht an der Sprache von heute, sondern an meiner eigenen Sprache. Auch Luther, derja wirklich ein wortgewaltiger Mann war, hat seine Textversion der Übersetzung nicht nur aus dem original, sondern auch aus der Arbeit mit bereits vorhandenen Übersetzungen entwickelt. Er hat auf die Vulgata, auf die Septuaginta zurückgreifen können, die ja fast kanonischen Rang hatten. Außerdem gab es natürlich auch vor Luther schon deutsche Übersetzungen. Die Anfänge der deutschsprachigen Poesie, die ersten Versuche der Lyrik, sind in der Auseinandersetzungen mit dem Textkorpus der Psalmen entstanden. Notker von St. Gallen lebte 5oo Jahre vor Luther.
Krass: Sie selbst haben die Psalmen als Messdiener kennengelernt - wie Sie im Vorwort zu ihrer Übertragung schreiben - und den Text auf lateinisch gesprochen, ohne den Inhalt zu verstehen. War der Klang der Worte so etwas wie eine Initiation in die Sprache der Dichtung ?
Stadler Jedenfalls ist mir zum erstenmal die Schönheit der Sprache aufgegangen. Das erste Gedicht, das ich auswendig lernte, war in einer Sprache, die ich nicht verstand. Es war das weithin aus Psalmen bestehende lateinische Stufengebet der römisch- katholischen Kirche. Aber die Begegnung mit den Psalmen hatte auch noch andere Folgen für mich. Die Art und Weise wie ich in meinen Büchern mit den Personen umgehe, ist wahrscheinlich schon in den Psalmen präfiguriert. Auch dieser Antagonismus zwischen Verzeiflung und Hoffnung, der sich in den Psalmen ausspricht, aber auch die Spottlust, finden sich in meinen Texten wieder.
Krass: Die Ambivalenz der Psalmen wird auch sichtbar in dieser ständigen Schwebe zwischen Lobrede und Anklage an die Adresse Gottes.
Stadler: Dabei müssen Sie bedenken, dass die Psalmen eine Anthologie darstellen, deren Entstehungszeitraum sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt und viele verschiedene Autoren umfasst. Insofern sind eine Menge verschiedener Positionen vertreten. Da sprechen die jeweiligen Autoren mit und auch die Epoche.
Krass: Aber was ist das Verbindende? Der Textkorpus spannt eine ganze Urgeschichte in all ihren epochenbedingten Eigenheiten auf. Da muß es doch grundsätzliche Übereinstimmungen geben, damit die Sammlung unter einem gemeinsamen Dach Platz hat?
Stadler: Der Text läßt sich nach zwei grundsätzlichen Kriterien einteilen: es gibt Hymnen und Klagelieder. Überwiegend haben wir Klagelieder. Ich persönlich schätze die Hymnen weitaus höher ein, weil sie vom Einzelschicksal des Menschen abstrahieren und Gott nicht mit Forderungen und Anklagen konfrontieren. In einem an Rilke erinnernden Ton rühmen und preisen sie. Diese Äusserungsforrn entspricht auch meiner conditio. In Versen wie "Ich will meinem Gott singen ein Leben lang,/ ihm spielen, solange ich da bin./ Möge ihm mein Dichten gefallen,/ ich freue mich an meinem Gott!', da sind die Psalmen auf ihrem Höhepunkt. Sie müssen sich einen Gott dazu vorstellen, bei dem der Dank an den Schöpfer dafür, das es das Leben gibt, im Vordergrund steht. Das hat nichts mit dem Ansinnen zu tun, das an den Christengott gestellt wird. Dieses Junktim zwischen der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit des Menschen gibt es nicht. Das macht alles viel einfacher. Und schöner.
Krass: Sie schreiben in Ihrem Nachwort, dass Sie als junger Kirchgänger, den die Psalmen durch das Kirchenjahr begleitet haben, irgendwann den Eindruck hatten, "Die Psalmen gehören mir." Jetzt haben Sie die Psalmen in ihre Sprache übertragen. Gehören sie Ihnen nunmehr ?
Stadler: Jetzt gehören sie mir eben nicht mehr. Texte kann man sich nicht aneignen; es sei denn, es sind schon die eigenen. Da gibt es ein schönes Wort von Umberto Ecco. Ich zitiere sinngemäss: Der Triumph des Lesers besteht darin, aus einem Text alles herauszulesen, nur nicht das, was der Autor gemeint hat.
Krass: Aber wenn Sie den Text bearbeiten und in eine andere Sprache übertragen, dann ist das doch eine Form der Anverwandlung.
Stadler: Ich habe den Text erstrnal entkoppelt. Das sehen Sie schon in der typographischen Wiedergabe. Bisher waren die Psalmen in die Bibel eingebettet, numeriert, in Verse eingeteilt, funktionalisier und schematisiert. Ich wollte die einzelnen Psalmen als Gedichte zum Vorschein bringen. Wenn sie mit Referenzstellen, Marginalien und Fußnoten gedruckt werden, sieht man das nicht mehr. Dazu kommt die Einbindung in die Theologie. Da werden einzelne Worte zu Glaubenssätzen, die am Ende nicht nur exegetisch, sondern sogar dogmatisch relevant werden. Der poetische Gehalt geht darin unter. Genau hier habe ich mit meiner Neu-Übertragung angesetzt. Ich wollte meine eigene Sprache in den Psalmen finden. Mein Übertragungsversuch ist ein Zeichen der Faszination, welche das Buch der Psalmen bis heute ausstrahlt und so Menschen, Dichter und Leser, Beter und Sänger, über dreitausend Jahre verbindet.
Stadler: Die Vorgeschichte zu diesem Projekt umfasst nahezu die Hälfte meiner bisherigen Lebenszeit. Anfang zwanzig habe ich begonnen, mich mit den Psalmen als Texten zu beschäftigen. Die Psalmen sind das meistübersetzte und meistdiskutierte literarische Werk, das wir haben. Der Entstehungszeitraum der Texte reicht von dem Zeitalter Davids - etwa 1000 vor Christus - bis zur Zerstörung des zweiten Tempels 7o nach Christus. Leider habe ich feststellen müssen, dass in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Rezeption der Psalmen zum Stillstand gekommen war. Man mag das Säkularisierung nennen oder Paradigmenwechsel. Jedenfalls hat sich niemand mehr mit diesen Texten beschäftigt, und da bin ich in diese alte Tradition eingetreten.
Krass: Gab es neben der Übersetzung von Martin Buber und der sogenannten Einheitsübersetzung der Kirchen noch weitere neuere Übertragungen?
Stadler Es gab noch mehrere Übersetzungen, aber die sind alle funktional. Das heißt, sie sind als liturgische Vorlagen für den Gottesdienst oder für den frommen Gebrauch der Gläubigen entwickelt worden. Die Einheitsübersetzung ist in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils als Gemeinschaftsarbeit von evangelischen und katholischen Theologen entstanden. Es war nicht mein Ehrgeiz, im philologischen Sinn diese Einheitsübersetzung zu übertreffen. Das wäre vermessen. Aber Übersetzen heißt doch: zur Sprache bringen. Und man übersetzt immer in die eigene Sprache.
Krass: Sie haben einige vorsichtige Modetnisierungsversuche vorgenommen. Es gibt z.B. die Worte Zyniker, Machtapparat oder eine Heine - Anspielung mit der Sentenz Denk ich an Gott in der Nacht. Das hat ja sicher nicht so im Original gestanden.
Stadier Das ist richtig. Deshalb ist meine kleine Sammlung von Psalmen im streng philologischen Sinn auch als gescheitert zu betrachten. Ich spreche aber auch nicht von einer Übersetzung, sondern von einer Übertragung. Und diese Übertragung orientiert sich nicht an der Sprache von heute, sondern an meiner eigenen Sprache. Auch Luther, derja wirklich ein wortgewaltiger Mann war, hat seine Textversion der Übersetzung nicht nur aus dem original, sondern auch aus der Arbeit mit bereits vorhandenen Übersetzungen entwickelt. Er hat auf die Vulgata, auf die Septuaginta zurückgreifen können, die ja fast kanonischen Rang hatten. Außerdem gab es natürlich auch vor Luther schon deutsche Übersetzungen. Die Anfänge der deutschsprachigen Poesie, die ersten Versuche der Lyrik, sind in der Auseinandersetzungen mit dem Textkorpus der Psalmen entstanden. Notker von St. Gallen lebte 5oo Jahre vor Luther.
Krass: Sie selbst haben die Psalmen als Messdiener kennengelernt - wie Sie im Vorwort zu ihrer Übertragung schreiben - und den Text auf lateinisch gesprochen, ohne den Inhalt zu verstehen. War der Klang der Worte so etwas wie eine Initiation in die Sprache der Dichtung ?
Stadler Jedenfalls ist mir zum erstenmal die Schönheit der Sprache aufgegangen. Das erste Gedicht, das ich auswendig lernte, war in einer Sprache, die ich nicht verstand. Es war das weithin aus Psalmen bestehende lateinische Stufengebet der römisch- katholischen Kirche. Aber die Begegnung mit den Psalmen hatte auch noch andere Folgen für mich. Die Art und Weise wie ich in meinen Büchern mit den Personen umgehe, ist wahrscheinlich schon in den Psalmen präfiguriert. Auch dieser Antagonismus zwischen Verzeiflung und Hoffnung, der sich in den Psalmen ausspricht, aber auch die Spottlust, finden sich in meinen Texten wieder.
Krass: Die Ambivalenz der Psalmen wird auch sichtbar in dieser ständigen Schwebe zwischen Lobrede und Anklage an die Adresse Gottes.
Stadler: Dabei müssen Sie bedenken, dass die Psalmen eine Anthologie darstellen, deren Entstehungszeitraum sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt und viele verschiedene Autoren umfasst. Insofern sind eine Menge verschiedener Positionen vertreten. Da sprechen die jeweiligen Autoren mit und auch die Epoche.
Krass: Aber was ist das Verbindende? Der Textkorpus spannt eine ganze Urgeschichte in all ihren epochenbedingten Eigenheiten auf. Da muß es doch grundsätzliche Übereinstimmungen geben, damit die Sammlung unter einem gemeinsamen Dach Platz hat?
Stadler: Der Text läßt sich nach zwei grundsätzlichen Kriterien einteilen: es gibt Hymnen und Klagelieder. Überwiegend haben wir Klagelieder. Ich persönlich schätze die Hymnen weitaus höher ein, weil sie vom Einzelschicksal des Menschen abstrahieren und Gott nicht mit Forderungen und Anklagen konfrontieren. In einem an Rilke erinnernden Ton rühmen und preisen sie. Diese Äusserungsforrn entspricht auch meiner conditio. In Versen wie "Ich will meinem Gott singen ein Leben lang,/ ihm spielen, solange ich da bin./ Möge ihm mein Dichten gefallen,/ ich freue mich an meinem Gott!', da sind die Psalmen auf ihrem Höhepunkt. Sie müssen sich einen Gott dazu vorstellen, bei dem der Dank an den Schöpfer dafür, das es das Leben gibt, im Vordergrund steht. Das hat nichts mit dem Ansinnen zu tun, das an den Christengott gestellt wird. Dieses Junktim zwischen der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit des Menschen gibt es nicht. Das macht alles viel einfacher. Und schöner.
Krass: Sie schreiben in Ihrem Nachwort, dass Sie als junger Kirchgänger, den die Psalmen durch das Kirchenjahr begleitet haben, irgendwann den Eindruck hatten, "Die Psalmen gehören mir." Jetzt haben Sie die Psalmen in ihre Sprache übertragen. Gehören sie Ihnen nunmehr ?
Stadler: Jetzt gehören sie mir eben nicht mehr. Texte kann man sich nicht aneignen; es sei denn, es sind schon die eigenen. Da gibt es ein schönes Wort von Umberto Ecco. Ich zitiere sinngemäss: Der Triumph des Lesers besteht darin, aus einem Text alles herauszulesen, nur nicht das, was der Autor gemeint hat.
Krass: Aber wenn Sie den Text bearbeiten und in eine andere Sprache übertragen, dann ist das doch eine Form der Anverwandlung.
Stadler: Ich habe den Text erstrnal entkoppelt. Das sehen Sie schon in der typographischen Wiedergabe. Bisher waren die Psalmen in die Bibel eingebettet, numeriert, in Verse eingeteilt, funktionalisier und schematisiert. Ich wollte die einzelnen Psalmen als Gedichte zum Vorschein bringen. Wenn sie mit Referenzstellen, Marginalien und Fußnoten gedruckt werden, sieht man das nicht mehr. Dazu kommt die Einbindung in die Theologie. Da werden einzelne Worte zu Glaubenssätzen, die am Ende nicht nur exegetisch, sondern sogar dogmatisch relevant werden. Der poetische Gehalt geht darin unter. Genau hier habe ich mit meiner Neu-Übertragung angesetzt. Ich wollte meine eigene Sprache in den Psalmen finden. Mein Übertragungsversuch ist ein Zeichen der Faszination, welche das Buch der Psalmen bis heute ausstrahlt und so Menschen, Dichter und Leser, Beter und Sänger, über dreitausend Jahre verbindet.