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Die Menschen versteinern

Der plötzliche Tod eines geliebten Menschen ist Thema des Romans "Der eine schläft, der andere wacht". Als sich die Ich-Erzählerin aufmacht, mit Nachbarn zu sprechen, versteinern die Menschen wortwörtlich um sie herum, wechselt der Roman ins Surreale.

Von Sabine Peters | 18.10.2010
    Ein Liebespaar, zwei Frauen: Ina und ihre Freundin, die Ich-Erzählerin, sind aufs Land gezogen und haben in einem kleinen Nest eine Bar eröffnet, die von den Einheimischen und Durchreisenden mittlerweile gut besucht wird. Ganz unerwartet stirbt die gerade 27jährige Ina – was mit einer Magenverstimmung anfing, endet kurze Zeit später im Krankenhaus; Bauchspeicheldrüsenentzündung, Lungenödem, Herzinsuffizienz.

    Claudia Klischat, Jahrgang 1970, greift in ihrem neuen Buch ein altes Thema auf – den Verlust des nächsten Menschen. Anfangs schildert sie Elemente dessen, was nach dem Tod eines geliebten Partners mehr oder weniger typisch ist: Die Ich-Erzählerin Olivia ist aus der Normalität gefallen. Die Zeit ist kein Kontinuum mehr, sondern sie ist zerrissen zwischen einem vielschichtigen "Früher" und dem gnadenlosen armen "Jetzt". Es fällt der Hinterbliebenen schwer, den Alltag zu organisieren. Sie liest die Gedichte und Notizen ihrer Freundin, besucht Inas Grab, entwickelt Rituale der Trauer. Punktuelle Erinnerungen tauchen schmerzhaft auf; ein makabrer Traum wiederholt sich; die Selbstvorwürfe drehen sich im Kreis. Nicht einmal die Sprache steht der Erzählerin noch selbstverständlich zur Verfügung, und es kommt noch befremdlicher: Als sie gerade mit einem Nachbarn sprechen will, versteinert der Mann. Nach ihm versteinern sämtliche Dorfbewohner. Sie erstarren, wo sie gerade sind. Ina fand die Einheimischen immer schon leblos, erinnert sich Olivia. Sie will das Dorf verlassen, aber vergeblich, eine unsichtbare Macht hält sie gefangen. Und es zeigt sich kein Urlauber mehr, auch keine durchfahrenden LKW. Sie ist gewissermaßen der letzte Mensch.

    Mit dieser Volte ins Surreale beginnt ein teils traumhaftes, dann wieder realistisches Leben. Wochenlang ernährt sich Olivia von dem, was sie im Laden und bei den Nachbarn findet, später besorgt sie sich eine Waffe, um Tiere im Wald zu erlegen – und sie fängt auch an, Kerzen, Streichhölzer und Holz für den Winter zu horten. Schließlich stellt sie fest, sie sei überlebenstauglich, und zwar auch, weil ihr das eigene Schreiben zum Existenzbeweis wird.

    Die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg, die von 1916 bis 1991 lebte, hat in ihrem Gedicht "Memoria" über den Tod ihres Mannes, des Schriftstellers und Antifaschisten Leone Ginzburg geschrieben, der 1944 im Gefängnis von der Gestapo ermordet wurde. In dem Gedicht "Memoria" ist sinngemäß von einer erleuchteten Stadt die Rede, von Leuten, die ihren Alltagsbesorgungen nachgehen - und von einem Menschen, der nun verlassen ist, allein in einem leeren Haus. Ein tiefer Schmerz kommt zur Sprache, aber er bestreitet der Welt nicht das Recht, zu existieren.

    In Claudia Klischats Roman findet eine Gegenbewegung statt: Bei ihr sind die übrigen Menschen versteinert, und "die Welt" ist weg, unerreichbar – die innere Erstarrung der Protagonistin wird nach außen verlegt.

    Es bleibt allerdings nicht dabei. Der Spuk löst sich so zufällig und unerwartet auf, wie er begann: Eines Tages findet Olivia im Wald frische Reifenspuren und fährt mit einem LKW-Fahrer fort. Sie besucht eine alte Freundin und die Welt beginnt sich gewissermaßen wieder zu drehen. Sie telefoniert mit ihrer Mutter, liest die Emails von Freunden, die ihr monatelang besorgt schrieben. Ihr ist daran gelegen, einen Zeugen für die Zeit der Versteinerung zu finden, und daher besucht sie auch Inas Mutter, die ihr aber nichts zu sagen hat. Die Erzählerin erwägt, zurück ins Dorf zu gehen, aber dann fällt ihr ein, sie könne sich nicht um das Grab, überhaupt nicht um Gräber kümmern, sie müsse sich selbst "herausschaufeln" – sie will einen Neubeginn wagen.

    Dieser programmatisch gesetzte Schluss des Romans wäre nicht nötig gewesen: Selbst wenn die Erzählerin den Wunsch hat, etwas abzuschließen und sich "aufzumachen", der Text selbst zeigt vor allem: Ein Neubeginn lässt sich nicht in einem reinen Willensakt unternehmen, denn die Erinnerungen brechen unerwartet hervor, sie lassen sich nicht steuern.

    Das Buch hat autobiografische Bezüge, eine Notiz im Anhang macht das deutlich – diese Bezüge drängen sich allerdings nicht in den Vordergrund. Dafür sorgt der Kunstgriff, die Dorfbevölkerung versteinern zu lassen.

    "Der eine schläft, der andere wacht" – es gibt in diesem Roman ein paar wenige Ausrutscher, unmotivierte Situationen oder prätentiöse Sätze; und doch liest man das Buch in einem Zug. Die Sprache ist insgesamt flüssig, manchmal funkeln Wortspiele oder Neologismen wie "Vorwurfsberge" oder "Mutterüberwurf". Claudia Klischat zeigt eine Fülle von Gefühlen, die Protagonistin wird nicht als eine einheitliche, stimmige Figur der Trauer dargestellt, sondern auch als maßlos, übellaunig, dreist, verspielt, zerstörerisch, kokett oder ungerecht gegenüber anderen, die es gut mit ihr meinen. Kurzum, man hat es nicht mit einer Heldin, sondern mit einem nachvollziehbaren Menschenwesen zu tun. Das gibt diesem Roman seine Plausibilität.

    Claudia Klischat: Der eine schläft, der andere wacht. Roman. C.H. Beck-Verlag, 160 Seiten, 17,95 Euro