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Die Menschenwürde war unantastbar

Die jetzt vorgestellte Neukommentierung des Grundgesetztes gilt als Epochenwechsel. Denn aus der notwendigen zeitgemäßen Fortschreibung der Loseblatt-Sammlung ist eine Neuformulierung geworden, die Interpretationsspielräume lässt. Befürchtet wird vor allem eine Relativierung der Menschenwürde. Fragen an den Philosophen Robert Spaemann.

Karin Fischer im Gespräch mit Robert Spaemann | 03.09.2003
    Fischer: Herr Spaemann, wenn man die extrem komplexen Formulierungen mal beiseite lässt: worum geht es konkret?

    Spaemann: Es geht wohl darum, dass schon seit längerem die Menschenwürde nach Analogie eines Grundrechts verstanden wird und nicht als etwas, was allen Grundrechten zu Grunde liegt. Wenn die Menschenwürde nur ein Grundrecht unter anderen ist, dann muss sie auch Einschränkungen möglich machen, denn es gibt kein Grundrecht, das absolut gilt, denn jedes Grundrecht muss mit anderen Grundrechten in Beziehung gesetzt und abgewogen werden. Der Grundgedanke der Verfassungsväter war es, dass die Menschenwürde nicht in Abwägung mit irgendwas anderem gebracht werden darf, sondern strikt und immer gilt. Das geht aber nur, wenn sie nicht selbst eine Art ausformuliertes Grundrecht ist.

    Fischer: Ich darf vielleicht den Satz zitieren, an dem sich die Kritik festmacht. Er lautet: Trotz des kategorialen Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und Maß des Würdeschutzes für Differenzierungen durchaus offen, die den konkreten Umständen Rechnung tragen. Das heißt, in Sachen Würdeschutz kann künftig mit mehrerlei Maß gemessen werden?

    Spaemann: Ja. Genau das ist das, was Böckenförde feststellt, dass nach dem neuen Kommentar möglich sein wird. Man sieht auch sehr deutlich, dass Böckenförde das für äußerst bedrohlich hält. Das einzige, das ich ihm vorwerfen könnte, wäre, dass er zu resignativ ist, das heißt, dass er sagt, na ja, es ist eine neue Generation, und offenbar können die schrecklichen Erfahrungen, die wir mit den Nazis und den totalitären Diktaturen gemacht haben, nicht über Generation hin tradieren, was wir aus denen gelernt haben, können sie nicht mehr lernen. Das heißt natürlich im Grunde noch, jede Generation muss wieder in dieselben Löcher fallen, in denen die Väter gefallen sind. Diese resignative Position kann ich nicht teilen, aber sonst finde ich die Analyse Böckenfördes vollkommend treffend. Wenn ich vielleicht sagen darf, was der Grund dieser Entwicklung ist: Mir scheint, dass man seit einiger Zeit glaubt, er könne so etwas wie Würdekonflikte geben. Man sagt, es steht die Würde zum Beispiel des Ungeborenen gegen die Würde der Mutter, und das muss abgewogen werden. Ich glaube, hier liegt der Grundirrtum. Es gibt Interessenkonflikte, die abgewogen werden müssen, aber eine zumutbare Lösung eines Interessenkonfliktes ist niemandes Würde abträglich. Dahinter steht noch weiter der Gedanke, die Würde könnte gewissermaßen durch die Natur bedroht werden, durch Krankheit, durch Schwangerschaft und so weiter. Das alles sind keine Würdebedrohungen. Die Würde des Menschen kann nur durch Menschen bedroht werden, und da gibt es gar nichts abzuwägen.

    Fischer: Die Stichworte - Sie haben es schon angedeutet - sind immer Gentechnologie, künstliche Befruchtung, Stammzellforschung, die ganzen Verheißungen der medizinischen Forschung im 21. Jahrhundert. Schon jetzt sind Wissenschaftler mit Philosophen und Ethikern im Gespräch und diskutieren den Embryonenschutz in der Petrischale. Welche Dimension fügt der neue Grundgesetzkommentar dieser Diskussion zu?

    Spaemann: Er läuft im Grunde dieser Diskussion hinterher und versucht, die Entfernungen von den Grundgedanken der Verfassungsväter jetzt selber nachzuholen, indem er davon ausgeht, dass es hier irgendetwas zu diskutieren gibt. Schauen Sie, wodurch wird die Würde bedroht, es gibt auch heute einen verbreiteten Gedanken, der auch in diesem Kommentar sich irgendwie niederschlägt, als ob die Würde des Menschen immer bedroht würde durch etwas, was gegen seinen Willen geschieht. Aber nehmen Sie den Mörder von Fulda, der hat sich einen Mann durch das Internet geholt, der sich gerne ermorden und aufessen lassen wollte, und das ist auch geschehen. Nach der Auffassung mancher Menschen heute, auch mancher Juristen, hat im Grunde dieser Mörder gar nichts Unrechtes getan, denn das Opfer war ja einverstanden.

    Fischer: Verstehe ich Sie richtig, wenn Sie sagen, dass mit dieser Neukommentierung die Ewigkeitsgarantie des Artikel 1 nicht gefährdet ist?

    Spaemann: Natürlich. Durch diesen neuen Kommentar wird diese Ewigkeitsgarantie illusorisch, so als liege es im Belieben irgendeiner Generation, anderen Menschen ihre Würde abzusprechen, als sei das eine zeitbedingte Sache.

    Fischer: Danke für das Gespräch.

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