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Die missbrauchten Kinder

Die Oper "Pelléas et Mélisande" ist das einzige Stück Musiktheater, das der impressionistische Komponist Claude Debussy vollendete. Man sagt, er habe darin eine neue Balance von Text und Musik gefunden, um die Geschichte der hoffnungslos-fatalen Liebe zwischen Pelléas und Mélisande zu gestalten, die der symbolistische Librettist Maurice Maeterlinck 1892 ersann. 1902 erlebte das Stück an der Opéra-Comique in Paris seine Uraufführung. Gestern kam es am Brüsseler Opernhaus La Monnais neu auf die Bühne, in der Regie von Pierre Audi, unter der musikalischen Leitung von Mark Wigglesworth, ausgestattet mit einem berückenden Bühnenbild des indisch-britischen Künstlers Anish Kapoor.

Von Christoph Schmitz | 05.09.2008
    In Claude Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" sehnt sich alles nach Licht, nach frischer Luft und weiter Sicht. Davon haben die Leute im Königreich Allemonde zu wenig, weil die Wälder so dicht sind und die Gemäuer so alt und finster. Darum genießen sie die Blicke aufs Meer, und Debussy kann seine funkelnden Klangbilder zum Blühen bringen. Und zugleich ist Debussy dem Geheimnis der Welt auf der Spur, der "Verschwiegenheit der menschlichen Seele", die er hörbar machen möchte, einschließlich des Staunens und Erschreckens. Die musikalische Idee des Komponisten und Maurice Maeterlincks ästhetische Vorstellung vom "mysteriösen Lied des Unendlichen" finden in Debussys "Pelléas"-Vertonung aufs Schönste zusammen. Pierre Audi aber konkretisiert dieses atmosphärische Musiktheater in seiner Brüsseler Inszenierung. Die junge Mélisande, die der Prinz Golaud verängstig im Wald findet, ist für Audi ein vergewaltigtes Mädchen. Ein roter Fleck auf ihrem Kleid, der kahlgeschorene Kopf zeigen sie als missbrauchtes Kind, das jetzt in die nächste Missbrauchsgeschichte hineingezogen wird. Golaud führt sie nach Hause, wo sich später sein Großvater, König Arkel von Allemonde, an Mélisande heranmacht. Dass es die Kinder in dieser Familie schwer haben, zeigt die Oper ja von sich aus deutlich an der Figur des Yniold, Golauds Sohn aus erster Ehe, angstvoll und eingeschüchtert begegnet er seinem strengen Vater.

    Audi verstärkt seine Deutung mit jener Szene, in der ein Schäfer seine Herde an Yniold vorbeitreibt, indem er die Tiere von blutenden Kindern spielen lässt, die von ihrem Schänder an Leinen geführt werden. Audis Fokussierung geht aus der Musik plausibel hervor. Wobei das Bühnenbild des aus Indien stammenden, britischen Künstlers Anish Kapoor wieder allen Realismus zurücknimmt. Kapoor hat eine rotleuchtende Monumentalskulptur auf die Bühne gestellt, die sich permanent um sich selbst dreht. Sie sieht aus wie die Hälfte einer antiken Vase oder eines Kruges, der von oben nach unten durchgeschnitten ist. Sie spielt auf die Brunnen-, Wasser- und Meeressymbolik des Stückes an, hat aber zugleich etwas uteral Organisches und auch Surrealistisches, weil die Form wie bei Salvador Dalí auf Stelzen gestützt ist. Sie dient auf der Bühne als Grotte, Schloss und Wald zugleich. Die Figuren sind darin gefangen, real, alptraumartig und traumatisiert, denn selbst die Liebe zwischen Golauds Frau Mélisande und seinem Halbbruder Pelléas kann das System der Ausbeutung nicht sprengen. Audis und Kapoors unterschiedliche Ansätze durchdringen einander auf rätselhafte Weise und führen so zur Musik hin, die sich auch selbst unter dem Dirigat von Mark Wigglesworth auf die Inszenierung zubewegt.

    Wigglesworth arbeitet die Nachtseiten der Partitur hervor, geht stark auf die scharfen Dissonanzen und überschattet die lichten Seiten der Komposition. Den großen Liebesdialog zwischen Pelléas und Mélisande im vierten Akt lädt er dramatisch so auf, dass man sich an den Liebeswahn in Wagners "Tristan" erinnert fühlt.

    Stéphane Degouts Pelléas erklingt in einem reizvoll verschleierten Bariton. Sandrine Piaus klarer und wandlungsfähiger Sopran verleiht der Mélisande alle Zartheit und Verletzlichkeit. Und Dietrich Henschel singt und spielt den Golaud mit jugendlicher Leichtigkeit. Das Ensemble insgesamt bietet eine gute sängerische Leistung - in einer sehr interessanten musikalischen und szenischen Interpretation.