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Die Mühen der Ebene

Die so genannte "Jasmin-Revolution" ist vollbracht, Ben Ali wurde aus Tunesien getrieben, eine Übergangsregierung hat ihre Arbeit aufgenommen. Und doch bleibt noch viel zu tun.

Von Alexander Göbel |
    Zum ersten Mal hat ein arabisches Volk seinen Diktator vertrieben - und muss nun von vorne anfangen. Tunesien kehrt Ben Alis Scherbenhaufen zusammen und macht sich auf den mühsamen Weg in die Zukunft. Die Menschen erwarten Transparenz, Mitbestimmung, verantwortungsbewusste Volksvertreter - dafür gab es bisher in der arabischen Welt kein wirkliches Vorbild. Die Übergangsregierung geht an die Arbeit und bereitet unter Hochdruck Wahlen vor, es bilden sich die ersten neuen Parteien, die Medien lernen den Umgang mit der neu gewonnenen Freiheit. Hat das Land die Chance, zu einer Demokratie zu werden?

    Es wird immer noch demonstriert in Tunis - aber ganz anders. Es fliegen keine Steine mehr, auch keine Tränengaskartuschen. Es sind einfach nur engagierte Bürger, die ihre Meinung sagen. Lehrerinnen wie Fatima Zaoui - sie wollen die Politiker daran erinnern, die Frauenrechte nicht zu vergessen.

    "Was hier auf der Avenue Bourguiba passiert, ist etwas Neues und doch völlig Normales. Das ist der Beginn der Demokratie. Keiner muss Angst haben. Genau so muss es weitergehen in diesem Land. Alles wird gut. So Gott will."

    In Tunesiens Übergangsregierung geht es zu wie im Bienenstock. Man redet mit der Europäischen Union, unterschreibt internationale Menschenrechtsabkommen, zahlt Entschädigungen für die Angehörigen der Todesopfer der Unruhen. Man nimmt den Innenminister aus Ben-Ali-Zeiten fest, räumt bei der Polizei auf, und bildet Reform-Kommissionen.

    Verfassung, Justiz und Verwaltung tragen noch immer den Stempel der alten Ben-Ali-Diktatur. Ben Ali ist raus aus Tunesien, jetzt soll er auch endlich raus aus dem politischen System. Tunesien will es tatsächlich wagen, will sich neu erfinden - und zum Pionier im arabischen Raum werden. Jürgen Theres, Maghreb-Experte der Hanns-Seidel-Stiftung in Tunis, ist vorsichtig optimistisch:

    "Die Chance ist da, das erste Ziel muss sein, freie und faire Wahlen abzuhalten, das wird wohl noch vor der Sommerpause, also im ersten Halbjahr stattfinden. Die eingesetzten Verfassungs-Kommissionen, die sind mit absoluten Fachleuten besetzt worden, die europäisches Niveau haben. Sie wissen genau, was auf dem Spiel steht, und jetzt müssen sie den Grundstein legen für eine stabile Demokratie."

    Der wichtigste Grundstein heißt "Verfassung". Wie sie im Tunesien nach Ben Ali aussehen soll, ist eine Frage, auf die der tunesische Politikwissenschaftler Hamadi Redissi gerne schon vor den Wahlen eine Antwort haben möchte. Er hat Angst, dass von den Reformen sonst wenig übrig bleibt, dass sich die Revolution auf der politischen Bühne totläuft. Redissi will, dass die Tunesier zuallererst über ein neues Grundgesetz abstimmen, und erst dann über Mehrheiten in einem Parlament.

    "Ich glaube, es ist Zeit für eine neue Verfassung, sozusagen als Gütesiegel für den demokratischen und freiheitlichen Neubeginn in Tunesien. Die jetzige Verfassung war zwar die eines modernen, aber autoritären Staates. Wenn wir einfach nur das umbauen, was wir von Ben Ali geerbt haben, werden wir nichts Neues schaffen - die Macht wird immer nur auf den Staatschef konzentriert bleiben - mit den Folgen, an denen wir so lange gelitten haben."

    Das bedeutet: Weg vom präsidialen, französischen Modell, hin zu einer parlamentarischen Demokratie. Aber kein Parlament ohne Parteien. Mehr als 20 Jahre hatte Ben Alis Ex-Regierungspartei RCD alles dominiert - nun werden überall im politischen Spektrum neue Parteigründungen vorbereitet. Bei den Konservativen in der Mitte, links bei den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften, und auch bei den Islamisten. Zu viele Splitterparteien wie zur Zeit der Weimarer Republik wolle in einem demokratischen Tunesien aber niemand, glaubt Jürgen Theres - und einen radikalen Gottesstaat schon gar nicht.

    "Wir müssen anerkennen, dass diese Länder ihren eigenen Weg suchen und ihrer Religion einen Platz in der Gesellschaft und im Staatsapparat zugestehen wollen. Auch die gemäßigten Islamisten behaupten von sich, dass sie Demokraten sind, dass sie eine Beteiligung wie die AKP in der Türkei anstreben - also, sie möchten über den Islam eine ethische Referenz in den Staat hineinbringen."

    Kader Abderrahim vom Institut für Internationale Beziehungen in Paris (IRIS) hält den politischen Islam schlicht für eine Facette des neuen Tunesien - die Menschen seien bereit, den Islamismus ein für allemal zu entzaubern, Pluralismus zu lernen - und auszuhalten. Tunesien sei der beste Beweis für Europas großen arroganten Irrtum, Araber, Berber, Muslime hätten doch mit Demokratie nichts am Hut. Die demokratische Energie, die von Tunesien ausgehe, sei vielleicht das größte Geschenk, dass die Menschen dem Westen machen könnten, meint Kader Abderrahim.

    "Das ist ein kultureller Tsunami, der sich vor unseren Augen abspielt. Es gibt Intellektuelle, Akademiker, eine neuerdings freie Presse, sehr viele junge Menschen, eine große Mittelschicht. Alle fragen sich: Wie können wir in der Moderne des 21. Jahrhunderts unseren Platz finden, ohne unsere Identität zu verlieren?"

    Schöne neue Welt in Tunesien. Die Vision, etwas Neues zu schaffen, ist da, der Wille auch - nur könnte der revolutionäre Duft von Jasmin schnell verfliegen, wenn sich an den riesigen Problemen des Landes nicht bald etwas ändert, wenn ausländische Unternehmen Angst um ihre Investitionen haben müssen. Tunesiens hohe Arbeitslosigkeit, die ja mit zum Sturz von Ben Ali geführt hatte, ist nicht über Nacht verschwunden. Alle Beteiligten wissen genau: Revolution allein macht noch nicht satt. Und auch Wahlen kann man nicht essen. Selbst wenn sie demokratisch sind.