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Die Mutter aller Katastrophen

Am 1. November 1755 erschütterte ein Beben der Stärke 8,9 auf der Richter-Skala die Erde vor der portugiesischen Küste, in den nächsten zehn Minuten folgten zwei weitere Stöße. Die Erschütterungen spürte man über den ganzen Kontinent, selbst in den marokkanischen Städten Fez und Meknes starben Menschen. Die schlimmsten Schäden aber erlitt Lissabon mit seinen prächtigen Gebäuden aus der Zeit der Maurischen Herrschaft. Lissabon zählte damals mit 275.000 Einwohnern zu den größten und schönsten Städten Europas.

Von Mirko Smiljanic | 01.11.2005
    Doch damit nicht genug: Ein Feuer verwüstete fast alle Holzhäuser, die Flammen tobten fünf Tage und Nächte. 30 Minuten nach dem Beben überrollte zudem eine sechs Meter hohe Tsunami-Welle das Ufer und sog weitere Opfer hinaus ins Meer. Bis zu 60.000 Menschen fanden den Tod.

    Das Erdbeben von Lissabon löste einen enormen Schock aus: Kein Künstler von Rang, kein Literat, kaum ein Philosoph der sich nicht dieser "Mutter aller Katastrophen" stellte. Eine häufig gestellte Frage in dieser Diskussionen hieß: Wenn es einen Gott gibt, wie kann er so etwas zulassen?

    Lissabon, 1. November 1755. Es ist Allerheiligen, eines der höchsten Kirchenfeste im katholischen Portugal.

    "Lissabon war die dritt oder viert reichste Stadt der Welt damals. Lissabon war der zentrale Handelsplatz für Güter, die aus der Neuen Welt nach Europa strömten und alle Länder wie England aber auch Dänemark hatten dort ihre Handelshäuser,... "

    ...außerdem - so Karl Fuchs, Professor für Geophysik an der Universität Karlsruhe - zählt Portugal zu den frömmsten Ländern Europas, die Inquisition hat ganze Arbeit geleistet. In dieser Situation geschieht um exakt 9 Uhr 40 etwas Unfassbares.

    Ein Erdbeben der Stärke 8,9 auf der Richter-Skala erschüttert Lissabon. 30 Kirchen stürzen ein und erschlagen die Gläubigen, Feuer bricht aus, in Panik flüchten sich Tausende in den Hafen.

    "Danach kam etwa eine halbe Stunde später der von dem Erdbeben ausgelöste Tsunami, eine Flutwelle von etwa sieben Meter Höhe, sieben bis zehn Meter wird geschätzt, in den Hafen von Lissabon und ertränkte die Menschen, die sich dorthin geflüchtet hatten. "

    Bis zu 60.000 Menschen sterben, kein Stein bleibt auf dem anderen, Lissabon erlebt die fürchterlichste Naturkatastrophe der Menschheitsgeschichte.

    Diese Katastrophe berührte das Selbstverständnis der damaligen Zeit. Die Aufklärung hatte sich rasant entwickelte: Religionskriege waren überwunden, demokratische Ideen verbreiteten sich, die Welt wurde zunehmend naturwissenschaftlich erklärt - Europa erlebte eine Phase des grenzenlosen Optimismus,...

    "...und Leibniz hatte eine ganz besondere Wirkung auf diesen Optimismus. Er hatte ja die Differenzialrechnung erfunden und er hatte dabei die Vorstellung, dass die Welt genauso wie die Funktionen in der Mathematik sich optimieren lassen. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass dies die beste aller Welten ist."

    "Entsetzt, bestürzt, seiner Sinne nicht mächtig, über und über blutend und zitternd, sagte Candide sich: Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?"

    Voltaires Satire auf die Optimismus-Philosophie kennzeichnete die damalige Diskussion. Das Theodizee-Problem, die Frage der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt, war von nun an ein vorherrschendes literarisches Thema. Gottsched, Lessing, Goethe und Rousseau beteiligten sich, aber auch Kleist und Kant. Kant vertrat 1756 in seiner "Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens von Lissabon" auch weiterhin Positionen der Aufklärung.

    "Wenn die Menschen ihre Häuser dort hin bauen, wo sie erschüttert werden, dann brauchen sie sich nicht wundern, wenn sie zusammen fallen. Sie sollen dann aber bitte nicht die Vorsehung dafür verantwortlich machen."

    Seit dem Erdbeben von Lissabon stehen sich zwei Positionen gegenüber: Der Mensch ist dem Schicksal und damit dem Übel machtlos ausgeliefert lautet die eine, die andere setzt auf Kreativität und Intelligenz, um das Übel zu bewältigen. Warum etwa, würde Kant heute sagen, erbaute man New Orleans an dieser Stelle, obwohl doch klar war, dass ein Hurrikan die Stadt zerstören kann? Wer heute die Position vertritt, der Mensch sei dem Schicksal und damit dem Übel ausgeliefert, führt nicht zwingend moralische Kategorien ins Feld. Der Hurrikan sei keine Strafe Gottes - sagen sie - aber immerhin ein Fingerzeig, dass wir mehr Demut vor der Natur haben müssen.

    "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Mitten in der Zeit der Aufklärung auf einmal wieder zurück fallen in Vorstellungen, die vor Lissabon üblich gewesen sind. "