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Die Mythenwelt von Juchitán

Iturbides Schwarz-Weiß-Bilder sind meisterhaft inszeniert, voller Mitgefühl mit den Porträtierten, aber ohne jeden Kitsch. Was sind diese Fotos: poetische Zeugnisse einer untergehenden Kultur? Eine anthropologische Recherche? Der 1942 geborenen Graciela Iturbide ist das selbst nicht ganz klar.

Von Christian Gampert |
    Die Fotografin Graciela Iturbide hat einen Sinn für Situationen, in denen historische Prozesse sich emblematisch verdichten. Ihr Bild einer Seri-Indianerin, die, ein Kofferradio in der Hand, an ein paar Disteln vorbei in die mexikanische Wüste wandert, steht für eine ganze Gesellschaft, die aus der Geborgenheit ihrer Rituale nun in das Medienzeitalter wechseln muss – oder beide Kulturen verbindet, so gut oder so schlecht das eben geht.

    Iturbides Bild stammt aus dem Jahr 1979: "Engelsfrau" heißt es. Man sieht die Indianerin von hinten; ihr langes, schwarzes Haar steht als Schattenriss gegen einen fahlen Himmel, sie trägt einen wallenden, weißen Rock, links ein paar Gesteinsbrocken eines Hügels, vor uns verstepptes Land. Was machen die Menschen hier? Die Ausstellung wird uns noch mehrere Porträts der Seri-Indianer zeigen, verlorene Gestalten mit Gewehr und seltsamer Dienstmütze vor Riesenkakteen, manche tragen auch Rüschenhemden und Sonnenbrille, eine Fliege und einen Cowboyhut – ausgediente Requisiten der US-Popkultur, die hier, im mexikanischen Ödland, nun die Ambivalenz der Eingeborenen bemänteln, die nicht wirklich wissen, wohin sie gehören.

    Iturbides Schwarz-Weiß-Bilder sind meisterhaft inszeniert, voller Mitgefühl mit den Porträtierten, aber ohne jeden Kitsch. Was sind diese Fotos: poetische Zeugnisse einer untergehenden Kultur? Eine anthropologische Recherche? Der 1942 geborenen Graciela Iturbide ist das selbst nicht ganz klar.

    "Ich sage immer: Meine Kamera ist nur ein Vorwand, um die Menschen und Kulturen der ganzen Welt kennenzulernen. Unglücklicherweise kennen wir in Mexiko unsere eigene Kultur nicht so gut, und als ich mit dem Fotografieren begonnen habe, habe ich mich entschieden, zu diesen indigenen, eingeborenen Völkern zu gehen, den Zapoteken, den Seri, den Leuten aus dem Gebirge. Ich wollte mit ihnen leben, sie fotografieren, um Mexiko besser zu verstehen."

    In den abgelegenen Gegenden Mexikos sind die mystischen indianischen Traditionen, die vor der spanischen Kolonisation des Landes bestanden, noch sehr lebendig. Zum Teil gehen sie seltsame Verbindungen mit dem jetzt dominierenden Katholizismus ein.

    Es gibt auch alte matriarchalische Strukturen und Zauber-Rituale, die vor allem in der Stadt Juchitán überlebt haben - Iturbide dokumentiert sie in ihrem Zyklus "Stadt der Frauen". Man sieht eine "heilige Jungfrau der Leguane" (mit Leguanmütze), eine "Stierfrau" (mit zeremoniell gebrauchtem Stierkopf), eine Heilerin, die die Hände auflegt, aber auch Transvestiten mit Sombrero und Röckchen – Juchitán ist bekannt für seine Toleranz gegenüber Homosexuellen.

    Die Ausstellung spannt den Bogen aber sehr viel weiter: In den 1980er-Jahren begann Iturbide mit einer freieren Bildgestaltung; ihre Bilder von Vogelschwärmen sind voller Bewegungsdynamik und Kraft. Zugleich setzte sie ihre sozialkritische Fotografie fort und zeigt das rituelle Abschlachten ganzer Ziegenherden oder das "Theater des Todes" auf dem Land. Das Verschmelzen der Eingeborenen-Kulturen mit dem katholischen Glauben führt hier zu kuriosen, jahrmarktähnlichen Kostümierungen und karnevalesken Totentänzen: Eine Erstkommunikantin trägt als Maske einen Totenschädel, ebenso wie eine frisch vermählte Braut. Memento mori!

    Dazu passt, dass Iturbide auch im früheren Wohnhaus der von ihr verehrten Frida Kahlo fotografiert und die dort verbliebenen Gegenstände neu arrangiert hat. Das ehemalige Badezimmer der Malerin wird unter Iturbides Blick zu einer ambivalenten Gedenkstätte – mit Korsett, Krücken in der Badewanne und einem Stalin-Poster an der Wand.
    Den Abschluss bilden Landschaftsbilder: einsame Hütten und dunkle Parks, streunende Hunde, Schrottplätze, Baustellen, vor allem aufgenommen auf Iturbides Reisen durch Amerika und Indien. Sie liebt das Dunkle und die Schwärze. Und trotzdem wird in diesen Bildern nicht esoterisch orakelt, sondern das Leben von Minderheiten vorgezeigt: Hier sind alte Kulturen, sie sterben langsam aus. Schauen wir sie nochmals an.