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Die Nacht am Öresund

Für die Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 1943 planten die deutschen Besatzer die Deportation der dänischen Juden in deutsche Konzentrationslager. Der deutsche Diplomat Georg Ferdinand Duckwitz warnte jedoch die Dänen. Und so organisierte ein ganzes Volk für die Juden eine Rettungsaktion, die bis heute ohne Beispiel ist.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 21.10.2013
    "Die Nacht schlich nur langsam voran. Es war völlig windstill. Und viel zu viel Mondschein. Und das, was sich wie Wellenschlag anhörte, war vielleicht das Seufzen der Welt über den Zustand der Welt."

    So der Bericht einer Augenzeugin.

    Es ist eine dieser kühlen und klaren skandinavischen Herbstnächte. Ein sternenübersäter Himmel wölbt sich über den dunklen Wassern des Öresunds. Weit draußen erkennt man die massigen Steinquader des "Hamlet"-Schlosses Kronborg. Noch weiter entfernt am Horizont schimmern die Lichter der schwedischen Küste.

    In dieser Oktobernacht 1943 kauert die damals 16-jährige Hanne Kaufmann, die als deutsche Jüdin nach Dänemark geflohen war, zusammen mit anderen im Laderaum eines Fischkutters. Jetzt fliehen sie nach Schweden. Später erinnert sich Hanne Kaufmann:

    "Diese Nacht am Öresund war die längste meines Lebens. Sie wurde anders als alle Nächte, die ich bis dahin erlebt hatte, weil ich zum ersten Mal das Gute als Folge des Bösen erlebte."

    So wie Hanne Kaufmann erleben in diesen Herbsttagen des Jahres 1943 viele dänische Juden Flucht und Rettung vor den deutschen Verfolgern in ihrem besetzten Land. Bei Nacht und Nebel bringen dänische Fischerboote rund 7300 jüdische Flüchtlinge über den Öresund ins neutrale Schweden. Es ist eine Rettungsaktion, an der sich ein ganzes Volk in Hilfsbereitschaft und Solidarität beteiligt:

    "So haben die Dänen sich erhoben wie ein Mann. Später hat man kritisiert, dass man für solch eine Situation nicht vorbereitet war, aber das historische Urteil ist, dass, wenn es nicht so spontan gekommen wäre, dann wäre es sicher nicht so gut geglückt, dass 90 Prozent gerettet wurden","

    erinnert sich Arne Melchior, Sohn des damaligen Kopenhagener Oberrabbiners Marcus Melchior, ist zu dieser Zeit 17 Jahre alt, an den Beginn der Aktion:

    ""Am nächsten Tag sollte das jüdische Neujahrsfest gefeiert werden. An dem Morgen sehr früh waren ungefähr 250 Menschen in der Synagoge und da gab es einen Frühgottesdienst, und als er schon fast beim Abschluss war, ging mein Vater hinauf und hat also die Mitteilung gegeben und hat allen Anwesenden aufgelegt, dass sie sollen schnellstmöglich ihre Familie, ihre Freunde, Bekannte benachrichtigen, dass man in der kommenden Nacht und auch weiter danach nicht zu Hause sein durfte. So kam es zu meinem Vater und so hat er es weitergegeben."

    Auch Arne Melchior und seine eigene Familie müssen in aller Eile das Notwendigste zusammenpacken und untertauchen – bei einem Pfarrer auf dem Land:

    "Dieser Priester hatte einen großen Priesterhof, ein großes Haus, und als wir da ganz unangemeldet – weil man nicht geneigt war, das Telefon zu benutzen, weil man nicht wusste, ob schon gehorcht wurde – so sind wir da also plötzlich mit sechs Menschen angekommen. Und der hatte uns mit offenen Armen aufgenommen und die Familie war dort neun Tage untergebracht."

    Zusammen mit dem Sohn des Pfarrers und einigen Studenten der Kopenhagener Universität durchkämmt Arne Melchior in den darauffolgenden Tagen mit dem Fahrrad Kopenhagen, um für die jüdischen Familien Unterschlupf zur organisieren:

    "Und immer, wenn ich jemanden fand, dann wussten sie wieder von Personen in ihrer Familie und so sind wir also Tag für Tag in Kopenhagen rumgefahren. Andere in der Gruppe haben arrangiert mit verschiedenen Fischern, dass sie ihre Boote zur Verfügung stellen, um die Tour über den Öresund nach dem neutralen und freien Schweden zu bringen."

    Man hat die Rettung der in Dänemark lebenden Juden vor 70 Jahren "das kleine Licht in der großen Finsternis der Schoah" genannt. Tatsächlich ist ihr Schicksal in einem von den Nationalsozialisten besetzten Land einmalig: Eine große Anzahl Menschen kann gerettet werden, weil es Tausende von Helfern gibt, die ihre Flucht ermöglichen und – ein Land, das sie aufnimmt: Schweden.

    "Die Geschichte der Rettung der dänischen Juden ist nur ein winziger Teil der gewaltigen Geschichte der Schoah. Aber sie erteilt uns eine Lektion. Denn sie erzählt vom Selbsterhaltungstrieb, vom zivilen Ungehorsam und von der Hilfe, die fast ein ganzes Volk leistete, weil es sich empört und zornig gegen die Deportation seiner Landsleute auflehnte. Somit ist es auch die Geschichte einer Gesellschaft, die kein Jota von ihrem Rechts- und Unrechtsempfinden abwich. Und all das, während sie der überlegenen Macht der deutschen Besatzer unterstand",

    schreibt der dänische Historiker, Journalist und Diplomat Bo Lidegaard in seinem neuen Buch "Die Ausnahme – Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen." Die Geschichte dieser "Ausnahme" beginnt im Frühjahr 1940.

    Am 9. April besetzen deutsche Truppen das neutrale Dänemark, ohne auf nennenswerte Gegenwehr zu stoßen. Wohl wegen ihres Verzichts auf Widerstand und ihrer sogenannten "rassischen Qualitäten" wird den Dänen zunächst ein Maß an Autonomie zugestanden, das für ein unter deutscher Besetzung stehendes Land ungewöhnlich ist. Das Land bleibt formell weiterhin souverän. Die Verfassung bleibt in Kraft, König, Regierung und Verwaltung bleiben im Amt.
    Als Vertreter der deutschen Interessen in Dänemark tritt der deutsche Gesandte Werner Best als "Reichsbevollmächtigter" auf, der dem Auswärtigen Amt untersteht. Die Befugnisse der Deutschen im besetzten Dänemark werden zunächst erheblich eingeschränkt. Und was die "Judenfrage" angeht, so erklärt die dänische Regierung sofort, sie werde "bei antisemitischen Maßnahmen nicht kooperieren."

    Natürlich ist die Besetzung für die kleine, selbstbewusste Nation ein Trauma. Der dänische Historiker Aage Trommer:

    "Die Ereignisse des 9. April 1940 wurden als große Demütigung empfunden. Dänemark war am Abend zuvor als neutrales Land zu Bett gegangen, und als die Dänen am nächsten Morgen aufwachten, war, zwischen 4.00 und 6.00 Uhr das gesamte Land besetzt worden."

    Als dann im August 1943 die gewählte dänische Regierung zurücktritt, verlieren die Juden damit ihre Beschützer. Umgehend beschließen die Deutschen die Deportation. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer.

    Es bleibt das Verdienst eines Deutschen, des Schifffahrtssachverständigen Georg Ferdinand Duckwitz, die Rettungsmaschinerie in Gang gesetzt zu haben:

    "Die Warnung kam von Duckwitz. Er war ein Mitarbeiter auf dem Büro in Kopenhagen für maritime Sachen. Man hat von Deutschland ein Schiff nach Kopenhagen geschickt und auf diesem großen Frachtschiff sollten dann die gefangenen dänischen Juden nach Deutschland deportiert werden. Und so kam also ein Bescheid, dass ab dem Tag sollte er dafür sorgen, dass für dieses Boot ein Platz im Hafen war. So war er einer der Ersten in Dänemark, der Bescheid wusste."

    Die Zeit drängt. Es sind nur noch 48 Stunden bis zum Beginn der "Aktion". Sofort nimmt Duckwitz Kontakt zu führenden dänischen Sozialdemokraten auf; die wiederum informieren die jüdische Gemeinde.

    Und jetzt verschwinden innerhalb weniger Stunden rund 7000 Menschen von der Bildfläche. Versteckt werden sie in Kellern und Kirchengewölben, auf Dachböden, in Scheunen und in den Wäldern rings um Kopenhagen. Sie kommen auch in Privatwohnungen, Schulen, Altenheimen und Pfarrhäusern unter. Hanne Kaufmann mit Mutter und Bruder in einem Heim für Behinderte:

    "Wir wurden in zwei Zimmer im Untergeschoss geführt, herrliche Gästezimmer in fröhlichen Farben. Alles war peinlich sauber, und ich erinnere mich, dass ich als Erstes meine Schulbücher aus meiner Tasche nahm und in einem großen Stapel auf den Tisch legte. Ich konnte mir gut vorstellen, hier zu bleiben, weiter zu lernen und auf den Frieden zu warten."

    Ältere jüdische Menschen werden unter falschem Namen in Krankenhäuser eingewiesen, wo sie auf ihren Transport ins rettende Schweden warten.

    Dennoch sind diese Tage voller Angst. Die Sorge um Kranke oder Kleinkinder, die Furcht vor Denunziation in einem besetzten Land und die bange Frage, ob die Flucht nach Schweden gelingt - all das treibt die Juden und ihre Helfer um. Doch während der ganzen Zeit tun sich spontan Fluchtwege über den Sund nach Schweden auf. Fischer riskieren ihr Leben, um jüdische Flüchtlinge zu retten.
    Einige müssen sogar gegen ihren Willen in Sicherheit gebracht werden, wie Arne Melchior, selbst Teilnehmer an einer solchen Rettungsaktion, sich erinnert:

    "Zum Beispiel eine Familie Kohn, die waren von Deutschland erst nach Österreich geflüchtet, dann von Österreich nach Dänemark und jetzt kamen wir also und sagten, dass wir sie später abholen würden. Sie waren bei einer christlichen Familie untergebracht. Die wollten gar nicht mit! Sie haben gesagt, wir sind zweimal geflohen, wir können es nicht fertigbringen; sie waren ältere Leute. Da haben wir ihnen gesagt: ja, aber ihr könnt doch nicht bei dieser Familie hier leben, ihr würdet auch die ins Unglück stürzen. Aber die wollten nicht mit, da wollten sie lieber sterben. Da haben wir in Zusammenarbeit mit der Familie, wo sie untergebracht waren, ein bisschen Schlafpulver in ihr Abendessen gelegt, und so waren sie halb betäubt, und da sind wir um neun am Abend gekommen und haben sie weggeschleppt gegen ihren Willen, aber haben sie doch dadurch retten können. Und viele Jahre später habe ich sie mal in Schweden besucht, und sie waren natürlich froh und dankbar."

    Es ist ein Heer von Unbekannten, das da Menschenleben rettet. Eine spontane Aktion anonymer Helden, denen nachher niemand Dank sagen kann, weil man nicht einmal ihre Namen weiß. Es sind Junge und Alte, Bauern, Handwerker und Fischer, Studenten, Unternehmer, Polizisten, Pfarrer und Schüler, die sich alle in einem einig sind: der grausamen Menschenjagd in ihrem Land nicht tatenlos zusehen zu wollen.
    Die Hilfsbereitschaft völlig unbekannter Menschen erlebt auch Arne Melchior:

    "Für mich ist es vorgekommen – viele Male, dass ich Leute in einem Zug oder auf der Straße oder in der Straßenbahn gebeten und gesagt habe: kannst du mir helfen? Ich muss diesen Brief binnen einer Stunde dort und dort abgeliefert haben und ich hab sehr viel anderes zu tun. Es ist eine Rettungsaktion. Kannst du das übernehmen? Und es ist immer gelungen."

    Für Hanne Kaufmann und ihre Familie geht die längste Nacht ihres Lebens im Morgengrauen des 9. Oktober 1943 auf schwedischem Boden zu Ende.

    "Wir standen mit dem Gesicht zu dem Land, das hinter uns verschwunden war, dem Land mit unseren Freunden, die uns geholfen hatten, dem Land mit den Spuren unseres Schicksals. Plötzlich begann jemand, die dänische Nationalhymne zu singen. Zuerst ganz leise, dann stimmten alle mit ein."

    Buchtipp zur Sendereihe:
    Bo Lidegaard: "Die Ausnahme. Oktober 1943: Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen, Karl Blessing Verlag 2013, 592 Seiten, 24,99 Euro