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Die nachträglichen Erinnerungen des Bras Cubas

Welch ein Schwätzer vor dem Herrn! Abschweifungen, Kommentare, Einlassungen - nichts, zu dem dieser Erzähler nicht auch seinen Teil zu sagen hätte. Mit Bras Cubas hat der 1839 geborene brasilianische Autor Machado de Assis eine Figur geschaffen, die auch aus der Feder der großen ironischen Autoren des 18. Jahrhunderts, eines Lawrence Stern oder Denis Diderot, stammen könnte: Kapriziös und unbeständig, mal nimmt er diesen, mal jenen Erzählfaden auf, um ihn alsbald wieder fallen zu lassen und wieder ganz woanders anzusetzen. Gut 350 Seiten braucht Bras Cubas für seine Lebensbeichte, doch würde er sich nur etwas konzentrieren, käme er mit einem Bruchteil davon aus, könnte er sich auch den Großteil der 160 Kapitel schenken, auf die er seinen Stoff verteilt. Aber diszipliniertes Erzählen, bekennt Cubas ganz offen, ist seine Sache nicht:

Kersten Knipp | 05.06.2003
    Lange Kapitel passen zu schwerfälligen Lesern; wir aber sind kein Publikum für Folio, sondern für Duodez; wenig Text, breiter Rand, elegante Type, Goldschnitt und Vignetten … hauptsächlich Vignetten … Nein, wir wollen das Kapitel nicht zu lang machen.

    Ein schönes Buch also - Rindsledereinband und seidenes Lesezeichen denkt man sich gern hinzu. Und wie freundlich vom Erzähler, gleich im dazu passenden Stil zu schreiben: leicht, bekömmlich, unterhaltsam. So liebte es das brasilianische Lesepublikum des 19. Jahrhunderts, und weil er dies respektierte, schrieb sich Machado de Assis in die Herzen seiner Leser; dass er diesen Geschmack zugleich auch unterwanderte, ihn ironisierte und schließlich der Lächerlichkeit preisgab: diese doppelte Tonlage sicherte ihrem Autor einen Platz ganz oben in der brasilianischen Literaturgeschichte, um ihn im Laufe der Jahre - und der wachsenden Einsicht in seine ausgeklügelte erzählerische Strategie - schließlich ganz an deren Spitze zu setzen.

    Der ironisch-kritische Ton von Assis´ Kunst mag in den Erfahrungen seines Leben begründet sein: Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, in der Kindheit Stotterer und Epileptiker, zudem nicht von weißer, sondern gemischter Hautfarbe – die vorbehaltlos zu akzeptieren sich selbst das vorgeblich so tolerante Brasilien nicht leicht tat -, rang der im Brotberuf im Öffentlichen Dienst tätige Assis seit frühesten Jahren um literarische Anerkennung. Nach mehreren, in eher romantischer Tonlage gehaltenen Romanen veröffentlichte er 1880 die "Nachträglichen Erinnerungen des Bras Cubas", die den Auftakt zur zweiten, stärker ironisch geprägten Schaffensphase des Autors setzten, zu der vor allem die beiden großen Romane Quincas Borba aus dem Jahre 1891 und der acht Jahre später verfasste Dom Casmurro zählen.

    Wichtigstes Kennzeichen dieser Phase ist der konsequente Verzicht auf alles Lokalkolorit, das die brasilianische Literatur bis dahin dominierte. Denn seit der 1822 erlangten Unabhängigkeit wucherte die landestypische Flora und Fauna auch in der Literatur der jungen Nation, besangen die Autoren vor allem den idealisierten Helden der brasilianischen Vergangenheit: den Indianer. Der Dichter José de Alencar verherrlichte ihn in reichlicher kruder Manier.

    Ein portugiesischer Edelmann im Körper eines Wilden.

    Gedacht war diese tropische Szenerie als Ausdruck literarischer Unabhängigkeit, als Abschied von der europäischen Leitkultur, die das Leben der portugiesischen Kolonie über Jahrhunderte beherrscht hatte. Allerdings übersahen die brasilianischen Dichter, dass sie sich mit ihrem Programm nur scheinbar vom europäischen Modell emanzipierten, es tatsächlich aber unter exotischen Vorzeichen weiterführten. Denn der Blick, den sie auf die brasilianische Welt warfen, war ja insgeheim derselbe wie der, mit dem auch die Europäer das fremde Land betrachteten. Ideias fora do lugar, "ortsfremde Ideen", heißen in Brasilien diese kulturellen Importe, die meist nur der Form nach übernommen wurden, ohne den Verhältnissen der jungen Nation aber innerlich zu entsprechen. Die politischen ebenso wie die literarischen Richtungskämpfe ließen sich eben nicht so einfach aus dem europäischen Kontext lösen und auf Brasilien anwenden. Was nach dem Sprung über den Atlantik von ihnen übrig blieb, war meist nur die Form, der eigentliche Inhalt hingegenhatte sich verflüchtigt. Auf eben dieses Problem ging Assis auch theoretisch, in seinem in Brasilien sehr bekannten Essay "Instinto da Nacionalidade", "Nationaler Instinkt", ein. Dort heißt es.

    Es besteht kein Zweifel, dass eine Literatur, vor allem eine gerade erst sich entwickelnde Literatur, sich vor allem von den Bildern nähren muss, die ihre Region ihr schenkt. Aber halten wir unsere Behauptungen nicht so absolut, dass sie am Ende wieder verarmen. Was man vom Schriftsteller vor allem fordern muss, ist eine gewisse Sensibilität, die ihn zum Menschen seiner Zeit und seines Landes macht – und zwar auch dann, wenn er von Dingen schreibt, die von seiner Zeit und seinem Land weit entfernt sind.

    So lautet, kurz und knapp, Machados Kritik am Programm der brasilianischen Romantik. In seinem Roman griff er diese Tendenz in ganz anderer, nämlich sehr ironischer Tonlage, auf. "Ich hielt mich überall an das Äußere, an die Schale, an die Ornamentik", resümiert Bras Cubas etwa seinen Studienaufenthalt im portugiesischen Coimbra. Kaum mehr, gesteht er freimütig, habe er von dort mitgenommen als …

    …drei Zeilen aus Virgil, zwei aus Horaz, dazu ein Dutzend moralische und politische Redewendungen – das waren die kleinen Münzen, dich ich besaß, um die Unkosten eines Gesprächs zu bestreiten.

    Dass es mehr nicht ist: Eben dies macht das Unbehagen Machado de Assis’ nicht nur an seinem Helden, sondern an den Verhältnissen seines Landes überhaupt aus. Zwar hatte Brasilien sich im Mühen um seine Unabhängigkeit auf die Prinzipien des Liberalismus berufen – doch nach innen pflegte es weiter eine feudale Ordnung, die ihren skandalösesten Ausdruck in der erst 1888 abgeschafften Sklaverei fand. Diese kulturellen, politischen und sozialen Missstände seiner Zeit greift Machado de Assis in dem Roman auf – auch wenn er seinen Erzähler ganz Anderes sagen lässt.

    Das hier ist kein Roman, in dem der Verfasser die Wirklichkeit vergoldet und vor Narben und Pickeln die Augen verschließt.

    Eine vergebliche Behauptung. Denn hinter dem entspannten Ton seines Erzählers formulierte Assis eine Kritik der brasilianischen Eliten, die an Schärfe ihresgleichen sucht. Alles ist diesem Sohn aus reichem Hause in die Wiege gelegt, nichts zwingt ihn, sich ernsthaft und kontinuierlich anzustrengen. Welchen Beruf soll er ergreifen, überlegt sich der junge Mann, und manches fällt ihm ein:

    Vielleicht Naturforscher, Schriftsteller, Archäologe, Bankier, Politiker oder sogar Bischof … Wenn es nur ein Amt war, ein hervorragendes, angesehenes, ganz gehobenes Amt.

    Amt und Würden, um nichts Anderes geht es: Bras Cubas, könnte man sagen, lässt den europäischen Bildungsroman ins Leere laufen, wahrt zwar dessen Form, vergisst aber den Inhalt. Eben so, gibt Machado de Assis dem Leser zu verstehen, geht es den europäischen Einflüssen in Brasilien grundsätzlich: Was in Europa kultureller Ausdruck seiner Zeit ist, degradiert unter der Tropensonne zu "ortsfremden Ideen", verkommt zu Zierrat, Fetisch, Trugbild.

    So ist auch der auseinanderfransende Stil des Bras Cubas zuletzt nichts als der formale Ausdruck einer Elite, die sich nur äußerlich modernisiert hatte, in der ökonomisch-politischen Praxis aber weiterhin kolonialen Mustern verpflichtet blieb, kurz: die zwar alle politisch-kulturellen Entwicklungen nur zum Schein mitmacht– tatsächlich aber ganz die alte bleibt, nicht bereit ist, ihre Gedanken auch auf den Inhalt all’ der schönen Formen zu lenken.

    Erst im Jenseits hat Bras Cubas seine Aufzeichnungen in Angriff genommen: "Eine Totenarbeit eben", kommentiert der Erzähler - man könnte auch sagen: das trostlose Resümee eines Jahrhunderts, das voller Hoffnung startete und im Nichts endete. Aller Humor kann dieses bittere Ende zuletzt nicht kaschieren, und fast ist man froh, dass es mit Bras Cubas schon zu Ende ist, bevor das Buch überhaupt begonnen hat. Seine Aufzeichnungen enden darum entsprechend trostlos.

    Ich hatte keine Kinder; ich hinterließ keinem lebenden Wesen die Erbschaft unseres Elends.

    Dies ist sie, die traurige Wahrheit des Bras Cubas. Ein Trost für den Leser, dass er sie auf brillante, äußerst unterhaltsame Weise zu schildern wusste.