Archiv


"Die Nackten kleiden" von Luigi Pirandello

Im Dezember 1936 starb der italienische Dramatiker Luigi Pirandello. Er wurde bekannt mit seinen Farcen und Tragödien. In Paris nimmt man sich seiner nun an mehreren Bühnen an. Denn so lange nach dem Tod eines Autors sind die Rechte frei. Der Regisseur Stéphane Braunschweig griff jetzt für "Die Nackten kleiden" von 1922 zu einer prägnanten Neuübersetzung.

Von Ute Nyssen |
    2006 ist ein Jubliläumsjahr für den 1936 verstorbenen italienischen Dramatiker Luigi Pirandello. Zwar wird der Jubilar Brecht 2006 lauter gefeiert, jedenfalls in Deutschland, aber in der zugespitzten Problematisierung individueller Selbsterfahrung zwischen Farce und Tragödie, kann sich der Dramatiker Pirandello mit Brecht messen.

    Juristisch bedeuten 70 Jahre nach dem Tod eines Autors, dass sein Werk für die Theater tantiemenfrei wird und dass sich die Chance für neue Übersetzungen bietet. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist es kein Zufall, dass in Paris vier große Pirandello Produktionen anstehen.

    Auch der Regisseur Stéphane Braunschweig griff jetzt für "Die Nackten kleiden", Pirandellos faszinierendes Drama von 1922, zu einer prägnanten, der Aktualität dieses Stücks adäquaten Neuübersetzung. Das Théâtre de Gennevilliers, eine der großen Bühnen der Pariser Banlieue war Koproduzent bei dieser Inszenierung des Intendanten des Théâtre National de Strasbourg.

    Dieser Bühne kommt in Frankreich strukturell insofern eine außergewöhnliche Bedeutung zu, als sie neben der Comédie Francaise als einzige mit einem fest angestellten Ensemble arbeiten kann. Die Qualität der Straßburger Schauspieler in allen Rollen sprach für dieses Modell.
    Der Vorhang hebt sich vor einem dunklen Raum mit einem kleinen Schreibmaschinentisch.
    Ein junges Mädchen, Ersilia, betritt die Bühne und sieht mit den Zuschauern den Bühnenarbeitern zu, wie sie das Arbeitszimmer eines Autors aufbauen. Aus dem Schnürboden fallen die Wände herab. Ein glänzender Regieeinfall, um die Fiktionalität des folgenden Geschehens schon räumlich zu vermitteln und dieses im voraus zu dekonstruieren.

    Der Autor des Stücks, eine Figur, die auch in anderen Werken Pirandellos vorkommt, hat Ersilia nach einem Selbstmordversuch von der Straße aufgelesen. Er hofft, mit ihr vielleicht den Roman seines Alters zu erleben. Sie hingegen hat ihren Roman bereits einem Journalisten erzählt, den der Regisseur mit einer Filmkamera auftreten lässt, ein winziger aktualisierender Eingriff, der die mediale Abgegriffenheit dieser Kolportagestory ins Licht setzt. Ersilia, so erfahren wir von zwei weiteren Anwärtern auf ihre Liebe, wurde von dem Marineleutnant Laspiga schmählich verlassen und anschließend als leichte Beute in ihrem Kummer verführt von Konsul Grotti, ihrem Arbeitgeber.

    Seine Gattin erwischte die beiden in flagranti, währenddessen fand die kleine Tochter den Tod und das Kindermädchen Ersilia musste dafür geradestehen. Eine heutige Fortschreibung der Pirandelloschen Mittel erlaubt sich Stephane Braunschweig durch kurze filmische Einblendungen von Ersilias quälenden Erinnerungen, sie wirken wie schwarz-weiß verwackelte Photos von Gerhard Richter. Pirandello und seine Figur Ersilia kratzen von diesem Melodram Schicht für Schicht ab.

    Nichts stimmt.

    Alle Figuren versuchen vergeblich, ihre Blöße, ihre "Nacktheit" mit Illusionen zu bedecken und der Regisseur findet hierfür theatralisch überzeugende, teils sehr komische Umsetzungen. So läßt er beispielsweise den Marineleutnant, der sich unbeirrbar mit seiner Reue schmücken will, plötzlich einen Kopfstand machen, auf den Tisch springen oder zu einem unangebrachten Lachen greifen.

    Die Figur eines Dienstmädchens nutzt Braunschweig zu einer marionettenhaften Imitation Ersilias wie in einem Zerrspiegel. Aber Ersilia fungiert auch als Auslöser einer tiefen Krise der männlichen Figuren und sie selbst, die sich eher gleichgültig auf der Straße verkaufte, erkennt dass sie sich nicht auf ihre Rolle als Opfer berufen kann und wählt von neuem den Freitod.

    Es gibt kein Wertesystem von Liebe und Barmherzigkeit, das sich nicht als Illusion und groteske Vermarktung entpuppte. Die Figuren Pirandellos erfahren, wie sie sich selbst ständig entgleiten, erleben sich als bedeutungslos und eben dieses Eingeständnis ihrer Leere macht sie für uns heute so schillernd interessant. Stéphane Braunschweig, mit einem letzten ironischen Schlenker, lässt die tote Ersilia auf der Bühne liegen und zugleich filmisch auf einem Koffer in den Himmel entschweben.