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Die Namen der Dinge. Das Erlebnis der ägyptischen Wüste

Die französischen Psychoanalytiker, die vor Jahren, in der Folge Jacques Lacans, eine wörtliche Lektüre und Analyse von Texten forderten, hätten ihre wahre Freude an Susan Brind Morrows Aufzeichnungen, Impressionen und Skizzen über "Die Namen der Dinge" gehabt: Jede Beobachtung und jedes Buch ist für die Autorin Anlaß einer poetischen Philologie: Sieht sie eine Krabbe, die Kratzer im Sand macht, fällt ihr auf, daß der Name des Tieres ist, was es tut:

Hans Jürgen Heinrichs |
    "Der Name gebiert andere, ähnliche Bedeutungen, die zu anderen Dingen gehören und das Tier hinter sich lassen: grapho (griechisch - ritzen, und also schreiben), gramma (die Kerben), graphisch, Grammatik, greifen."

    Liest die Autorin Platon, schaut sie jedes Wort nach und schreibt es auf Und da sie am liebsten allein ist, ihre forschende Neugier keine Grenzen kennt und sie gerne zeichnet, entziffert sie Hieroglyphen, heilige Wörter, wunderbare Zeichen der Phantasie und doch erstaunlich konkret. Wenn sie Wörter nachschlägt und fremde Zeichen dechiffriert, hat sie das Gefühl, die "Knochen der Sprache" zu betrachten, etwas Taktiles, wie die "Kräuselung des Wassers im Wind oder die Gänsehaut aus Furcht". Das Versmaß eines griechischen Gedichts und das Geräusch der Vögel bilden in ihrer Wahrnehmung eine Einheit. Wörter transportieren über die Jahrtausende hinweg das Lebendige der Natur, sind Träger verborgener, vielleicht längst verlorengegangener Schichten des individuellen und kollektiven Lebens und Denkens:

    "In den alten ägyptischen Texten konnte etwas gleichzeitig auf vielerlei Art dargestellt werden, und alle Erscheinungen waren gleich wahr. Der König wird im Schilffeld gereinigt (die Sterne des Ostens in der Morgendämmeru). Der König steigt auf einer Leiter zum Himmel. Der König wird zu einem Goldfalken mit Smaragdschwingen, dessen Herz aus der Östlichen Wüste stammt."

    Mit leichter Hand, ganz unmerklich, spielerisch, in fließenden Übergängen verknüpft die schottische, in Kanada lebende Sprach- und Altertumswissenschaftlerin die Nacherzählung ihrer Autoblographie mit philologischen und archäologischen Beschreibungen und Skizzen. Sie nennt den Namen einen "Spiegel, um die Seele einer Sache einzufangen" und ein Wortspiel erscheint ihr als "ein Eckchen ihres Gewandes". Bevor sie in die ägyptische Wüste aufbricht, um dort nach Überbleibseln früheren Lebens zu suchen, um in alten Lehmmauern, Knochensplittern und Steinen bedeutungsvolle Zeichen der Natur und Kultur auszumachen, besitzt sie schon einen Fächer aus ägyptischen Straußenfedern. Sie breitet ihn über ihr Gesicht aus und atmet den Duft ein. Ein Fetisch und ein vager Wegweiser des Begehrens, vergleichbar der überwältigenden "Imago einer Tierhaut", von der Bruce Chatwin sprach und die ihn nach Patagonien geführt hatte; vergleichbar dem Lied eines Pygmäenstammes, das der Ethnologe Louis Sarno eines Tages hörte, das von ihm Besitz ergriff und das ihn nach Afrika lockte. Bei Morrow erhalten der Fächer und ein See - dessen dunkelblaue Streifen zum Maßstab der Orientierung in ihrer Welt werden - oder ein bestimmtes Buch (z.B. von Platon oder die "leinengebundenen Tarzanbücher", die einen "feuchtmodrigen Geruch" ausströmten), eine Bedeutung, die nichts mehr mein hat mit der bloßen Materialität. Sie werden zu etwas Sakralem.

    Morrows Buch ist eine erzählte Ästhetik des Diversen: angesiedelt in der 'Natur der Tiere, der Pflanzen und Farben, des Sandes und der Steine, des Lichtes und des Himmels. Alles, was die Autorin wahrnimmt, erscheint ihr bedeutungsvoll, und sie verknüpft es mit ihrem Wissen: sei es irgendein Gegenstand, den sie entdeckt und zu bestimmen versucht, der Name eines Dings oder einer Person oder eines Vogels (z.B. des Kranichs, dessen Name "Widerhall seines Rufes" sei) oder eines Dorfes, das übersetzt "das Auge", "die Quelle" heißt; oder der Name Sudan, al-bilad aswadin, paradoxerweise das "Land der Schwarzen", obwohl der Sudan ein "einziger Protest gegen jede Vorstellung von Rasse" ist. Susan Brind Morrow muß lernen, daß Zuflucht (z.B. eine Schattenlinie, die Kühle des Wassers oder die Dunkelheit) bloß etwas Vorübergehendes ist:

    "Während ich dabei war, dies zu lernen, in der Hitze und der Erschöpfung und der herben Ungeschütztheit des Sandes, des Felsens und des Windes, verlor sich mein Widerstand. Ich erhoffte mir von diesen Dingen keinen Schutz mehr. Ich ging barfuß durch den Sand und tauchte in eine Düne, spürte mich eingehüllt in ihre Wärme. Käfer in leuchtenden Farben brachen wie Edelsteine hervor, amethystgrün, karneolrot und golden."

    Der Untertitel des Buches "Das Erlebnis der ägyptischen Wüste" mutet etwas seltsam an; denn trotz der Bedeutung, die die Autorin diesem Erlebnis beimißt, gibt sie ihren Erfahrungen in Kairo, am Roten Meer und im Sudan nicht weniger Raum. Und es sind gerade diese Reisen, z.B. in den Süden des Sudan, die besonders intensiv geschildert werden - allerdings auch zuweilen bis an die Grenze der verbrauchten Abenteuergeschichten, der ausgemalten Anekdoten, wie wir sie bis zum Überdruß kennen und die schon zu Anfang dieses Jahrhunderts von Victor Segalen als überholter "Exotismus ä la Pierre Loti" bezeichnet wurden. "Die banalen Dinge, wie Palmen und Kamele nachdrücklich ausklammern", hatte Segalen empfohlen. Und: man solle gleich auf den eigentlichen Reiz zu sprechen kommen.

    Die Unbequemlichkeiten des Reisens und immer wieder das Erstaunen über die Fähigkeit der Afrikaner und Asiaten, unter den unmöglichsten Bedingungen sich seelenruhig ihrem Schicksal hinzugeben, in einem bereits völlig überfüllten Abteil noch einen Platz zu finden und sich damit zufrieden zu geben - man kennt dies von all den Schilderungen der großen Reisenden des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie liegen noch zu sehr im Vorfeld einer neuen Ästhetik und Poesie. Es gebe vielleicht vom Reisenden zu dem hin, was er sieht, einen Rückstoß, der das Gesehene erschüttere, hatte Segalen notiert und vorgeschlagen, diese "Gegeneindrücke", die Reaktion des Milieus auf den Reisenden, zu beschreiben. Bei Morrow finden sich Ansätze einer solchen Poetik, die sie vom Standpunkt des autoblographischen Schreibens her entfaltet.

    Erstaunlich dabei ist daß die Lektüre in diesem Fall weder davon abhängig ist, daß der Autor ein großes Werk vorzuweisen hat, noch daß er irgendeine bedeutende oder gar skandalträchtige Rolle in der Gesellschaft und Kultur spielt. Das autobiographische Erzählen ist bei Morrow - wie auch auf vergleichbare Weise bei den Ethnologen Nigel Barley und Clifford Geertz - eine dichte Beschreibung all der individuellen Wege und Irrwege, die schließlich zu dem führen, was man dann geneigt ist, als Erkenntnis oder als Poesie zu bezeichnen. Die emotionalen Bewegungen, von denen Morrows Buch geprägt ist, von denen es lebt, werden besonders da zugespitzt, wo die Autonin beschreibt, wie sich in Ägypten ihre Rolle als Frau auflöste und in mehreren Hinsichten neu bestimmt wurde:

    "In Ägypten wurde ich zum Mann. Für diesen Zustand gab es bereits eine Darstellungsform: den Mann ehrenhalber, als der in der muslimischen Gesellschaft die Ausländerin figuriert. ... Ich hatte gelernt, wie ich mich rasch in diese Position eines Mannes ehrenhalber versetzen konnte, nämlich mit Hilfe eines Stromes gutturaler arabischer Worte; alles erwartete man von einer jungen Amerikanerin eher als dies. ... Und ich fing zum ersten Mal seit Wochen an, Englisch zu reden. ... Mit der Stimme gewann ich meine alte Identität zurück. Ich war wieder eine Frau."