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"Die NATO kann nicht als Weltpolizist eingesetzt werden"

Bundeswehr-General a.D. Harald Kujat relativiert den amerikanischen Vorschlag, die NATO könne künftig als eine Art Weltpolizei eingesetzt werden. Zwar gebe es keine Konkurrenz zur NATO, so Kujat. Doch sie habe begrenzte militärische Fähigkeiten - zudem wäre jeder Einsatz mit allen 28 Mitgliedern abzustimmen.

General a.D. Harald Kujat im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Die Staats- und Regierungschefs der NATO müssen bei ihrem Gipfeltreffen heute und morgen eine lange Themenliste erarbeiten. Eine neue Strategie muss her, was passiert mit dem Problemfall Afghanistan, was passiert mit dem Problemfall Russland, es geht um die NATO-Erweiterung, wie viele Staaten dürfen und sollen noch beitreten, und wer wird künftiger Generalsekretär.

    1949 ist das "Nordatlantische Verteidigungsbündnis" gegründet worden, pünktlich zum Auftakt des Kalten Krieges. 1955 tritt die Bundesrepublik bei. Viele weitere Mitglieder folgen. Inzwischen sind es 28, mit den Neulingen Albanien und Kroatien.
    Darüber sprechen wollen wir nun mit General a.D. Harald Kujat, viele Jahre Chef des NATO-Militärausschusses. Guten Tag!

    Harald Kujat: Ich grüße Sie, Herr Müller.

    Müller: Herr Kujat, stimmt das wirklich, dass die NATO noch wichtig ist?

    Kujat: Ja, das stimmt schon. Das stimmt deshalb, weil es nach wie vor Herausforderungen, Risiken für unsere Sicherheit gibt, und die NATO ist die am besten geeignete Versicherung gegen diese Risiken.

    Müller: Für alle, die beteiligt sind?

    Kujat: Für alle, die beteiligt sind.

    Müller: Und sie ist das beste globale Bündnis im Moment?

    Kujat: Nun, sie ist zumindest das mächtigste globale Bündnis im Moment. Es gibt keine Konkurrenz zur NATO. Die NATO ist nicht nur ein Relikt sozusagen des Kalten Krieges, sondern sie hat sich erheblich gewandelt. Sie hat neue Aufgaben übernommen und damit hat sie nachgewiesen auch, dass Bedarf für eine solche Organisation besteht.

    Müller: Dann könnte die NATO doch in der Funktion eines Weltpolizisten agieren, so wie Washington das fordert?

    Kujat: Nein, die NATO kann nicht als Weltpolizist eingesetzt werden. Die Einsätze der NATO – das muss man deutlich sagen – unterliegen keinen geographischen Beschränkungen. Das ist wohl richtig. Aber die Grenzen werden gezogen: einmal durch den politischen Willen der Mitgliedsstaaten und zweitens durch die militärischen Fähigkeiten der Mitgliedsländer. Beides ist nicht geeignet, die NATO zu einem Weltpolizisten zu machen.

    Müller: Das habe ich nicht ganz verstanden. Sie sagen, sie ist das mächtigste Bündnis, das am besten organisierte, mit den meisten Mitgliedern, hoch effektiv. Auch finanziell ist man ja in der Lage, viele, viele Dinge umzusetzen. Man ist auch weltweit in dem Sinne ja schon aktiv. Warum soll das nicht funktionieren?

    Kujat: Nein, es liegt einfach daran: Ich sagte ja, entscheidend ist der politische Wille der Mitgliedsstaaten. Sie wissen: Eines der tragenden Prinzipien der Allianz ist das Konsensprinzip. Sie müssten also für eine globale Intervention alle NATO-Staaten dazu bringen, dem zuzustimmen. Das ist die eine Seite. Das wird schwierig werden. Und das Zweite ist: Die Begrenzung liegt in den militärischen Fähigkeiten der Allianz. Die Vereinigten Staaten sind das einzige Land, das über eine weltweite Fähigkeit zur Machtprojektion verfügt. Bei allen anderen Staaten sind die militärischen Fähigkeiten nicht so weit entwickelt. Im Gegenteil: Es ist eher so, dass viele Staaten die so genannte Friedensdividende in Anspruch genommen haben nach dem Ende des Kalten Krieges und den Transformationsprozess, der eben zu neuen Fähigkeiten führen sollte, ist noch nicht weit gediehen.

    Müller: Also Sie trennen, Herr Kujat, immer noch Washington, wenn es um die militärische Komponente geht, und die NATO?

    Kujat: Das tue ich, eindeutig!

    Müller: Warum?

    Kujat: Weil die Vereinigten Staaten die einzig verbliebene Weltmacht mit weltweiter Fähigkeit zur Machtprojektion geblieben sind. Russland ist es nicht mehr. Russland ist zwar eine nuklearstrategische Supermacht, aber keine Weltmacht in dem Sinne mehr. Und die anderen Staaten in der Allianz verfügen nicht über diese Fähigkeiten. Das gibt den Vereinigten Staaten eine Sonderrolle.
    Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, die Vereinigten Staaten sollten eine Führungsrolle in der Allianz wahrnehmen. Das ist sicherlich nicht so, das ist nicht richtig, weil alle Staaten souverän und gleich in ihren politischen Möglichkeiten sind. Aber aufgrund der militärischen Fähigkeiten spielen die Vereinigten Staaten eine Sonderrolle im Vergleich zu anderen und diese Sonderrolle drückt sich auch im Engagement der Vereinigten Staaten weltweit aus, das eben ein völlig anderes ist als das der Allianz.

    Müller: Nun könnte man umgekehrt formulieren, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kujat, die Interessen Washingtons sind nicht die Interessen der NATO?

    Kujat: Nein, das ist völlig richtig. Die Allianz besteht nun inzwischen aus 28 Mitgliedsstaaten. Diese 28 Mitgliedsstaaten verfolgen natürlich eine nationale Sicherheitspolitik, so auch die Vereinigten Staaten, und die Allianz bildet die Plattform, auf der diese 28 Sicherheitspolitiken harmonisiert werden – zum Beispiel in dem strategischen Konzept, das ja überarbeitet werden soll -, und es gilt natürlich, hier ein Höchstmaß an Gemeinsamkeiten zu erzielen. Gleichwohl müssen sich alle diese Staaten in dieser sicherheitspolitischen Plattform wiederfinden und gleichwohl verfolgen sie natürlich primär nationale sicherheitspolitische Ziele, so auch die Vereinigten Staaten.

    Müller: Zeigt Afghanistan eindeutig die Grenzen des Bündnisses?

    Kujat: Afghanistan zeigt in der Tat die Grenzen auf. Afghanistan macht deutlich, was eigentlich viele auch schon seit langem wissen, dass allein mit militärischen Mitteln ein Land dieser Größe und in dieser Konstruktion nicht zu befrieden ist, sondern dass hier militärische und zivile Maßnahmen, wirtschaftliche Maßnahmen, Maßnahmen des Wiederaufbaus zusammenkommen müssen, und zwar nicht in Addition, nicht in einer simplen Vernetzung, sondern in einer Weise, dass die Synergie erzeugt wird, die notwendig ist, aus all diesen zivilen und militärischen Maßnahmen. Das ist der entscheidende Punkt. Die Allianz ist zwar in der Lage, eine solche Strategie zu entwickeln, aber die Allianz verfügt eben nicht über die zivilen Mittel, um einen Wiederaufbau, wie er benötigt wird und wie ihn erst eine Gesamtstrategie ergibt, umzusetzen.

    Müller: Herr Kujat, könnte man denn zum jetzigen Zeitpunkt sagen, die Allianz versagt in Afghanistan?

    Kujat: Nein, die Allianz versagt nicht in Afghanistan, sondern die Allianz muss eine Gesamtstrategie entwickeln. Sie muss vor allen Dingen andere Partner mit hinzuziehen, die über ergänzende Fähigkeiten verfügen, beispielsweise die Europäische Union oder auch die Vereinten Nationen. Die Allianz kann im Übrigen auch – das möchte ich einmal deutlich sagen – militärisch nicht versagen.

    Müller: Aber sie ist jetzt seit sieben Jahren schon vor Ort!

    Kujat: Ja. Sie kann zivil, sie kann wirtschaftlich, sie kann politisch versagen. Das kann sie.

    Müller: Also mehr auf Berlin hören als auf Washington?

    Kujat: Das würde ich so nicht sagen. Ich denke, dass der neue amerikanische Ansatz völlig richtig ist. Es geht nicht um ein "entweder oder" - entweder zivil oder militärisch -, sondern es geht um ein "sowohl als auch", um eine Ergänzung im Sinne einer Synergie.

    Müller: Und wenn die Allianz in Zukunft noch größer werden sollte, auch die Streitpunkte Ukraine, Georgien, dann bereitet Ihnen das ganze Gegenteil keine Sorgen?

    Kujat: Doch, es bereitet mir große Sorgen. Ich bin der Meinung, dass die Erweiterungspolitik auch Grenzen haben muss. Auch das wird ja ein Punkt sein, der hier auf dem Gipfel zu diskutieren ist. Die Erweiterungspolitik verlangt von beiden Seiten, sowohl von den neuen Mitgliedsstaaten, den potenziellen Mitgliedsstaaten, als auch von der Allianz Veränderungen. Diese Veränderungen bedeuten auch Verpflichtungen für beide Seiten. Deshalb sehe ich auf lange Zeit keine Chance für Georgien und für die Ukraine, Mitglied der Allianz zu werden.
    Im Übrigen halte ich es auch für notwendig, nicht die Erweiterungspolitik grundsätzlich in Frage zu stellen. Das ist ein Kernelement des Washingtoner Vertrages. Aber die Durchführung, wie stimmt die Erweiterung mit den Interessen der Mitgliedsstaaten überein, und stimmt sie auch überein mit den Interessen potenzieller Mitgliedsstaaten, dieses ist sehr, sehr sorgfältig zu untersuchen. Man muss vorsichtig sein. Man darf die Allianz auch nicht so weit erweitern, dass die Bandbreite der nationalen Sicherheitspolitik und nationalen Interessen so groß wird, dass keine Einigkeit mehr erzielt werden kann.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Harald Kujat, Ex-NATO-General. Vielen Dank für das Gespräch.

    Kujat: Danke Ihnen!