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Die natürliche Ordnung der Dinge

Wenn die Menschen sich an alles erinnern könnten, was in ihrem Leben geschehen ist, wenn sich alle enttäuschten Hoffnungen, widerlegten Einsichten, erkälteten Gefühle eines individuellen Lebens unauslöschlich und in allen Einzelheiten dem Bewußtsein eingraben könnten, das Menschengeschlecht wäre längst von diesem geschundenen Planeten verschwunden. Allein das Vergessen macht das Leben lebbar, nur die Unschärfe des Gedächtnisses verbirgt gnädig die Barbarei des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Müdigkeit des Alters ist ein Symptom, daß das Vergessenkönnen nachläßt, daß die Tabula rasa im Kopf nicht immer von neuem hergestellt werden kann, das Gewicht des Erfahrenen nicht mehr abgeschüttelt. Und so gleiten die Alten erschöpft in ihre Gräber und machen den Platz frei für die Jungen mit ihrer Illusion des Neuanfangs im unendlichen Karussell der Generationen.

Stefan Fuchs |
    "Sie rissen mein Haus in der Calcada do Toial ab, auf dessen Dachboden ich den ganzen Sommer lang wohne, gegenüber von Monsanto schreibe ich dieses Buch, das jemand für mich beenden wird, und lege die Platten auf dem Trichtergrammophon auf, und die, die mich besuchen, gehören zur gleichen Rasse der Heimatlosen, Ausländerinnen in einem fremden Land, das dennoch ihres ist. Und mein Neffe wartet, die Aktentasche auf den Knien, daß es Nacht wird, um nach Hause zu gehen, so wie ich auf den Tag warte, um in den Tod zu gehen, und mit mir werden die Personen dieses Buches sterben, das man einen Roman nennen wird, den ich in meinem von einer Angst, über die ich nicht rede, bevölkerten Kopf geschrieben habe und den, der natürlichen Ordnung der Dinge entsprechend, jemand in irgendeinem Jahr für mich noch einmal schreiben wird, so wie Benfica sich in diesen Straßen und Gebäuden ohne Schicksal wiederholen wird, und ich werde, ohne Falten und ohne graue Haare, wieder den Gartenschlauch nehmen und nachmittags meinen Garten gießen."

    Gegen die "natürliche Ordnung der Dinge", gegen das Vergessen, das die Menschen mit dem Leben versöhnt, stemmt sie sich, die Recherche des portugiesischen Autors António Lobo Antunes. Und leistet dem rasenden Abbruchunternehmen der Moderne zugleich auf eine ausgesprochen unportugiesische Weise Widerstand. Antunes versagt sich der "Saudade", dem schmerzlich verklärten Blick in eine verlorene Kindheit, in ein entschwundenes goldenes Zeitalter, weil "Saudade" so viel Vergessen voraussetzt. Seit er vor gut zwei Jahrzehnten unter dem Schock des blutigen portugiesischen Kolonialkrieges zu schreiben begann, versucht Antunes eine literarische Rekonstruktion des Vergangenen, die in der Gegenwart auch noch die letzte Spur sentimentaler Hoffnung auslöscht. Zeit demaskiert er als mythischen Wiederholungszwang, geheimnisvoll nur in der Repetition des immer gleichen Leids. Seine Romane vermitteln ihrem Leser so etwas wie die Erfahrung eines auf 300 Seiten beschleunigt ablaufenden Alterungsprozesses, an dessen Ende der Tod als letztes Glücksversprechen steht. Sein Erstling hieß "Memória de Elefante" - >>Elefantengedächtnis<< - und war so etwas wie ein ästhetisches Programm. Sein zweites Buch>>Der Judaskuß << thematisierte den Kolonialkrieg, den die Salazar-Diktatur in den sechziger Jahren in Angola und Mocambique führte und ist in Portugal zu einer Art Kultbuch geworden. Inzwischen umfasst sein erzählerisches Werk zehn Romane, von denen jetzt vier in außerordentlich gelungenen deutschen Übersetzungen vorliegen. Zusammen mit José Saramago und José Cardoso Pires gehört er zur strahlenden Pléiade der portugiesischen Gegenwartsliteratur, die mit Agustina Bessa Luis und Lidia Jorge auch Autorinnen von Rang aufzuweisen hat.

    "Die natürliche Ordnung der Dinge" ist Antunes' vorletzter Roman. Von Mal zu Mal ist es ihm gelungen, die Schraube weiterzudrehen, den literarischen Manierismus zu verschärfen, durch den in seinen Texte jene unerträgliche Schwere des Seins entsteht, die den Leser zu einem Methusalem werden lassen, auf dem die Vergangenheitsruinen ganzer Generationen lasten. Antunes zerfetzt die glatte Oberfläche des Gegenwärtigen durch die Fragmente des Vergangenen, Zukünftigen: traumatische Erfahrungen, obsessive Bilder, Sehnsüchte, enttäuschte Hoffnungen erzeugen ein Zeitgefühl, in dem es kein Vorher und Nachher und vom Ermüdungs- und Alterungsprozess abgesehen keine Entwicklung gibt. Jeweils gegen Ende der einzelnen Kapitel beschleunigt Antunes den Rhythmus seiner Montagetechnik, läßt die Perspektive in jedem Halbsatz umkippen, setzt ein disparates Erinnerungsstück, ein Zukunftsfragment gegen das andere, balanciert im beschleunigten Bewußtseinsstrom seine Prosa hart an der Grenze zur Lyrik.

    "Monsanto so grün, die Wellensittichvoliere, mein Bruder Fernando spielt im Küchenhof, der Glatzkopf, Alice, der Inder mit dem Kropf, der Arzt, der Dicke, der andere, der Wasserhahn von Caxias, keine Möven, die Reitgerten von heute sind ein Witz, Amália, sie trennen keine Ohren ab, ein großes Haus in Santo Tirso im Regen, fünfhundertmal an die Wandtafel, streck deine Hand aus, Valadas, die Republikaner klettern den Hang hinauf, der Rabe über den Korkeichen, heimliche Zigaretten, kleine Porzellanclowns, wenn ich dich geheiratet hätte, Amália, wäre ich dann glücklich?"

    "Die natürliche Ordnung der Dinge" ist Teil eines Romanzyklus, der um den Lissaboner Stadtteil Benfica kreist. Einst ein idyllisch von Landgütern umgebener Vorort der portugiesischen Hauptstadt, heute eines jener anonymen Neubauviertel voller Arztpraxen und Friseursalons, wie sie inzwischen auch das vergangenheitsverliebte Lissabon kennzeichnen. Benfica ist der Ort der Kindheit von Antunes, hier stand das weitläufige Haus seiner Eltern, erfuhr er selbst den moralischen Bankrott der sogenannten guten Gesellschaft Portugals. Und auch dieser Roman ruft wieder die Motive jener Großbourgeosie auf, die das Land bis zur Nelkenrevolution prägte, führt zurück in die Fünfziger Jahre, in die Zeit der Salazar-Diktatur, mit ihren Verhaftungen und Folterungen, mit ihrem grotesken Männlichkeitskult und ihrer bigotten Moral: impotente Patriarchen, die ihre unehelichen Töchter, auf Lebenszeit in eine Dachkammer verbannen, verstoßene Enkel, Söhne, die sich sozial deklassieren anstatt die Familientradition weiterzuführen, verführte Dienstmädchen, die von gescheiterten Putschisten sitzengelassen werden. Das ganze Personal des bürgerlichen Romans, das heute eine Etage tiefer die Fernsehwirklichkeit der Telenovelas bevölkert: Antunes bringt es in eine kunstvoll arrangierte Komposition von Gegen- und Parallelstimmen, erweitert die Motive, führt andere soziale Schichten und andere Stadtviertel Lissabons ein: das ärmliche Alcántara beispielsweise - unten am Hafen über dem das Dröhnen der Tejo-Brücke zu hören ist, mit seinen Reihenhäusern und trostlosen Vorgärten, den lärmenden Bahnhof Santa Apolónia am Fuße der Altstadt, von wo die Gastarbeiter ihre Reise ins reichere Europa antreten, die Elendsviertel in Vale do Jamor und am Strand von Caparica randvoll mit den Versprengten aus dem verlorenen portugiesischen Kolonialreich.

    "Das schlimme an Lissabon ist, daß man in jedem Stadtviertel über den Fluß stolpert, wie über einen vergessenen Gegenstand, den Tejo und seine nächtlichen Lichter, die meinen Augen weh taten, wenn ich, in Begleitung des Mannes mit dem Schnurrbärtchen und noch zwei oder drei Kollegen, im Morgengrauen loszog, um in Häuserblöcken, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte, Kommunisten festzunehmen, Türen eintrat, bis zu einer Matratze im Dunkeln purzelte, von der eine verschreckte Gestalt aufzustehen versuchte. Ob es nun im Campo de Ourique war oder in der Graca, der Tejo war immer da mit seinen Sümpfen, seinen Schiffen, seinen Sturmschwalben und der Geometrie der Masten, atmete bis über die letzte beinahe durchscheinende Häuserreihe hinweg.

    Lissabon ist eine versunkene Stadt, das Wasser schließt sich über unseren Köpfen, die Wolken sind nichts weiter als schwimmende Algenbänke, die Schneiderpuppen sind meerjungfrauen ohne Köpfe in Uniformen aus Trevira oder Cheviot und an den Stellen mit Kreide unterstrichen, wo Steifleinen hingehört."

    Der ehemalige Agent der geheimen Staatspolizei PIDE, den die Nelkenrevolution arbeitslos gemacht und in einen ärmlichen Bretterverschlag verbannt hat, die diabetische Achzehnjährige, die sich auf der Schultoilette Insulin spritzt und ihr Bett mit einem Mann teilt, der ihr Onkel sein könnte, der Minenarbeiter, der aus Afrika zurückgekehrt, den Boden seiner Wohnung, die Straßen Lissabons mit der Spitzhacke aufschlägt, weil ihn das Totenreich der südafrikanischen Goldminen nicht losläßt: Monaden, Einzelstimmen, die sich kontrapunktisch voneinanderabstoßen, verzahnen, schließlich zu jenem Wahnsinn zusammenfügen, der für Antunes die "natürliche Ordnung der Dinge" ausmacht.

    Als Chirurg ausgebildet, war Antunes Chefarzt am Lissabonner psychatrischen Krankenhaus Miguel Bombarda bevor das Schreiben eine regelmäßige ärztliche Praxis nicht mehr zuließ. Die besondere Beziehung zum Körperlichen schlägt sich in seinen Texten in einer Flut von Krankheitsbildern und Metaphern aus der Pathologie nieder. Und auch die fließenden Übergänge zur Geisteskrankheit zeichnet Antunes immer wieder als Vexierbild, in dem das absolute Durchgeknalltsein und der ganz normale Wahnsinn nicht mehr auseinanderzuhalten sind:

    "während Lissabon sich in den Tejo erbrach, ließen sich die Vögel auf dem Müll, dem Bauschutt, den Essensresten und den Eingeweiden toter Tiere nieder, vielleicht schlucken die Vögel den Ruf der Lokomotiven und die Traurigkeit der Vorhänge und der Stehlampe mit den Rüschen im Wohnzimmer und meinen Wunsch zu weinen, verschlucken sie unsere Stimmen und die Erinnerung an uns,

    und meine Eltern trieben meinen Onkel in ein Arbeiterrestaurant oberhalb des Strandes, in dem ein Radio brüllte und mein Onkel der die Speisekarte nicht sehen wollte, erklärte dem Kellner mit der Schürze,

    - Ich ernähre mich nur von Heuschrecken und Waldhonig, mein Sohn, und mein Vater, kurz davor, auf dem Boden niederzuknien,

    - Tu mir den Gefallen, Artur, schluck die Medizin,

    und eine Frauenstimme im Radio leierte Nachrichten herunter, und in der Küche streckte sich, den Rücken in Krummsäbeilorm, ein Straßenköter

    und mein Onkel,

    - Heuschrecken und Waldhonig wie mein Schüler Johannes der Täufer, der dich in den Wassern des Jordan von Sünden reinwusch."

    Dabei ist die Distanz zu irgendeiner Spielart des psychologischen Realismus unüberbrückbar. Perspektivische Darstellung ist für Antunes mehr als nur eine Erzähltechnik, sie ist die existentielle Voraussetzung seines Schreibens, deshalb konnte er sie nie ablegen, nur immer weiterentwickeln, radikalisieren. Das atemlose Kaleidoskop individueller Schicksale und Zeitepochen zerreißt schließlich den Schleier des Individuellen selbst. Intelligente und Arme im Geiste, gesellschaftlich Deklassierte und Herrschende, Folterer und Opfer, ganz Alte und Blutjunge, die Erinnerungsmaschine des Romans läßt die Unterschiede beiläufig werden. Wie Fluß und Meer die unveränderliche Kulisse für das Auf-und Ab der hügelreichen Stadt Lissabon bilden, bestimmt das stereotype Wechselspiel von Hoffnung und Tod, Liebe und Gewalt die natürliche Ordnung der Dinge. Unter zuweilen rätselhaft verschlüsselten Kapitelüberschriften kommen die einzelnen Bewußtseinsströme in immer der gleichen Sprachgestalt daher. Am Ende geben sie sich als Produkt der Vorstellungskraft einer alten, sterbenden Frau zu erkennen. Sie hat ihre verwaiste Familienvilla verlassen und beobachtet aus der Enge ihrer Neubauwohnung wie das Viertel um sie stirbt. In ihrem Kopf wächst das Gespinst des vielstimmigen Schreckens, der Roman des António Lobo Antunes, wie jener Krebstumor, der sie schließlich tötet:

    "Wir sind riesige Bäume, wir sind schwer zu fällen, wir sind die letzten Bäume dieses Viertels ohne Bäume, die des Waldes einmal ausgenommen, die wie durch ein Wunder der grundlosen Raserei der Bauunternehmer standhalten, als sie um uns eine Gegenwart ohne Vergangenheit hochzogen, eine Art Zukunft, in der allein die Wasserhähne ein Recht auf Tränen haben,

    wir sind riesige Bäume, wir sind Bäume, doch wo, erklär es mir, ist der Raum für die Wurzeln, wenn sie uns doch die Erde mit Teer, Holz und Auslegeware überzogen haben, wo sie sogar den Boden des Friedhofs mit Platten belegt haben und für meinen Körper, obwohl er jetzt mager ist, nur noch ein Schatten, der nicht nachgibt und sich wehrt, nicht mal zwei Handbreit Gras übrigbleiben und diese Wohnung immer kleiner wird und schließlich genau die Größe meines Schreckens hat."

    O-Ton Antunes

    antunes.ram