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Die neue Bildungsarmut

Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht, aber dass dieses Menschenrecht auch in Deutschland keineswegs für jeden in gleichem Maße garantiert sei, das behauptete der UN-Sondergesandte Vernor Munoz in einem Bericht, der im März dieses Jahres für Schlagzeilen sorgte. Munoz war nicht der einzige, der Deutschland auf dem Berliner Weltlehrerkongress ein schlechtes Zeugnis in Sachen Bildungsgerechtigkeit ausstellte.

Von Andrea Lueg |
    " Mein Eindruck ist, dass einige Menschenrechtsfragen hier nicht als Menschenrechtsfragen angesehen werden. Menschenrechte werden mit Darfur in Verbindung gebracht, mit Gewalt und Tod in anderen Ländern, aber nicht mit Deutschland "

    Es wäre eine gute Idee, meint Munoz, die Frage von Menschenrechten in Deutschland nicht zurückzuweisen, sondern eine andere Art und Weise zu entwickeln, die Realität aus dem Blickwinkel der Menschenrechte zu betrachten. Die Realität im deutschen Bildungssystem fasst Jutta Allmendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin so zusammen:

    " Noch nie war die Chancenungleichheit zwischen Kindern mit bildungsstarken Eltern und solchen mit bildungsschwachen Eltern höher, über die letzten zehn bis zwanzig Jahre gesehen, als heute, und wir produzieren hier Generationen, die weiter dann Kinder bekommen mit genauso geringer Bildung, die den Anschluss an die Gesellschaft verlieren, die dann zu Zuständen führen, wie wir sie beispielsweise in den Vorstädten Frankreichs auch schon gesehen haben "

    Kinder aus bildungsarmen Familien, Migranten der zweiten Generation und Kinder mit Behinderungen haben in unserem Land ohne ein inklusives Bildungssystem, dass fördert statt zu selektieren, erheblich geringere Chancen, ihr Recht auf Bildung zu bekommen als Kinder aus wohlhabenden und bildungsorientierten Familien. Die Datenlage dazu ist eindeutig, doch Veränderungen werden nur sehr langsam angeschoben. Und Marianne Demmer, die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft fordert:

    " Zu untersuchen, ob nicht die Art und Weise, wie wir zehnjährige Kinder auf Schulen aufteilen, ob das nicht ein Fall für eine juristische Bewertung ist, ob da nicht gegen das Kindeswohl durchaus im Sinne der Kinderrechte verstoßen wird, wenn man bedenkt, das eine Reihe von Kindern, die zur Hauptschule kommen, nachweislich dort weniger gefördert werden, als es ihren Möglichkeiten entspräche. "

    Das wäre vielleicht eine Möglichkeit, den Druck auf die Politik zu erhöhen, der nach Ansicht von Bildungsexperten einfach noch zu schwach ist. Warum das so ist, was noch geschehen muss, um mehr Bewegung ins deutsche Bildungssystem zu bringen und vor allem wer eigentlich was tun muss, um die Bildungsstagnation zu beseitigen, darauf wussten weder Kongress noch Podiumsdiskussion Antworten zu geben. Wohl aber darauf, was das Problem noch verschärfen könnte. Die zunehmende Privatisierung des Bildungssektors ist ein weiteres zentrales Thema des Weltlehrerkongresses. Und auch ein Thema im PISA-gebeutelten Deutschland.

    " Wenn wir eine weitere Privatisierung bekämen, dann ist sicher, dass die soziale Spaltung weiter auseinander geht, "

    meint die stellvertretende GEW Vorsitzende Marianne Demmer. Wenn immer mehr Eltern meinen, dass sie ihren Kindern nur noch auf privaten Schulen einen guten Start ins Leben bieten, dann gehen diese bildungsorientierten Familien dem öffentlichen Bildungssystem verloren, ein Verlust, der schwer zu kompensieren sein wird. Und eine weitere Privatisierung des Bildungssektors wäre auch ein Schritt weg von einem tatsächlichen Diskurs über Bildungsarmut, den Jutta Allmendinger fordert.

    " Wenn man sich anschaut, wie schnell ein öffentlicher Diskurs um Elite zu institutionalisierten Formen zur Förderung von Elite geführt hat, dann müsste es doch einen Diskurs geben über den Abbau von Bildungsarmut, Armut im Allgemeinen und diesen Diskurs sehe ich nicht. Wir wissen, dass diese Diskurse, wenn sie da sind, durchaus so institutionalisiert, kanalisiert werden können, dass sie zu Veränderungen führen. Sie hätten vor zehn Jahren nicht gedacht, dass wir Eliteuniversitäten haben würden. "

    Wenn die Leute, die ein hohes Bildungsinteresse haben, dem öffentlichen Bildungssystem verloren gehen, dann ist das System ein Stückweit verloren., dann wird man viel Arbeit haben, um das in irgendeiner Form zu kompensieren.

    Vernor Munoz:

    " Im ersten Moment war ich ein bisschen überrascht, denn ich habe aus bestimmten Bereichen doch sehr harte Reaktionen bekommen. Aber andererseits freue ich mich, dass ich eine so lebhafte Debatte ausgelöst habe, das ist doch ein gutes Zeichen. "