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Die neue europäische Dramatik

Das Festival "Neue Stücke aus Europa" ist ein kleines, aber international konzipiertes Fest des europäischen Theateraustauschs. Schauspieler und Regisseure wollen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede sichtbar machen. In diesem Jahr sind zu Gast Stücke aus Tallin, Zagreb und Warschau, aber auch aus Italien und der Türkei. Immer wieder gab es überraschend aufblitzende Erkenntnisse über Ländergrenzen hinweg.

Von Ruth Fühner | 18.06.2008
    Ein Familienfest auf flämisch. Das Ambiente gediegene, efeuüberwuchterte Gotik, die Hausherrin in grünem Samt mit prallem Dekollete, an das später ein königlicher Orden nebst allerhand Christbaumputz geheftet wird. Um sie herum keine Spur von Harmonie. Der Sohn rezitiert aus dem Manifest der kommunistischen Jugend, der Schwiegersohn rechte Erbauungsprosa aus dem Repertoire des Vlaamse Blok, der Kellner zerschmeißt in bester Slapstickmanier Geschirr. Es ist leicht, sich lustig zu machen über die antiwallonischen Kabbeleien und die folkloristischen Geschichtsklitterungen im flachen Herzen des alten Europa, und das belgische Stück "Nun singet und seid froh" nimmt sie selbst nicht so ganz ernst. Es ist ein durchaus auch alberner Liederabend auf der Grundlage eines flämischen Gesangbuchs - voller Marienfrömmigkeit und nationaler Opfer-Phantasmen. Aber irgendwann, vielleicht als das auch hierzulande berüchtigte "Ich hatt einen Kameraden" ertönt und sich das Personal zu einem Gefallenendenkmal mit Pietà drapiert, schwant der deutschen Zuschauerin: das Trauma, das hier verhandelt wird, wurzelt auch in den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, wo die Deutschen einen Vorgeschmack auf spätere Barbareien gaben.

    Solche überraschend aufblitzenden Erkenntnisse über Ländergrenzen hinweg vermitteln die "Neuen Stücke aus Europa" immer mal wieder. Es bleibt zwar ein Rätsel, warum ein Warschauer Theater einen Wettbewerb ausgerechnet für ein Stück über Ulrike Meinhof ausschreibt - herausgekommen ist dabei jedenfalls mit "Tod des Eichhörnchenmenschen" eine poetische und surreale Phantasie über die Faszination der Radikalität, die gut als Lockerungsübung taugt im Umgang mit einem - diesmal deutschen - Trauma.

    Ob die neue europäische Dramatik tatsächlich so wenig ästhetisch innovativ ist, wie es die Auswahl nahelegt, die die Biennale-Paten unter den Uraufführungsinszenierungen in ihrem jeweiligen Land getroffen haben? Ein Glück, dass es Autoren gibt wie Ewald Palmetshofer. "Hamlet ist tot - keine Schwerkraft" - das klingt kompliziert, und tatsächlich ist die sehr österreichische, dabei fast antikisch anmutende Familientragödie um Inzest und Muttermord mit allen Wassern der Diskurstheorie gewaschen. Dabei aber so gewitzt alltäglich und glänzend gespielt, dass Spießerhölle und intellektuelles Vergnügen sich blendend miteinander vertragen. Unspektakulärer, aber gleichermaßen gescheit Tim Crouchs "England" im Museum Wiesbaden, eine Performance über Kunst und Krankheit, Erste und Dritte Welt, die leise aber beharrlich daran arbeitet, das Selbstverständnis des Publikums zu untergraben -warum nur bedanken sich die beiden Schauspieler mit ihren oszillierenden Rollen und dem maskenhaften Lächeln so ausdauernd bei uns? Einfach, weil ohne Zuschauer kein Theater stattfinden könnte? Oder sind wir Lebensretter in einem ganz anderem, schockierenderen Sinn?

    Was hingegen überhaupt nicht funktioniert bei dieser Biennale, ist theatralische Überrumpelungstaktik und das Prunken mit fremden Federn. "Gomorra", das italienische Stück nach Roberto Savianos mutigem Recherchebuch über die neapolitanische Camorra, kommt über die hilflose Schlagzeilenbebilderung nicht hinaus - obwohl die Verfilmung des Buches gezeigt hat, wie man es machen könnte und ja auch in Cannes mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Und die legendäre katalanische Theatergruppe "La Fura dels Baus" verspielt mit "Boris Godunow" ihren ohnehin angeschlagenen Ruf. Der Versuch, Furcht und Schrecken des Geiseldramas im Moskauer Musicaltheater nachzustellen, setzt so ärgerlich wie hilflos aufs Sensationelle und ist dramaturgisch auch durch die stupenden 3-D-Animationen vom Zarenpalast mit Blick auf den Kreml nicht zu retten.

    Spannend wird es, behauptet die Mundpropaganda, noch einmal am Freitag - dann ist Schahika Tekands "Eurydikes Schrei" zu sehen, die Auseinandersetzung einer türkischen Autorin mit der Mythenwelt des feindlichen Nachbarn Griechenland und mit dem Populismus gegenwärtiger Staatsführer.