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Die "neuen Reaktionäre"

Alain Finkielkraut, einer der führenden Intellektuellen Frankreichs, ist jetzt wegen seiner Äußerungen über die Ursachen der Unruhen in den französischen Vorstädten ins Zwielicht geraten. In einem Interview postuliert der Philosoph, das Problem seien die jugendlichen Schwarzen oder Araber mit muslimischer Identität, deren Hass jetzt Frankreich treffe. Auch andere "Neo-Réacs" - also Neo-Reaktionäre - fürchten, dass das Abendland vom Untergang bedroht ist.

Von Jürgen Ritte | 06.12.2005
    "Les Néoréacs", die "Neo-Reaktionäre", so titelt das französische Wochenmagazin "Le Nouvel Observateur" in seiner neuesten Ausgabe. Und es hält auch nicht mit den Namen derer hinterm Berg, die in erster Linie gemeint sind: Französische Schriftsteller wie Michel Houellebecq oder Maurice Dantec, Politiker wie der konservative Innenminister mit Präsidentschaftsambitionen Nicolas Sarkozy- und Intellektuelle wie der Politologe Pierre-André Targuieff oder die ehemals "neuen Philosophen" André Glucksmann oder Alain Finkielkraut. Vor allem Letzterer sieht sich in der Rolle des Anführers der neuen Dunkelmänner.

    Noch unter dem Eindruck der Unruhen in den französischen Vorstädten hatte er der linksorientierten, israelischen Tageszeitung Haaretz und dem konservativen Figaro im November Interviews gegeben, in denen er angesichts brennender Autos von "antirepublikanischen Pogromen" sprach, angezettelt nicht von jugendlichen Brandstiftern aus den sozial defavorisierten Einwanderermilieus, sondern von muslimischen "Schwarzen und Arabern", die Frankreich den Krieg erklärt hätten.

    Das war starker Toback, doch Finkielkraut, der schon vor Monaten das unselige Schlagwort vom "anti-weißen Rassismus" der gettoisierten Vorstadtjugendlichen in Umlauf gebracht hatte, erhielt reichlich Beifall: Zunächst vom Fraktionsvorsitzenden der konservativen Regierungspartei UMP, dann von der französischen Historikerin und Russlandspezialistin Hélène Carrère d’Encausse, als Mitglied der Académie française eine der wenigen "unsterblichen" Frauen des Landes, welche beide noch eins drauf setzten: Schuld daran, dass die dunkelhäutigen Jugendlichen auf den Straßen herumlungerten und dort nichts wie kriminellen Unfug anstellten, sei, halten wir uns fest, die grassierende Polygamie in diesen eingewanderten Bevölkerungsschichten. Zuviel Frauen, zuviel Kinder, da verliere man die elterliche Übersicht und Autorität. Man sieht, der Weg aus den hohen Hallen des Denkens hin zum populistischen Stammtisch ist oft kürzer als man glaubt…

    Was diesen so genannten "Neo-Reaktionären" bei aller Verschiedenheit im Detail gemein ist – man könnte hier noch Pascal Bruckner nennen, Finkielkrauts intellektuellen Compagnon aus linksbewegten Jugendjahren, oder den gewichtigen Publizisten und Historiker Alexandre Adler (auch er war einmal ein Linker), das ist ihre Überzeugung, dass für Frankreich Gefahr im Verzug sei, dass das Abendland, wieder einmal, vom Untergang bedroht ist. Denn wir befinden uns, spätestens seit den New Yorker Attentaten vom 11. September 2001, im Krieg, in einer Art Weltkrieg sogar.

    Die Frontlinie verläuft nicht nur zwischen Saddam Hussein oder Bin Laden auf der einen Seite und der kriegführenden Allianz im Irak auf der anderen Seite, die Frontlinie setzt sich fort bis ins Herz des alten Kontinents, bis in seine Vorstädte: In dieser Vision der Dinge tobt eine islamistisch inspirierte Intifada bereits vor unseren Haustüren. Und bei solch grob vereinfachenden und sachlich einfach falschen Analysen fällt die soziale Frage, die Frage nach republikanischer Gerechtigkeit oder auch nur Chancengleichheit, Fragen, für die sich diese Medienstars unter den Intellektuellen schon lange nicht mehr interessieren, kurzerhand unter den Tisch. Mehr noch, so funktioniert die Logik dieser wackeren Krieger, es wird der, der sich erlaubt, eine Wirtschaftsordnung in Frage zu stellen, die ganze Bevölkerungsteile zu Ausschuss erklärt, des Antiamerikanismus bezichtigt, manchmal auch des Antisemitismus, denn wir haben es ja, siehe oben, mit muslimischen Terrorschülern zu tun.

    Das einzig Positive an solchen intellektuellen Ausschreitungen ist vielleicht, dass Jean-Marie le Pen, der Chef des rechtsradikalen Front National, demnächst arbeitslos sein wird. Man hörte ihn in letzter Zeit nur noch selten. Der Erfolg der "Néoréacs", der neuen Reaktionäre, die sich selbst besonders gerne in der Pose unerschrockener Tabubrecher sehen, in Wirklichkeit aber, wie zu fürchten ist, nur eine dumpfe Mehrheitsmeinung artikulieren, hat indes tiefer liegende Ursachen. Er ist das Symptom einer großen Verunsicherung angesichts von Globalisierung oder auch nur Europäisierung.

    Finkielkraut spricht vom "désamour", von einem Liebesentzug, dessen Opfer Frankreich heute bei seiner Jugend sei. Und reagiert entsprechend waidwund auf Kritik am geliebten Vaterland. Er scheint zu vergessen, dass sich von Voltaire bis Sartre, von François Villon bis Serge Gainsbourg, die größten Franzosen nicht gerade durch Liebesgesänge an ihr Land ausgezeichnet haben. Gleichwohl: Die Regierung wird das Treiben Alain Finkielkrauts und seiner Mitstreiter mit Wohlwollen betrachten: Im Februar brachte sie ein Gesetz durch, das die positiven Wirkungen der französischen Kolonisierung auf dem afrikanischen Kontinent unterstreichen soll. Damit braucht niemand mehr ein schlechtes Gewissen gegenüber den Einwanderern aus diesen Ländern zu haben. Die Selbstliebe ist wieder hergestellt, und die Algerier, die Senegalesen und ihre französischen Nachfahren in den Wohnsilos von Clichy-sous-Bois werden es mit großer Freude und Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen…