Die Botschaft dieses lagerübergreifenden, umstürzlerischen Unternehmens, meint der Autor Jan Roß, sei von geradezu erschütternder Simplizität. Sie laute schlicht: Der freie Markt wird's schon richten. Politik habe sich nach der Überzeugung der Vulgärliberalen nur noch darauf zu konzentrieren, seinen Selbstentfaltungskräften möglichst alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
Jan Roß argwöhnt, daß die Verschwörer damit nicht nur die Demontage des Sozialstaats und aller nationaler Barrieren gegen die grenzenlose Weltwirtschaft im Sinne haben. Hinter ihrer Dauerpolemik gegen staatliche Überregulation stecke eine grundsätzliche Feindschaft gegen die Institution Staat als solche. Dabei verstünden sie es geschickt, ihre Bereicherungsideologie als Kritik an der deutschen autoritären Obrigkeitsstaats-Tradition auszugeben. Doch, so hält Roß dagegen: "Die Vulgärliberalen sind in Wirklichkeit nicht gegen den Obrigkeitsstaat, sondern gegen den Staat überhaupt - auch und vielleicht gerade gegen den demokratischen, in dem alle mitreden und das Wirtschaften dadurch so mühsam machen." Modernisierung, Globalisierung und Individualisierung seien die Schlachtrufe dieser neureichen, neokapitalistischen Staatsfeindschaft, in der Roß Züge einer fundamentalistischen Erlösungslehre zu erkennen glaubt, die in ihrem Absolutheitsanspruch mit der marxistischen Fortschrittsideolgie zu vergleichen sei.
Das aber ist das zentrale Anliegen des Essayisten: die in seiner Sicht unverzichtbare ethische und ordnungspolitische Funktion des Staates gegen alle Spielarten liberaler Selbstbestimmungseuphorie zu verteidigen. Roß reformuliert mit seiner Liberalismuskritik die klassischen Einwände der konservativen und christlichen Sozialethik gegen eine schrankenlose Konkurrenzgesellschaft. Er tut dies jedoch in durchaus origineller Weise. Seine Argumentation nimmt die - "linke" - Angst vor einer verheerenden Desolidarisierung und Re-Barbarisierung der Gesellschaft auf und baut sie in eine modernisierte Affirmation des deutschen korporativen Staatsverständnisses ein. Nicht nur als Organisation zur fomalen Regelung gesellschaftlicher Beziehungen sei der Staat unverzichtbar, sondern auch als die allen gesellschaftlichen Einzelinteressen übergeordnete Institution autoritativer ethischer Fürsorge.
Als eine mit sprachlicher und gedanklicher Schärfe vorgetragene, aktuelle Positionsbestimmung eines streitbaren demokratischen Konservatismus füllt das Buch von Roß eine Lücke. Roß schmerzt es sichtlich, wie bereitwillig die Mainstream-Konservativen innerhalb und außerhalb der Unionsparteien in den Jubelchor einstimmen, der die Rationalisierung, Flexibilisierung und Effektivierung aller Lebensbereiche als die neuen Götzen der postindustriellen Moderne feiert. Ohne Furcht, unzeitgemäß zu wirken, klagt Roß dagegen konservative Werte wie Religion, Familie und Lebensschutz - vor allem vor Abtreibung und Sterbehilfe - ein, die es auch und gerade im Interesse des Zusammenhalts einer freiheitlichen Demokratie gegen den allseits herrschenden Materialismus zu verteidigen gelte.
Roß' Polemik ist dort am stärksten, wo sie die Geschichtsvergessenheit der aktuellen Debatte um die Entstaatlichung von Wirtschaft und Gesellschaft aufzeigt. So weist er mit Recht darauf hin, daß es in Deutschland eine unterentwickelte Tradition liberalen Freiheitsbewußtseins gibt. Während sich im angelsächsischen Raum der Ruf nach individueller Freiheit und Unabhängigkeit von staatlicher Bevormundung immer mit der Hochschätzung gemeinnütziger Bürgertugenden verband, kommt der neudeutsche Deregulierungsglaube nicht selten im Tonfall schnoddriger, schnurrender Verachtung für die ethischen Grundlagen liberaler Institutionen daher. Roß charakterisiet diese Geisteshaltung als die einer "kulturell und sozial gleichgeschalteten Angestelltenwelt, die nach Jahrzehnten des Wohlstands der Meinung ist, sie verdanke das alles ihrer eigenen Tüchtigkeit und werde durch Eingriffe der öffentlichen Hand nur um die Früchte ihrer Arbeit betrogen." Die Forderung nach Abbau staatlicher Überregulation transportiert in Deutschland oft eine schmallippige, unfrohe Botschaft: Sie verlangt von den weniger Leistungsfähigen Verzicht und Bescheidenheit und kündigt den sozial Schwachen mit einer gewissen Häme an, daß die Fettlebe in Zeichen des Sozialstaats jetzt bald vorbei sein werde.
Alle Theoretiker eines konsequenten individualistischen Liberalismus, von Adam Smith über John Stuart Mill bis zu Karl Popper und Friedrich von Hayek verfolgten mit ihrer Option für das freie Wirtschaften auch ein ethisches Ziel: Das Laissez-faire-Prinzip soll Menschen in die Lage versetzen, in selbsttätiger Erfahrung die Vorteile von Kooperation und Interessensausgleich zu entdecken. Dabei gehören starke demokratische Institutionen und die Herrschaft gerechter Gesetze nach Hayek zu den Voraussetzungen einer freien Wirtschaft.
Nicht zuletzt, daß in Deutschland liberale Theoretiker vom Zuschnitt eines Popper oder Hayek fehlen, ist ein Indiz dafür, daß das Bewußtsein für den ethischen Sinn der Freiheit hierzulande wenig ausgeprägt ist. Aus dieser zutreffenden Beobachtung kann Jan Roß kann aber nicht die logischen Schlußfolgerungen ziehen. Denn dies würde sein eigenes polemisches Koordinatensystem durcheinanderbringen.
Weil Roß alle Untugenden der Zeit durch die liberalimuskritische Brille betrachtet, wird sein diagnostisches Bild an allen Ecken und Enden schief. Einige Beipiele: Wenn populistische Propagandisten einer deregulierten Dienstleistungsgesellschaft wie der "Focus"-Chef Markwort die gesellschaftstheoretischen Traditionen des Liberalismus geringschätzen, dann heißt dies nicht, daß sie "Vulgärliberale" wären, sondern vielmehr, daß sie eben überhaupt keine Liberalen sind. Der Anti-Etatismus Markworts bezieht sich im Wesentlichen auf das wirtschaftliche Feld. Auf ordnungspolitischem Gebiet ist er dagegen Anhänger eines starken, repressionsbereiten Staats. Einerseits Propagandist der "Globalisierung", tendiert er etwa in der Frage der Einwände zu einem xenophobischen Isolationismus.
Angesichts des nach wie vor betont staatsinterventionistischen Programms der SPD wirkt es absurd, daß Jan Roß auch Gerhard Schröder des neoliberalen Antietatismus bezichtigt. Ein bißchen pubilicitywirksame, modisch wirtschaftsfreundliche Rhetorik macht aus einem paternalistischen Sozialdemokraten noch lange keinen raubkapitalistischen Libertin. Ähnliches gilt übrigens auch für die christdemokratischen Helden der Modernisierung. Ihre Rhetorik vom "schlanken Staat" verschleiert bis dato bloß, daß die Eingriffe der aufgeblähten staatlichen Bürokratie in allen Bereichen der Gesellschaft in Wirklichkeit munter weiter wuchern.
Und auch der Versuch, den von preußischen Sekundärtugenden geprägten "klassischen" Liberalen Otto Graf Lambsdorff gegen den "neoliberalen" Staatsverächter Westerwelle einerseits, gegen linksliberale Bürgerrechtsextremisten andererseits auszuspielen, mißrät dem Polemiker völlig. "(... ) Otto Graf Lambsdorff", schreibt Roß, "der Wirtschaftsliberale par excellance, verbindet (...) den Wunsch nach größtmöglicher ökonomischer Freiheit mit lebhaften konservativen Instinkten in Sachen Staat und Gesellschaft; er kann sich für die Aufwertung nichtehelicher Lebensgemeinschaften nicht begeistern und sah wenig Anlaß zum Widerstand gegen die Verschärfung des Asylrechts oder die Einführung des ‘Lauschangriffs'." Das Buch von Roß lief noch durch die Druckerpresse, da war diese Konstruktion schon von der Wirklichkeit zum Einsturz gebracht worden. Lambsdorff half mit seiner Stimme im Bundestag, die von der Koalition beschlossene Gesetzesvorlage zum Großen Lauschangriff zu Fall zu bringen, während der vermeintliche Staatsfeind Westerwelle dieser wesentlichen Erweiterung staatlicher Befugnisse zustimmte. Lambsdorff begründete seine Entscheidung, durch die er eine mittlere Koalitionskrise riskierte, ausdrücklich mit dem Verweis auf klassische liberale Bürgerrechte, die es gegen staatliche Übermacht zu verteidigen gelte.
Zwar präsentiert sich Roß als Verteidiger eines ehrenwerten, authentischen Liberalismus gegen dessen Pervertierung. Doch erweist sich das bald als bloße rhetorische Finte. Roß paßt die ganze Richtung der westlichen liberalen Demokratien hin zu immer mehr Individualismus ohne die Bindungkräfte traditioneller Institutionen nicht. Dagegen setzt er sein Vertrauen in einen vernünftigen, gerechten Staat - und mit dieser hegelianisch gefärbten Illusion aus dem Geist des deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts ist nun Roß seinerseits gar nicht so weit vom Marxismus entfernt.
Aufschlußreich an Roß’ Position ist, daß heute offenbar nur noch der Rekurs auf konservative Traditionen eine grundlegende Infragestellung der marktliberalen Prämissen der westlichen Industrienationen erlaubt. Seine Position ist daher auch für viele Linke attraktiv, denen die alten, sozialistisch motivierten Argumente gegen den inzwischen unbezwingbar scheinenden Kapitalismus ausgegangen sind. Roß kann den antikapitalistischen Affekt argumentativ konsequent erneuern, weil sich seine Position grundsätzlich der Logik liberalen Freiheitsdenkens entzieht. Für Konservative kann die Gesellschaft kein Medium menschlichen Glücksstrebens sein, sondern allenfalls eine Solidargemeinschaft zur Linderung der Folgen schicksalhaften Unglücks. Daher muß ihnen im Grunde jede liberale Praxis, die die Menschen mit einem säkularen Glücksversprechen in die Irre führen wolle, als mehr oder weniger "vulgär" erscheinen.
Jan Roß argwöhnt, daß die Verschwörer damit nicht nur die Demontage des Sozialstaats und aller nationaler Barrieren gegen die grenzenlose Weltwirtschaft im Sinne haben. Hinter ihrer Dauerpolemik gegen staatliche Überregulation stecke eine grundsätzliche Feindschaft gegen die Institution Staat als solche. Dabei verstünden sie es geschickt, ihre Bereicherungsideologie als Kritik an der deutschen autoritären Obrigkeitsstaats-Tradition auszugeben. Doch, so hält Roß dagegen: "Die Vulgärliberalen sind in Wirklichkeit nicht gegen den Obrigkeitsstaat, sondern gegen den Staat überhaupt - auch und vielleicht gerade gegen den demokratischen, in dem alle mitreden und das Wirtschaften dadurch so mühsam machen." Modernisierung, Globalisierung und Individualisierung seien die Schlachtrufe dieser neureichen, neokapitalistischen Staatsfeindschaft, in der Roß Züge einer fundamentalistischen Erlösungslehre zu erkennen glaubt, die in ihrem Absolutheitsanspruch mit der marxistischen Fortschrittsideolgie zu vergleichen sei.
Das aber ist das zentrale Anliegen des Essayisten: die in seiner Sicht unverzichtbare ethische und ordnungspolitische Funktion des Staates gegen alle Spielarten liberaler Selbstbestimmungseuphorie zu verteidigen. Roß reformuliert mit seiner Liberalismuskritik die klassischen Einwände der konservativen und christlichen Sozialethik gegen eine schrankenlose Konkurrenzgesellschaft. Er tut dies jedoch in durchaus origineller Weise. Seine Argumentation nimmt die - "linke" - Angst vor einer verheerenden Desolidarisierung und Re-Barbarisierung der Gesellschaft auf und baut sie in eine modernisierte Affirmation des deutschen korporativen Staatsverständnisses ein. Nicht nur als Organisation zur fomalen Regelung gesellschaftlicher Beziehungen sei der Staat unverzichtbar, sondern auch als die allen gesellschaftlichen Einzelinteressen übergeordnete Institution autoritativer ethischer Fürsorge.
Als eine mit sprachlicher und gedanklicher Schärfe vorgetragene, aktuelle Positionsbestimmung eines streitbaren demokratischen Konservatismus füllt das Buch von Roß eine Lücke. Roß schmerzt es sichtlich, wie bereitwillig die Mainstream-Konservativen innerhalb und außerhalb der Unionsparteien in den Jubelchor einstimmen, der die Rationalisierung, Flexibilisierung und Effektivierung aller Lebensbereiche als die neuen Götzen der postindustriellen Moderne feiert. Ohne Furcht, unzeitgemäß zu wirken, klagt Roß dagegen konservative Werte wie Religion, Familie und Lebensschutz - vor allem vor Abtreibung und Sterbehilfe - ein, die es auch und gerade im Interesse des Zusammenhalts einer freiheitlichen Demokratie gegen den allseits herrschenden Materialismus zu verteidigen gelte.
Roß' Polemik ist dort am stärksten, wo sie die Geschichtsvergessenheit der aktuellen Debatte um die Entstaatlichung von Wirtschaft und Gesellschaft aufzeigt. So weist er mit Recht darauf hin, daß es in Deutschland eine unterentwickelte Tradition liberalen Freiheitsbewußtseins gibt. Während sich im angelsächsischen Raum der Ruf nach individueller Freiheit und Unabhängigkeit von staatlicher Bevormundung immer mit der Hochschätzung gemeinnütziger Bürgertugenden verband, kommt der neudeutsche Deregulierungsglaube nicht selten im Tonfall schnoddriger, schnurrender Verachtung für die ethischen Grundlagen liberaler Institutionen daher. Roß charakterisiet diese Geisteshaltung als die einer "kulturell und sozial gleichgeschalteten Angestelltenwelt, die nach Jahrzehnten des Wohlstands der Meinung ist, sie verdanke das alles ihrer eigenen Tüchtigkeit und werde durch Eingriffe der öffentlichen Hand nur um die Früchte ihrer Arbeit betrogen." Die Forderung nach Abbau staatlicher Überregulation transportiert in Deutschland oft eine schmallippige, unfrohe Botschaft: Sie verlangt von den weniger Leistungsfähigen Verzicht und Bescheidenheit und kündigt den sozial Schwachen mit einer gewissen Häme an, daß die Fettlebe in Zeichen des Sozialstaats jetzt bald vorbei sein werde.
Alle Theoretiker eines konsequenten individualistischen Liberalismus, von Adam Smith über John Stuart Mill bis zu Karl Popper und Friedrich von Hayek verfolgten mit ihrer Option für das freie Wirtschaften auch ein ethisches Ziel: Das Laissez-faire-Prinzip soll Menschen in die Lage versetzen, in selbsttätiger Erfahrung die Vorteile von Kooperation und Interessensausgleich zu entdecken. Dabei gehören starke demokratische Institutionen und die Herrschaft gerechter Gesetze nach Hayek zu den Voraussetzungen einer freien Wirtschaft.
Nicht zuletzt, daß in Deutschland liberale Theoretiker vom Zuschnitt eines Popper oder Hayek fehlen, ist ein Indiz dafür, daß das Bewußtsein für den ethischen Sinn der Freiheit hierzulande wenig ausgeprägt ist. Aus dieser zutreffenden Beobachtung kann Jan Roß kann aber nicht die logischen Schlußfolgerungen ziehen. Denn dies würde sein eigenes polemisches Koordinatensystem durcheinanderbringen.
Weil Roß alle Untugenden der Zeit durch die liberalimuskritische Brille betrachtet, wird sein diagnostisches Bild an allen Ecken und Enden schief. Einige Beipiele: Wenn populistische Propagandisten einer deregulierten Dienstleistungsgesellschaft wie der "Focus"-Chef Markwort die gesellschaftstheoretischen Traditionen des Liberalismus geringschätzen, dann heißt dies nicht, daß sie "Vulgärliberale" wären, sondern vielmehr, daß sie eben überhaupt keine Liberalen sind. Der Anti-Etatismus Markworts bezieht sich im Wesentlichen auf das wirtschaftliche Feld. Auf ordnungspolitischem Gebiet ist er dagegen Anhänger eines starken, repressionsbereiten Staats. Einerseits Propagandist der "Globalisierung", tendiert er etwa in der Frage der Einwände zu einem xenophobischen Isolationismus.
Angesichts des nach wie vor betont staatsinterventionistischen Programms der SPD wirkt es absurd, daß Jan Roß auch Gerhard Schröder des neoliberalen Antietatismus bezichtigt. Ein bißchen pubilicitywirksame, modisch wirtschaftsfreundliche Rhetorik macht aus einem paternalistischen Sozialdemokraten noch lange keinen raubkapitalistischen Libertin. Ähnliches gilt übrigens auch für die christdemokratischen Helden der Modernisierung. Ihre Rhetorik vom "schlanken Staat" verschleiert bis dato bloß, daß die Eingriffe der aufgeblähten staatlichen Bürokratie in allen Bereichen der Gesellschaft in Wirklichkeit munter weiter wuchern.
Und auch der Versuch, den von preußischen Sekundärtugenden geprägten "klassischen" Liberalen Otto Graf Lambsdorff gegen den "neoliberalen" Staatsverächter Westerwelle einerseits, gegen linksliberale Bürgerrechtsextremisten andererseits auszuspielen, mißrät dem Polemiker völlig. "(... ) Otto Graf Lambsdorff", schreibt Roß, "der Wirtschaftsliberale par excellance, verbindet (...) den Wunsch nach größtmöglicher ökonomischer Freiheit mit lebhaften konservativen Instinkten in Sachen Staat und Gesellschaft; er kann sich für die Aufwertung nichtehelicher Lebensgemeinschaften nicht begeistern und sah wenig Anlaß zum Widerstand gegen die Verschärfung des Asylrechts oder die Einführung des ‘Lauschangriffs'." Das Buch von Roß lief noch durch die Druckerpresse, da war diese Konstruktion schon von der Wirklichkeit zum Einsturz gebracht worden. Lambsdorff half mit seiner Stimme im Bundestag, die von der Koalition beschlossene Gesetzesvorlage zum Großen Lauschangriff zu Fall zu bringen, während der vermeintliche Staatsfeind Westerwelle dieser wesentlichen Erweiterung staatlicher Befugnisse zustimmte. Lambsdorff begründete seine Entscheidung, durch die er eine mittlere Koalitionskrise riskierte, ausdrücklich mit dem Verweis auf klassische liberale Bürgerrechte, die es gegen staatliche Übermacht zu verteidigen gelte.
Zwar präsentiert sich Roß als Verteidiger eines ehrenwerten, authentischen Liberalismus gegen dessen Pervertierung. Doch erweist sich das bald als bloße rhetorische Finte. Roß paßt die ganze Richtung der westlichen liberalen Demokratien hin zu immer mehr Individualismus ohne die Bindungkräfte traditioneller Institutionen nicht. Dagegen setzt er sein Vertrauen in einen vernünftigen, gerechten Staat - und mit dieser hegelianisch gefärbten Illusion aus dem Geist des deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts ist nun Roß seinerseits gar nicht so weit vom Marxismus entfernt.
Aufschlußreich an Roß’ Position ist, daß heute offenbar nur noch der Rekurs auf konservative Traditionen eine grundlegende Infragestellung der marktliberalen Prämissen der westlichen Industrienationen erlaubt. Seine Position ist daher auch für viele Linke attraktiv, denen die alten, sozialistisch motivierten Argumente gegen den inzwischen unbezwingbar scheinenden Kapitalismus ausgegangen sind. Roß kann den antikapitalistischen Affekt argumentativ konsequent erneuern, weil sich seine Position grundsätzlich der Logik liberalen Freiheitsdenkens entzieht. Für Konservative kann die Gesellschaft kein Medium menschlichen Glücksstrebens sein, sondern allenfalls eine Solidargemeinschaft zur Linderung der Folgen schicksalhaften Unglücks. Daher muß ihnen im Grunde jede liberale Praxis, die die Menschen mit einem säkularen Glücksversprechen in die Irre führen wolle, als mehr oder weniger "vulgär" erscheinen.