Stefan Koldehoff: Wie viel die Anschläge vom 11. September 2001 weltweit und für alle Zeiten in unseren Köpfen verändert haben, das lässt sich immer noch nicht, auch nur annähernd abschätzen. Ein Beispiel. Während hier bei uns in Deutschland darüber debattiert wird, ob das Bundeskriminalamt auch die Wohnungen Terrorunverdächtiger mit Wanzen und Kameras überwachen darf, weil sich ja mal ein Terrorist darin aufhalten könnte, gibt es in den USA bereits Wettbewerbe ganz anderer Art. Dort geht es darum, wer mithilfe aufwendiger technischer Verfahren am besten in der Lage ist zu sagen, was ein anderer Mensch gerade denkt. Nicht im Sinne von Magie oder Hellseherei, sondern mithilfe der Messung und Interpretation von Hirnaktivitäten, als neurowissenschaftliche Disziplin. Sie soll, behaupten manche, bald in der Lage sein, einen Menschen, der zum Beispiel einen Flughafen betritt, daraufhin zu überprüfen, ob er gerade etwas Böses plant. "Produzieren die Neurowissenschaften den gläsernen Menschen?" heißt eine Tagung, die seit gestern in Stuttgart zu diesem Thema stattfindet. Einer der Dozenten ist der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. Herr Merkel, wünscht sich ein Jurist denn, die Gedanken seiner Mitmenschen kennen zu können?
Reinhard Merkel: Das ist eine schwierige Frage und eine komplexe. In bestimmten Hinsichten hätten wir, in bestimmten Zusammenhängen, ganz gerne eine klare Sicht auf die Gedanken eines Menschen, etwa wenn ein Zeuge in einem wichtigen Strafverfahren vor Gericht aussagt. Dann wüssten wir gerne, ob er lügt. Und in dem Maße, in dem die Neurowissenschaften vor allem in der Technik der bildgebenden Verfahren zunehmend bestimmte innere, mentale Zustände sichtbar können, in diesem Maße beginnen wir, die Frage sozusagen realistisch anzugucken und zu erkunden, ob wir tatsächlich in bestimmten Kontexten bestimmte mentale Zustände identifizieren können. Andererseits wollen wir nicht in jedem Zusammenhang jeden Gedanken jedes Menschen, der mit der rechtlichen Sphäre in Kontakt kommt, ermitteln. Wir wollen das nicht mal können. Im Gegenteil kann das in bestimmten Zusammenhängen kollidieren mit dem Schutz individueller Grundrechte. Und in dem Maße, in dem die Neurowissenschaften sich mit technischen Verfahren anschicken, in diesem Bewusstsein und mentalen Frieden eindringen zu können, in dem Maße werden Schutzvorkehrungen auch notwendig.
Koldehoff: Dann müssen wir jetzt wahrscheinlich doch ein bisschen ans Eingemachte gehen. Das klingt ja fantastisch, aus Hirnaktivitäten ablesen zu können, was dahintersteckt. Was sagen Ihnen denn Ihre Kollegen von den Neurowissenschaften? Was ist denn da im Jahr 2008 möglich? Eine quantitative Aussage, da findet Aktivität statt oder tatsächlich auch eine qualitative, der Mensch denkt gerade an das und das?
Merkel: Man kann tatsächlich bestimmte mentale Zustände an der Hirnaktivität, die in bestimmten Arialen stattfindet, folgern, schließen. Je nach der Raffinesse eines Test, den man einrichtet, kann man die Schlussfolgerungen relativ spezifisch machen. Um das zu veranschaulichen: In Amerika ist inzwischen in zwei Strafverfahren von gerichtlicher Seite zugelassen worden ein Test, der sich Guilty-Knowledge-Test nennt, der Test des schuldigen Wissens. Die Idee, wenn ich es mal vereinfacht skizzieren kann, ist etwa die: Man führt jemandem, der verdächtig ist, eine bestimmte kriminelle Tat begangen zu haben, Bilder vor Augen, die den Tatort mit bestimmten spezifischen Einzelheiten zeigen, die so, wie sie da angeordnet sind auf dem Bild, eigentlich nur vom Täter gekannt werden können. Dann reagiert der Täter, der das Szenario kennt und dessen Gehirn jedenfalls eine Erinnerung evozieren kann, heraufrufen kann, mit signifikant anderen Gehirnaktivitäten als jemand, der das zum ersten Mal sieht. Und noch ist man weit davon entfernt, dass ausreichend halten zu können für die Überführung eines möglichen Mörders. Das würde auch in Amerika nicht zugelassen. Das kommt in die Verfahren durch die Verteidiger. Die müssen nichts beweisen, die müssen nur die feste Überzeugung des Gerichts erschüttern. Dann reicht sogar heute möglicherweise ein solcher Test schon aus, um dem Gericht zu sagen, sehen Sie, nach dem Guilty-Knowledge-Test kennt mein Mandat dieses Szenario nicht. Der Täter muss es aber gesehen haben. Das begründet hinreichende Zweifel, um zu sagen vor dem Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" muss der Angeklagte von dem Schuldvorwurf freigesprochen werden. In diesem Sinne sind wir heute in deutschem Strafverfahren mit einer Entwicklung konfrontiert, die in wenigen Jahren, so meine Prognose, zu einem erheblichen Druck auf die Verfahrensordnungen führen wird, so etwas etwa zuzulassen, wenn es vonseiten der Verteidigung vorgebracht wird. Und dann gilt es, sich zu entscheiden, ob man ein Testverfahren, das man für die Anklage und die Überführung eines Täters noch nicht akzeptieren würde, für den Nachweis seiner möglichen Unschuld schon genügen lässt. Denn dann muss man eine ganze Menge von Tätern möglicherweise freisprechen, die man vielleicht auf anderem Wege, auf traditionellem Wege, verurteilen würde. Aber wir stehen im deutschen Strafverfahren vollkommen am Anfang dieser Entwicklungen. Viele meiner Kollegen, die Prozessrecht machen, nehmen die Riesenquantität der empirischen Forschungen, die in den Neurowissenschaften stattfinden, noch nicht zur Kenntnis. Aber es ist höchste Zeit, dass wir das tun.
Koldehoff: Ist denn, Herr Professor Merkel, nicht zwangsläufig der nächste Schritt dann der, dass man mitdenkt, wenn ich bestimmte Hirnaktivitäten qualitativ beschreiben kann, dann möchte ich auch drüber nachdenken, ob ich sie nicht verändern kann. Sind wir dann nicht endgültig bei Big Brother angelangt?
Merkel: Jedenfalls ist eine solche Entwicklung der nächste Schritt, der in den Blick kommen wird. Ganz richtig sagen Sie das. Nun muss das ja nicht auf jeden, der straffällig geworden ist, sich beziehen. Wir haben immer noch das Muster im Auge, wer straffällig geworden ist und als autonome Person behandelt wird und auch behandelt werden will, der muss für die Schuldzuschreibung, die wir bei ihm vornehmen, etwas bezahlen. Und das Bezahlen-Müssen ist die Strafe. Mehr brauchen wir nicht. Dann gilt für ihn wieder die grundsätzliche Vermutung wie für jeden Bürger, dass er sich bis zum Beweis des Gegenteils rechtstreu verhalten wird. Wir haben aber andere Fälle. Und die beschäftigen uns im Strafrecht auch. Das sind die Leute, die über ihre Schuld hinaus oder möglicherweise sogar Menschen ohne jede Schuldfähigkeit gefährlich sind. Das sind die Personen, denen im Strafrecht mit den sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung begegnet wird und die gegebenenfalls ihr Leben lang unter Sicherungsverwahrung gehalten werden müssen, mit einem hohen Maß an Leid, einfach für ihre Gefährlichkeit, für die sie nicht verantwortlich gemacht werden können, bezahlen müssen. Und dann bietet sich natürlich an, so jemandem zu sagen, wir haben eine neue Methode. Dies setzt aber voraus, dass du zustimmst, dass wir in dein Gehirn intervenieren, etwa pharmakologisch oder mit chirurgischen Verfahren, die sich auch entwickeln, oder mit sogenannter Deep-Brain-Stimulation. Dir wird ein Chip implantiert, der beeinflusst bestimmte Hirnareale, das nimmt mit voraussagbarer, hinreichender Gewissheit deine Gefährlichkeit. Dann werden wir allerdings, und ich formuliere jetzt mal apodiktisch eine etwas steile These, dann werden wir verpflichtet sein, solche Offerten zu machen, den Leuten zu sagen, du hast zwei Alternativen. Entweder, du willigst ein, dass wir in dein Gehirn eingreifen, dich dann gegebenenfalls als Persönlichkeit auch nachhaltig verändern, mit der Implantation eines Chips etwa, der dauernd wirksam ist, oder du sagst nein, wir verwahren dich lebenslang hinter Gittern, weil du dann gefährlich bist. Und Sie sehen, dass der Staat dann vor der Maxime, den möglichst geringen Eingriff in Rechte und Interessen des Einzelnen zu machen, wenn er den gleichen positiven Zweck damit erreichen kann, genötigt sein wird, solche Offerten zu machen. Ich bin absolut sicher, dass das in näherer Zukunft auf uns zukommt.
Koldehoff: Der Beginn einer Debatte. Das war der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel von der Stuttgarter Tagung "Die Neurowissenschaften und der gläserne Mensch". Vielen Dank!
Reinhard Merkel: Das ist eine schwierige Frage und eine komplexe. In bestimmten Hinsichten hätten wir, in bestimmten Zusammenhängen, ganz gerne eine klare Sicht auf die Gedanken eines Menschen, etwa wenn ein Zeuge in einem wichtigen Strafverfahren vor Gericht aussagt. Dann wüssten wir gerne, ob er lügt. Und in dem Maße, in dem die Neurowissenschaften vor allem in der Technik der bildgebenden Verfahren zunehmend bestimmte innere, mentale Zustände sichtbar können, in diesem Maße beginnen wir, die Frage sozusagen realistisch anzugucken und zu erkunden, ob wir tatsächlich in bestimmten Kontexten bestimmte mentale Zustände identifizieren können. Andererseits wollen wir nicht in jedem Zusammenhang jeden Gedanken jedes Menschen, der mit der rechtlichen Sphäre in Kontakt kommt, ermitteln. Wir wollen das nicht mal können. Im Gegenteil kann das in bestimmten Zusammenhängen kollidieren mit dem Schutz individueller Grundrechte. Und in dem Maße, in dem die Neurowissenschaften sich mit technischen Verfahren anschicken, in diesem Bewusstsein und mentalen Frieden eindringen zu können, in dem Maße werden Schutzvorkehrungen auch notwendig.
Koldehoff: Dann müssen wir jetzt wahrscheinlich doch ein bisschen ans Eingemachte gehen. Das klingt ja fantastisch, aus Hirnaktivitäten ablesen zu können, was dahintersteckt. Was sagen Ihnen denn Ihre Kollegen von den Neurowissenschaften? Was ist denn da im Jahr 2008 möglich? Eine quantitative Aussage, da findet Aktivität statt oder tatsächlich auch eine qualitative, der Mensch denkt gerade an das und das?
Merkel: Man kann tatsächlich bestimmte mentale Zustände an der Hirnaktivität, die in bestimmten Arialen stattfindet, folgern, schließen. Je nach der Raffinesse eines Test, den man einrichtet, kann man die Schlussfolgerungen relativ spezifisch machen. Um das zu veranschaulichen: In Amerika ist inzwischen in zwei Strafverfahren von gerichtlicher Seite zugelassen worden ein Test, der sich Guilty-Knowledge-Test nennt, der Test des schuldigen Wissens. Die Idee, wenn ich es mal vereinfacht skizzieren kann, ist etwa die: Man führt jemandem, der verdächtig ist, eine bestimmte kriminelle Tat begangen zu haben, Bilder vor Augen, die den Tatort mit bestimmten spezifischen Einzelheiten zeigen, die so, wie sie da angeordnet sind auf dem Bild, eigentlich nur vom Täter gekannt werden können. Dann reagiert der Täter, der das Szenario kennt und dessen Gehirn jedenfalls eine Erinnerung evozieren kann, heraufrufen kann, mit signifikant anderen Gehirnaktivitäten als jemand, der das zum ersten Mal sieht. Und noch ist man weit davon entfernt, dass ausreichend halten zu können für die Überführung eines möglichen Mörders. Das würde auch in Amerika nicht zugelassen. Das kommt in die Verfahren durch die Verteidiger. Die müssen nichts beweisen, die müssen nur die feste Überzeugung des Gerichts erschüttern. Dann reicht sogar heute möglicherweise ein solcher Test schon aus, um dem Gericht zu sagen, sehen Sie, nach dem Guilty-Knowledge-Test kennt mein Mandat dieses Szenario nicht. Der Täter muss es aber gesehen haben. Das begründet hinreichende Zweifel, um zu sagen vor dem Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" muss der Angeklagte von dem Schuldvorwurf freigesprochen werden. In diesem Sinne sind wir heute in deutschem Strafverfahren mit einer Entwicklung konfrontiert, die in wenigen Jahren, so meine Prognose, zu einem erheblichen Druck auf die Verfahrensordnungen führen wird, so etwas etwa zuzulassen, wenn es vonseiten der Verteidigung vorgebracht wird. Und dann gilt es, sich zu entscheiden, ob man ein Testverfahren, das man für die Anklage und die Überführung eines Täters noch nicht akzeptieren würde, für den Nachweis seiner möglichen Unschuld schon genügen lässt. Denn dann muss man eine ganze Menge von Tätern möglicherweise freisprechen, die man vielleicht auf anderem Wege, auf traditionellem Wege, verurteilen würde. Aber wir stehen im deutschen Strafverfahren vollkommen am Anfang dieser Entwicklungen. Viele meiner Kollegen, die Prozessrecht machen, nehmen die Riesenquantität der empirischen Forschungen, die in den Neurowissenschaften stattfinden, noch nicht zur Kenntnis. Aber es ist höchste Zeit, dass wir das tun.
Koldehoff: Ist denn, Herr Professor Merkel, nicht zwangsläufig der nächste Schritt dann der, dass man mitdenkt, wenn ich bestimmte Hirnaktivitäten qualitativ beschreiben kann, dann möchte ich auch drüber nachdenken, ob ich sie nicht verändern kann. Sind wir dann nicht endgültig bei Big Brother angelangt?
Merkel: Jedenfalls ist eine solche Entwicklung der nächste Schritt, der in den Blick kommen wird. Ganz richtig sagen Sie das. Nun muss das ja nicht auf jeden, der straffällig geworden ist, sich beziehen. Wir haben immer noch das Muster im Auge, wer straffällig geworden ist und als autonome Person behandelt wird und auch behandelt werden will, der muss für die Schuldzuschreibung, die wir bei ihm vornehmen, etwas bezahlen. Und das Bezahlen-Müssen ist die Strafe. Mehr brauchen wir nicht. Dann gilt für ihn wieder die grundsätzliche Vermutung wie für jeden Bürger, dass er sich bis zum Beweis des Gegenteils rechtstreu verhalten wird. Wir haben aber andere Fälle. Und die beschäftigen uns im Strafrecht auch. Das sind die Leute, die über ihre Schuld hinaus oder möglicherweise sogar Menschen ohne jede Schuldfähigkeit gefährlich sind. Das sind die Personen, denen im Strafrecht mit den sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung begegnet wird und die gegebenenfalls ihr Leben lang unter Sicherungsverwahrung gehalten werden müssen, mit einem hohen Maß an Leid, einfach für ihre Gefährlichkeit, für die sie nicht verantwortlich gemacht werden können, bezahlen müssen. Und dann bietet sich natürlich an, so jemandem zu sagen, wir haben eine neue Methode. Dies setzt aber voraus, dass du zustimmst, dass wir in dein Gehirn intervenieren, etwa pharmakologisch oder mit chirurgischen Verfahren, die sich auch entwickeln, oder mit sogenannter Deep-Brain-Stimulation. Dir wird ein Chip implantiert, der beeinflusst bestimmte Hirnareale, das nimmt mit voraussagbarer, hinreichender Gewissheit deine Gefährlichkeit. Dann werden wir allerdings, und ich formuliere jetzt mal apodiktisch eine etwas steile These, dann werden wir verpflichtet sein, solche Offerten zu machen, den Leuten zu sagen, du hast zwei Alternativen. Entweder, du willigst ein, dass wir in dein Gehirn eingreifen, dich dann gegebenenfalls als Persönlichkeit auch nachhaltig verändern, mit der Implantation eines Chips etwa, der dauernd wirksam ist, oder du sagst nein, wir verwahren dich lebenslang hinter Gittern, weil du dann gefährlich bist. Und Sie sehen, dass der Staat dann vor der Maxime, den möglichst geringen Eingriff in Rechte und Interessen des Einzelnen zu machen, wenn er den gleichen positiven Zweck damit erreichen kann, genötigt sein wird, solche Offerten zu machen. Ich bin absolut sicher, dass das in näherer Zukunft auf uns zukommt.
Koldehoff: Der Beginn einer Debatte. Das war der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel von der Stuttgarter Tagung "Die Neurowissenschaften und der gläserne Mensch". Vielen Dank!