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Die Neutrino-Waage

Physik.- Der Theorie zufolge sind Neutrinos die wohl leichtesten Teilchen des Universums. Doch wie leicht sind sie tatsächlich? Neue Erkenntnisse erhofft sich die Fachwelt von einem Experiment in Karlsruhe. Hier wollen Forscher mithilfe von radioaktivem Tritium den Eigenschaften der Neutrinos auf die Spur kommen.

Von Julia Beißwenger | 17.10.2011
    "Für uns sind Neutrinos die faszinierendsten Elementarteilchen überhaupt. Neutrinos sind seit 1998 der erste Hinweis darauf, dass die Physik, die wir kennen, nur ein ganz kleiner Teil der umfassenderen, vielleicht tiefer liegenden Physik ist",

    sagt Guido Drexlin vom Karlsruher Institut für Technologie. 1998, so erzählt er, deuteten erstmals Aufsehen erregende Experimente darauf hin, dass Neutrinos eine Masse haben. Sie muss winzig sein, viele Millionen Mal kleiner als die aller anderen Elementarteilchen. Das macht die Partikel interessant für große Fragen der Physiker. Die rätseln zum Beispiel, warum sich zu Beginn des Universums Materie und Antimaterie nicht völlig auslöschten. Möglicherweise, so die Vermutung, haben die leichten Neutrinos hierbei eine Rolle gespielt, indem sie beim Urknall zusammen mit sogenannten schweren Neutrinos entstanden. Letztere müssen kurze Zeit später wieder zerfallen sein.

    "Und diese schweren Neutrinos, das sind die Teilchen wahrscheinlich, denen wir unsere Existenz verdanken. Denn diese Teilchen haben möglicherweise ganz, ganz kurz nach dem Urknall durch ihre ganz speziellen Eigenschaften dafür gesorgt, dass es eine kleine Präferenz für die Materie gibt."

    Rückschlüsse auf ein frühes schweres Neutrino ergeben sich rechnerisch aus der Masse des leichten. Um die möglichst genau zu bestimmen, verwenden Wissenschaftler sogenannte Spektrometer. Je größer sie sind, desto präziser werden die Messungen. Am Karlsruher Institut für Technologie bauen daher Forscher aus aller Welt seit gut zehn Jahren an einem Spektrometer mit gigantischen Ausmaßen. Herzstück ist ein Tank, der zehn Meter in die Höhe ragt und aussieht wie eine silberne Tonne, die auf dem Bauch liegt. In seinem Innern soll ein ganz besonderes Vakuum herrschen, so Guido Drexlin.

    "Das Vakuum, das wir erzeugen wollen in unserem Tank, das muss so gut sein wie etwa bei den Apolloastronauten auf der Mondoberfläche und bis jetzt hat man das großtechnisch in diesem Maßstab, wie der Tank hinter mir da steht, noch nicht geschafft. Das ist das weltgrößte Ultrahochvakuum"

    Allerdings werden die Forscher darin keine Neutrinos vermessen, denn die Winzlinge lassen sich weder lenken noch aufhalten, sie fliegen einfach davon. Die Forscher verwenden daher einen Trick: Sie werden mit dem Spektrometer Elektronen messen, die bei einem Kernzerfall zeitgleich mit den Neutrinos entstehen. Die Energien der Elektronen erlauben dann Rückschlüsse auf die Energien der Neutrinos – und damit laut Einsteins berühmter Formel "e = m c²" auf deren Masse. Als Teilchenquelle soll das radioaktive Element Tritium dienen, denn wenn eines seiner Atome zerfällt, entweichen ein Elektron und ein Neutrino. Das Tritium kommt in ein zylindrisches Bauteil, das durch ein über 50 Meter langes Rohr mit einem Ende des Spektrometers verbunden ist, erklärt Christian Weinheimer von der Universität Münster.

    "Wir sperren das Tritium ein und sammeln die Elektronen, die im Zerfall dort entstehen und führen diese Elektronen diesem Spektrometer zu und hinter dem Spektrometer befindet sich ein Detektor, der die Elektronen zählt, wie viele da rüber gekommen sind."

    Im Vakuum haben die Elektronen freie Bahn, doch müssen sie ein Spannungsfeld überwinden, das sie bremst. So kommen nur die schnellsten beim Detektor an. Je mehr Energie das Elektron beim Tritium-Zerfall erhalten hat, desto weniger bekam das dazu gehörige Neutrino ab. Daher lässt sich aus den gemessenen Energien berechnen, wie schwer Neutrinos höchstens sind. Ursprünglich sollten die Messungen 2010 beginnen. Der Start wurde jedoch auf Ende 2012 verschoben.

    "Die Verzögerungen, die wir hatten, die liegen daran, dass wir praktisch in allen Bereichen an das technologische Limit gehen. Wir hatten bei manchen ganz einfachen Sachen wie Isolatoren Firmen, die zehnmal probiert haben, einen derartigen Isolator zu bauen, zehnmal hat es nicht geklappt, beim elften Mal hat es geklappt."

    Zurzeit warten die Forscher auf das Bauteil, in das das Tritium eingefasst sein wird. Das Katrin-Experiment soll die Obergrenze der Neutrinomasse mit einer Genauigkeit von 0,2 eV bestimmen, 100 Mal genauer als alle bisherigen Versuche. Die Fachwelt verfolgt die Entwicklung gespannt.

    "Es ist natürlich nicht trivial, wenn Sie vor vielen, vielen Jahren sich zum Ziel setzen, eine Zahl zu messen, dass, wenn Sie dann so weit sind, diese Zahl noch Interesse erzeugt. Und das Schöne ist, dass diese Neutrinomasse im Lauf der letzten Jahre eben immer wichtiger geworden ist und dass uns die Kosmologen und auch viele Astroteilchenphysiker diese Zahl dann quasi aus den Händen reißen werden."