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Die Neuvermessung des Bösen, Teil 1

James Fallon ist Professor für Neurowissenschaften an der Universität von Kalifornien in Irvine. Seit fast 20 Jahren befasst er sich mit den Gehirnen von Schwerverbrechern. Eines Tages nimmt der Forscher selbst als Kontrollperson an einer Alzheimerstudie teil. Sein Gehirn wird durchleuchtet, sein Erbgut analysiert. Als James Fallon seine Ergebnisse bekommt, traut er seinen Augen kaum. Das Hirnareal, das unter anderem für moralische Entscheidungen und Impulskontrolle zuständig ist, scheint nicht aktiv zu sein.

Von Marieke Degen |
    Lizzy Borden took an axe
    and gave her mother fourty whacks
    when she saw what she had done
    she gave her father forty-one


    "Alle amerikanischen Kinder kennen die Geschichte von Lizzy Borden. Sie hat mit einer Axt immer wieder auf ihren Vater eingedroschen, er lag ahnungslos auf der Couch. Danach hat sie ihre Mutter im Schlafzimmer erschlagen."

    "Das einzige Schwierige mit Schwerverbrechern zu arbeiten ist, sie zu motivieren. Natürlich wollen sie wie wir alle Geld und sind sehr scharf auf Geld, und deswegen verwenden wir Geld als den hauptsächlichen Motivator. Das heißt, mit unseren Forschungsmitteln bezahlen wir die Leute extrem gut, wir haben noch nie jemanden so gut bezahlt wie die Schwerverbrecher."

    "Ich heiße James Fallon und bin Professor für Neurowissenschaften an der Universität von Kalifornien in Irvine. Seit 18 Jahren untersuche ich die Gehirne von Schwerverbrechern. Immer wieder zeigen mir Forscher die Hirnscans von Mördern und Vergewaltigern, und ich soll dann herausfinden, welche Bereiche in diesen Gehirnen verändert sind. Eines Tages – das war auf einem Barbecue mit meiner Familie – da tippt mir meine Mutter auf die Schulter und sagt: 'Du fährst doch ständig in Europa und in den USA rum und hältst Vorträge über die Gehirne von Mördern. Ich an deiner Stelle wäre da ja etwas vorsichtig.' Und ich: 'Warum?' Und sie sagt: 'Deine Kusine hat gerade ein Buch geschrieben. Es handelt von der Familie deines Vaters, den Cornells.' Mein Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater hat seine Mutter getötet. Er hat sie verbrannt, in ihrem Bett. Das war im 17. Jahrhundert. Aber es kommt noch schlimmer. In der Cornell-Linie gibt es eine ganze Reihe von Mördern. Und aus irgendeinem Grund haben sie am liebsten ihre Frauen oder ihre Mütter umgebracht. Die Morde waren alle sehr grausam, und immer persönlich. Das hat sich wie eine Seuche durch die ganze Familie gezogen. Lizzy Borden war die letzte, Ende des 19. Jahrhunderts."

    Lizzy Borden took an axe and gave her mother fourty whacks

    Fallon: "Alle amerikanischen Kinder kennen diese Geschichte. Sie hat mit einer Axt immer wieder auf ihren Vater eingedroschen, er lag ahnungslos auf der Couch. Danach hat sie ihre Mutter im Schlafzimmer erschlagen."

    Lizzy Borden took an axe and gave her mother fourty whacks

    Fallon: "Und damit hat sich auch meine Geschichte verändert. Und sie verändert sich immer weiter, seit damals, seit dem Barbecue mit meiner Mutter in meinem Garten, vor fünf Jahren."

    When she saw what she had done, she gave her father fourty-one.

    "Wenn es darum geht, dass wir die Schuldfähigkeit eines Probanden begutachten müssen, dann muss ich beantworten, ob er eine erhebliche psychiatrische Krankheit zum Tatzeitpunkt hatte."

    Jürgen Müller ist Psychiater an der Universität Göttingen und Chefarzt der Göttinger Asklepios-Fachklinik für forensische Psychiatrie. Immer wieder erstellt er Gutachten für Gerichte.

    "Also er kann mir viel erzählen, was er getan hat, wie er motiviert war. Für mich ist es wichtig, ob eine erhebliche psychiatrische Krankheit da war. Also muss ich feststellen, ob er eine psychiatrische Diagnose hat, beispielsweise eine Schizophrenie."

    Ist der Mann schuldfähig oder nicht? Kriminell oder psychisch krank? Jürgen Müllers Diagnose entscheidet mit darüber, wo der Täter die nächsten Jahrzehnte seines Lebens verbringt. Im Gefängnis - oder im Maßregelvollzug, in der forensischen Psychiatrie, wo er, sicher abgeschirmt von der Allgemeinheit, therapiert werden soll. Mörder, Schläger, Kinderschänder, Vergewaltiger. Jürgen Müller spricht mit ihnen über die Tat und über ihr Leben. Außerdem setzt er auf bildgebende Verfahren.

    "Ganz am Anfang meiner Karriere, da kamen wir auf zwei Patienten, die im Prinzip eine ähnliche Geschichte hatten. Die waren nämlich bis zum Alter von 17, 18, 20 Jahren führten die ein relativ unauffälliges Leben. Dann erlitt der Proband einen schweren Motorradunfall und lag mehrere Wochen im Koma. Und der wurde dann in der Rehabilitation wieder hergestellt und war weitgehend in der Lage, sein Leben wieder aufzunehmen. Aber in der Folge kam es zu einer Verhaltensveränderung bei ihm. Er wurde dann nämlich wegen eines schweren Sexualdelikts mit Vergewaltigung, wobei er im ausgeprägten Maße Gewalt angewendet hat, wurde er verurteilt und in den Maßregelvollzug gebracht."

    Jürgen Müller will wissen, ob der Sinneswandel etwas mit dem Motorradunfall zu tun hat. Er schiebt den Mann in einen Kernspintomographen und schaut sich das Gehirn an.

    "Und wir fanden überhaupt keine Veränderungen bei diesem Probanden. Also das Gehirn war unverletzt, es bildeten sich keine Unfallfolgen ab, in den Aufnahmen, die die Hirnstruktur abbilden."

    Auch wenn das Gehirn an sich unverletzt ist: Es könnte immer noch sein, dass einzelne Areale seit dem Unfall anders funktionieren. Der Mann muss noch einmal in die Röhre, diesmal in einen Positronen-Emissions-Tomographen. Der bildet ab, wie stark die einzelnen Bereiche im Gehirn aktiviert, also durchblutet sind. Müller:

    "Und da fanden sich Veränderungen bei diesem Patienten im frontalen und im temporalen Lappen. Also genau in den Hirnarealen, die wir mit Aggressionskontrolle, auch mit der Regulation von Sexualverhalten in Verbindung bringen. Und das war so erstaunlich, weil, obwohl wir überhaupt keine Veränderung der Hirnmorphologie gefunden haben, haben wir gezeigt, dass die Veränderung der Hirnfunktion offensichtlich schon hinreichen kann, dass das eine Verhaltensänderung und solche Straftaten nach sich ziehen kann."

    Kernspin- oder PET-Aufnahmen werden von den Gerichten nicht extra angeordnet. Es bleibt dem Gutachter überlassen, mit welchen Methoden er arbeiten will. Für Jürgen Müller gehören bildgebende Verfahren einfach zu einer sauberen Diagnostik dazu. Hirntumore. Schlaganfälle. Durchblutungsstörungen. Solche Befunde können - im Einzelfall - das Verhalten eines Menschen erklären. Die Detailaufnahmen vom Gehirn wecken aber noch eine ganz andere Hoffnung: Herauszufinden, was Verbrecher generell von normalen Bürgern unterscheidet.

    Die Suche nach den Wurzeln des Bösen. Die Frage nach dem Warum. Sie ist so alt wie die Menschheit. Die moderne Wissenschaft soll die Antworten darauf finden. Und so fahnden Neurowissenschaftler nach jeder noch so kleinen Auffälligkeit im Gehirn. Die Suche hat gerade erst begonnen. Das Gehirn ist hochkomplex, und Forschung mit Schwerverbrechern schwierig. Doch sie findet statt. In manchen US-amerikanischen Gefängnissen gibt es dafür extra Labors. Auch in Deutschland werden Kriminelle untersucht; unter anderem in Mannheim, Tübingen, Rostock und Göttingen. Schwer bewacht werden die Probanden in die Forschungsinstitute gebracht und in Tomographen gelegt. Dort lösen sie Aufgaben, schauen sich Bilder an von kleinen Hunden oder nackten Frauen, spielen Glücksspiele, während Hirnforscher die Reaktionen in ihren Köpfen vermessen.

    Die Studien haben ihre Tücken. Oft gibt es nur eine Handvoll Probanden. Die Abweichungen sind winzig. Es ist schwierig abzuschätzen, wie aussagekräftig die Ergebnisse tatsächlich sind. Und trotzdem gibt es erste Anhaltspunkte. Bei vielen Gewaltverbrechern scheinen die Hirnareale, die Angst und Aggression, Impulskontrolle, Verlangen und moralisches Verhalten steuern, anders zu funktionieren. Das sind Bereiche im so genannten Frontallappen, das ist der Teil des Gehirns, der hinter unserer Stirn liegt, und Bereiche des Schläfenlappens. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Tumore, Durchblutungsstörungen, Verletzungen, schlimme Kindheitserfahrungen. Und auch: die Gene.

    Jungen, die in einem gewalttätigen Umfeld aufwachsen, neigen als Erwachsene ebenfalls dazu, Gewalt anzuwenden. Das ist das Ergebnis einer Langzeitstudie aus Neuseeland, die mehr als 1000 Kinder seit den 1970er-Jahren begleitet hat. Die Frage ist: Welche Kinder werden gewalttätig? Im Jahr 2002 haben sich britische Genetiker das Erbgut von einigen Studienteilnehmern vorgenommen. Bei den gewalttätigen Männern waren eine Handvoll Gene verändert – Gene, die in den Stoffwechsel des Gehirns eingreifen. Wenn sie nicht richtig funktionieren, können sie das Gehirn indirekt verändern und so möglicherweise zu aggressivem Verhalten führen. Warrior genes heißen sie im Fachjargon: Krieger-Gene. Müller:

    "Dass bei Straftätern psychiatrische Störungen vorliegen, ist die eine Seite, dass man mit bildgebenden Verfahren Veränderungen nachweisen kann, ist die andere Seite, dass man bei beiden Rückschlüsse auf die Therapieerfordernisse ziehen kann, ist wieder eine weitere Seite, und was das alles wieder mit der Beurteilung von Schuldfähigkeit und Prognose zu tun hat, ist eine weitere Frage, die wir noch beantworten müssen, also wir haben hier ganz viele verschiedene interdisziplinäre Facetten, die also momentan noch ganz, ganz viele Fragen aufwerfen, als dass wir, wie mancherorts gefordert wird, diese juristischen Fragen mit dem Scanner im Gerichtssaal beantworten könnten."

    James Fallon, der Neurowissenschaftler aus Irvine, Kalifornien, wird ebenfalls oft von Strafverteidigern angerufen. Fallon soll dann die Hirnscans ihrer Klienten, von Massenmördern bis Kinderschändern, beurteilen. Das Gespräch mit seiner Mutter beim Familien-Barbecue lässt ihm keine Ruhe. Es trifft sich gut, dass seine Familie gerade an einer Alzheimer-Studie teilgenommen hat, als Kontrollpersonen. Ihre Gehirne wurden durchleuchtet, ihr Erbgut analysiert. James Fallon fordert die Daten an und wertet sie erneut aus.

    "Alle aus meiner Familie waren normal. Ihre Hirnscans, ihre Gene: normal. Nur meine waren – das war die große Überraschung – meine waren total abnormal."

    In seinem Erbgut findet er gleich mehrere Krieger-Gene. Und sein Hirnscan zeigt: Einige Bereiche im Frontal- und Schläfenlappen, die Zentren für Angst und Kontrolle, moralisches Verhalten, sie sind so gut wie gar nicht durchblutet.

    "Es sind die gleichen Areale, die auch bei vielen Mördern nicht richtig funktionieren. Mein Gehirn sieht genauso aus wie das von den Mördern, die ich begutachtet habe. Und dazu noch die Risikogene. Ich war der Angeschmierte! Ich meine, ich habe mich seit Jahren mit dem Thema befasst. Und plötzlich liegen da vor mir Bilder von einem Gehirn, das ziemlich krank aussieht, das zu einem Psychopathen passen würde….It didn't look good."

    Psychopathen. Von allen Kriminellen sind sie am besten erforscht. Von allen Kriminellen sind sie die schlimmsten. Sie haben die höchste Rückfallquote. Psychopathen lieben das Risiko. Gleichzeitig sind sie eiskalt. Sie kennen kein Mitgefühl. Jürgen Müller:

    "Ein delinquenter Lebensentwurf, ein devianter Lebensentwurf, kenntlich daran, dass man immer wieder Straftaten begeht, einen kriminellen Lebensstil pflegt, und das andere ist diese emotionale Symptomatik, diese emotionale Losgelöstheit, eine Grandiosität, ein Narzissmus, so einen oberflächlichen Charme, dieses sozial gewinnende Interaktive, das dann andere manipulierbar macht."

    Psychopathie ist eine schwere Persönlichkeitsstörung. Die Merkmale sind klar umrissen, können aber bei jedem ganz unterschiedlich ausgeprägt sein. Mit speziellen Interviews können Experten den Grad der Psychopathie ermitteln. Auch Niels Birbaumer von der Universität Tübingen führt regelmäßig solche Interviews. Vor einigen Jahren hat sich der Neurobiologe auf die Suche nach den biologischen Ursachen der Psychopathie gemacht.

    "Uns hat eben interessiert, warum Schwerverbrecher eben so große Schwierigkeiten haben, prosoziales Verhalten in bestimmten Situationen zu lernen, also ein Lernproblem, das die haben."

    Das schwierigste dabei war, die Verbrecher für die Studie zu gewinnen. Birbaumer:

    "Ja. Die Ausschreibung, das ist mehr oder weniger erfolgreich, also meistens kommt da niemand. Sondern wir haben bei der ersten Untersuchung in einem großen Berliner Gefängnis, in Moabit, die Leute, die freigelassen wurden, sozusagen direkt vor der Gefängnistür abgewartet und versucht, sie mit Geld in diesen Versuch zu locken. Natürlich wollen sie wie wir alle Geld und sind sehr scharf auf Geld, und deswegen verwenden wir Geld als den hauptsächlichen Motivator. Wir haben noch nie jemanden so gut bezahlt wie die Schwerverbrecher. Und die kriegen, wenn sie frei sind, hohe Summen, damit sie an dem Experiment teilnehmen. Trotzdem, da würde jeder gesunde Mensch dran teilnehmen für so viel Geld, also 200, 300 Euro für zwei, drei Stunden."

    Die Hirnforscher haben den Ex-Sträflingen damals Bilder von Gesichtern gezeigt und ihnen gleichzeitig einen Finger eingeklemmt. Gesunden Menschen werden die Gesichter schnell unsympathisch; sie verbinden die Gesichter mit dem Schmerz, und vor dem Schmerz haben sie Angst. Ein ganz normaler Lernprozess. Birbaumer:

    "Diese Fähigkeit, dass wir Schaden vorhersehen können, erfordert Furcht. Ohne Furcht gehen wir eben bei Rot über die Straße. Und wir fanden eben bei einer Gruppe von elf Schwerstverbrechern, die aber auf freiem Fuss waren zum damaligen Zeitpunkt, dass dieses System eben vollkommen still ist."

    Die Wahrnehmung von Angst ist hochkomplex. Das Furchtsystem erstreckt sich über mehrere Regionen im Gehirn. Eine große Rolle spielt die Inselregion im Schläfenlappen. Sie sorgt dafür, dass wir die Angst spüren können, dass wir in gefährlichen Situationen kalte Hände, Bauchweh oder Schweißausbrüche bekommen. Bei den psychopathischen Verbrechern war die Inselregion nicht aktiv. Das Gefühl der Angst blieb aus. Niels Birbaumer:

    "Im Kopf können die das perfekt, denn viele der Leute sind intelligent. Und sie können genau vorhersagen, welche Folgen ihr Tun hat, und deshalb wundert man sich bei Gerichtsverfahren und in der Presse, Öffentlichkeit immer und sagt: 'Na ja, der Mensch weiß ja, was er getan hat, also ist er schuldig, also hat er gar kein Problem, der ist wie alle anderen, der hat das absichtlich gemacht.' Ja, und das muss man ein bisschen differenzierter sehen, natürlich sehen die das vorher, aber sie haben eben keine Kontrolle über das Verhalten, sehr oft, weil eben zur Kontrolle des Verhaltens das Gefühl wichtig ist, und das fehlt."

    Jürgen Müller: "So eine Grandiosität, so ein Narzissmus, so einen oberflächlichen Charme, dieses sozial gewinnende Interaktive, das dann andere manipulierbar macht."

    Risikofreude. Abenteuerlust. So ein oberflächlicher Charme.

    James Fallon: "Ein paar Menschen, die mir sehr nahe stehen, haben dann zu mir gesagt: Ja, du hast etwas Psychopathisches."

    James Fallon sagt, dass er Menschen mühelos in seinen Bann ziehen kann. Das war schon zu Schulzeiten so.

    "Wenn Sie mich in einem Restaurant kennenlernen würden, oder auf einer Party, dann würden Sie wahrscheinlich denken, dass ich ein sehr netter, umgänglicher Typ bin und mich wirklich für das interessieren würde, was Sie erzählen."

    Doch das tut er nicht. Sein Interesse bleibt oberflächlich. Fallon bleibt emotional distanziert. Ganz egal, ob es um einen Fremden oder um seine eigene Familie geht.

    "Es gibt da noch andere Sachen. Seit ich denken kann, fühle ich mich zu großen, gefährlichen, wilden Tieren hingezogen, wissen Sie, Bären und Bullen und Löwen. Und dabei bringe ich auch andere Menschen in Gefahr."

    In Afrika geht er mit seinem Sohn an einem Fluss angeln, obwohl ein paar hundert Meter weiter Löwen lauern. Er rennt mit den Bullen in Pamplona, spaziert durch virenverseuchte Höhlen, stürzt sich mit Skiern den Abhang herunter. James Fallon ist Professor für Neurowissenschaften. Er sagt, dass er in seinem Leben noch nie eine Straftat begangen habe.

    "Ich habe den Hirnscan von jemandem, der kein Gewissen hat, keine Moral. Der impulsiv ist. Ich bin impulsiv. Aber nur, weil mein Gehirn so aussieht, heißt das nicht, dass ich mich auch kriminell verhalte. Nein! Ein Gehirnscan allein sagt nichts aus. Auch die Gene sagen nichts aus. Beides zusammen machen die Sache vielleicht ein bisschen klarer, aber noch lange nicht eindeutig. Es gibt noch einen dritten Faktor, und der ist entscheidend: Die Umwelt. Wenn man in einem schlechten Umfeld aufwächst, wenn man geschlagen oder missbraucht wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man tatsächlich zu einem Gewalttäter wird. Auf der anderen Seite kann ein gutes Umfeld die anderen Risikofaktoren, die Gene und das Gehirn, offenbar aushebeln. Dann wird man zu jemandem, der sehr erfolgreich ist. Und ich war immer erfolgreich, in allem, was ich getan habe."

    James Fallon erzählt von seiner glücklichen Kindheit. Seine ganze Familie war dankbar, dass es ihn gab. Seine Mutter hatte vor ihm einige Fehlgeburten erlitten. Der kleine James wurde geliebt, manchmal mehr, als er verdient habe, sagt er. James Fallon zählt zu den so genannten erfolgreichen Psychopathen, von denen Niels Birbaumer sagt, das seien die gefährlichsten. Mit ihrem Charme, ihrer Skrupellosigkeit und ihrem Mut zum Risiko schaffen sie es in die Chefetagen von Konzernen, in die Politik. Den kriminellen Psychopathen sind sie einen entscheidenden Schritt voraus. James Fallon:

    "Ich kann auch sehr wütend werden, aber offenbar habe ich Mechanismen entwickelt, um mich zu beruhigen. Ich bin in einem Umfeld groß geworden, in dem Gewalt nicht toleriert wurde, und habe für mich Verhaltensweisen entdeckt, mit denen ich meine oft große Wut kontrollieren kann. Ich kann aber immer noch sehr sauer werden."

    Den geborenen Kriminellen gibt es nicht. Selbst wenn die Anlagen da sind: Letztendlich macht uns unser Umfeld zu dem, was wir sind. Das ist unter Forschern unumstritten. Jeder zweite Psychopath führt ein ganz unauffälliges Leben. Und selbst wenn man bei vielen Gefangenen Tumoren oder Durchblutungsstörungen im Gehirn feststellt, die ihr Verhalten beeinflussen - dieselben Befunde gibt es auch bei ganz normalen Bürgern.

    "Untersuchungen zufolge haben ungefähr 20 bis 25 Prozent der Normalbevölkerung Veränderungen im Gehirn, ohne dass die irgendwas haben. Das ist sehr viel."

    Jürgen Müller, forensischer Psychiater aus Göttingen.

    "Also wenn so viele Menschen Veränderungen haben, ohne dass das eine Relevanz hat, ohne dass die beeinträchtigt sind im Alltag, dann muss das Gehirn in der Lage sein, diese Veränderungen zu umschiffen, zu umgehen, und zu einer normalen Funktion zurückzukehren, und das ist meines Erachtens ein ganz normaler Forschungsansatz, der bislang noch nicht mal im Fokus der Forschung steht."

    Manche können die Fehlfunktionen ihres Gehirns offenbar ausgleichen, manche nicht. Deshalb wird es nie möglich sein, allein anhand eines Hirnscans das Verhalten eines Menschen zu beurteilen. Andererseits: Wenn es generell möglich ist, die Fehlfunktionen im Gehirn zu kompensieren, dann können Schwerverbrecher das vielleicht auch. Sie können es lernen. Davon ist Niels Birbaumer überzeugt.

    "Und in der Öffentlichkeit dann auch, man sagt dann: 'Na das ist ein Hoffnungsloser Fall, da ist eh nichts zu ändern.' Und hirnphysiologisch müssen wir sagen, das ist bei so einem komplexen Verhalten gar nicht vorstellbar. Das gibt es nicht, sondern man kann jedes Verhalten dieser Art ändern. Die Frage ist nur wie. Und wie verlässlich und wie zuverlässig kann ich das verändern."

    Wenn Gewaltverbrecher keine Angst empfinden können, dann müssen sie eben wieder lernen, Angst zu empfinden. Birbaumer:

    "Wir haben ja vorher festgestellt, dass diese Furchtareale im Gehirn still sind. Ich sag bewusst still, weil man nimmt oft an, dass die tot sind, dass die überhaupt defekt sind, und das scheint aber nicht der Fall zu sein. Sondern die scheinen nicht zu arbeiten, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Also, wenn das stimmt, dann muss man ein Training entwickeln, das diese Hirnteile wieder aktiv macht."

    Birbaumers Trainingsansatz heißt Biofeedback. Die Methode ist ganz einfach. Der Proband liegt in einem Kernspintomographen. Dort wird seine Hirntätigkeit gemessen und ihm gleichzeitig vorgespielt, auf einem Bildschirm. Der Proband sieht zum Beispiel einen roten Punkt, und dieser Punkt wird immer größer, je aktiver das Hirnareal ist – also je besser es durchblutet wird. Birbaumer:

    "Obwohl Sie Ihre Gehirntätigkeit nicht spüren, wenn ich Sie Ihnen auf dem Bildschirm vorspiele, nach einiger Zeit merken Sie, was Sie denken müssen, damit sich was verändert, und über diese Rückmeldung wie bei jedem Sport, wie wenn Sie Radfahren lernen oder Skifahren lernen, da merken sie auch, wenn Sie vom Rad runterfallen, lernen Sie, das richtig zu machen bei der Rückmeldung. Genauso ist es hier, und die meisten Menschen können das recht gut erlernen."

    Vor vier Jahren hat das Team aus Tübingen zum ersten Mal psychopathische Sexualstraftäter darauf trainiert, die Inselregion im Gehirn gezielt zu aktivieren. Davor und danach mussten sich die Männer Bilder anschauen: Schöne von kleinen Kindern und hübschen Landschaften, aber auch schreckliche von schweren Unfällen und verstümmelten Menschen. Und tatsächlich: Die Probanden reagierten auf einmal deutlich sensibler auf die Bilder. Birbaumer:

    "Und das geht einher mit dem Erlernen der Wiederdurchblutung des Hirnareals. Und bei den Verbrechern ist es genauso wie bei den Gesunden, nur brauchen die einfach länger, um das wieder zu erlernen, aber am Schluss können sie es alle. Wenn ich sage alle - es sind bisher ganz wenige, die das gemacht haben, und deswegen haben wir das auch noch nicht publiziert."

    An der Pilotstudie hatten sechs Verbrecher teilgenommen. Und die waren damals schon auf freiem Fuß. Nach dem Training sind sie einfach verschwunden. Die Forscher hatten keine Chance, zu überprüfen, wie sich das Biofeedback tatsächlich auf das Verhalten der Sträflinge auswirkt. Die Tübinger wollen die Methode jetzt an einer größeren Gruppe testen: direkt im Gefängnis. Niels Birbaumer hat etliche Vollzugsanstalten in Baden-Württemberg angefragt, aber alle haben abgelehnt.

    "Ein Teil der Gefangenen verspricht sich eine Verbesserung des Verfahrens, eine frühzeitige Entlassung von solchen Untersuchungen, auch wenn man ihnen das erklärt, dass das nicht der Fall ist, das führt natürlich dazu, dass viele Gefängnisse, viele Bundesländer in Deutschland, aber auch weltweit, diese Untersuchungen nicht zulassen."

    Ein Hochsicherheitsgefängnis aus Niedersachsen, die JVA Celle, ist das Experiment Biofeedback schließlich eingegangen. Die Studien laufen bereits, die Kooperation mit der Gefängnisleitung und den Gefängnispsychologen sei gut, sagt Niels Birbaumer. Jedes Jahr nehmen zehn Gefangene an dem Biofeedback-Training teil.

    "Also, das sind Leute, die mehrfach Frauen vergewaltigt haben und dann ein oder zwei oder mehr getötet haben dabei, ist fast immer dasselbe."

    Alle bekommen ein spezielles Verhaltenstraining, ein Anti-Aggressions-Training. Zusätzlich aktivieren sie mit der Biofeedback-Methode ihre Inselregion im Gehirn. Weil es in der JVA keinen Kernspintomographen gibt, wird die Hirntätigkeit vor Ort mit einer einfacheren Methoden gemessen – mit infrarotem Licht. Journalisten sind dabei unerwünscht. Das niedersächsische Justizministerium und die Gefängnisleitung wollen vorerst nicht an die Öffentlichkeit. Niels Birbaumer:

    "Ja, wir haben erste Ergebnisse, dass das klappt im Prinzip, dass das funktioniert - das war schon einmal das wichtigste - und dass es ausreichend viele Leute gibt, die da gerne mitmachen würden. Ihre Frage war berechtigt: Wie lange hält das? Weiß ich nicht. Also es ist ganz klar, dass das einen Effekt hat, dieses Hirntraining. Es ist nur noch die Frage, ist es außerhalb der Situation, in der das trainiert wird, einsetzbar, und hält es lange genug an. Also , zum Beispiel wenn der Mann dann frei kommt, dann sieht er eine Frau die ihm gefällt, dass er sie dann nicht gleich vergewaltigt"

    Im Gefängnis lässt sich das kaum überprüfen. Alles, was die Forscher vor Ort machen können, ist: Bilder und Filme zeigen und schauen, wie die Insassen darauf reagieren.

    "Wäre natürlich besser, wenn man das in der Realität macht, aber Sie können ja auch diese Situation in der Wirklichkeit nicht herstellen, das ist ja unethisch, sie in Situationen bringen, in der sie eine Frau in Gefahr bringen, es ist sehr schwierig, das tatsächlich zu prüfen. Deswegen muss man sehr vorsichtig sein, wenn Leute in diesem Bereich irgendwelche Erfolge behaupten. Denn die Erfolge nachzuweisen ist fast unmöglich."

    Die Suche nach den Wurzeln des Bösen hat gerade erst begonnen. Die modernen bildgebenden Verfahren liefern Hinweise, keine Gewissheiten. Für Gutachter wie Jürgen Müller gehören Kernspin- und PET-Aufnahmen längst zum Alltag. Der Blick ins Gehirn kann dabei helfen, herauszufinden, was genau dem einzelnen Angeklagten fehlt – das kann ein Hirntumor sein, eine Verletzung - und dafür zu sorgen, dass er die richtige Therapie bekommt.

    "Ich denke schon, dass man das häufiger einsetzen kann, dass zu einer Diagnostik eine saubere Organdiagnostik dazugehört, das wird sehr selten gemacht, das könnte man sicherlich verbessern."

    Die Wurzeln des Bösen. Wer danach sucht, merkt irgendwann, dass es das Böse im Gehirn nicht gibt. Man findet nur ganz normale Reaktionen, Lernprozesse. Und die kann man ändern, sagt Niels Birbaumer.

    "Meine Hoffnung ist wie die jedes vernünftigen Gefängnispsychologen, dass wir die Rückfallquoten weiter drücken können. Das ist meine Hoffnung, dass wir also insgesamt – der Trend ist ja da."

    In Deutschland und in Schweden beispielsweise, wo verurteilte Verbrecher eine ganz traditionelle Verhaltenstherapie machen können, sinkt die Rückfallquote seit Jahren. Birbaumer:

    "Wenn der Trend bleibt, und wir bewirken können, dass wir den verstärken können durch das Wissen um das Gehirn, dann finde ich, dann wäre schon in zehn Jahren sehr viel passiert. Und wenn es nur fünf Prozent sind. Was sind schon fünf Prozent? Bei 300 toten Frauen im Jahr sind das schon ein paar, die leben."

    Die Suche nach dem Bösen. Für James Fallon, den Neurowissenschaftler mit dem Verbrecherhirn, wird sie zu einer Suche nach sich selbst.

    "Ich bin 63 und sollte eigentlich wissen, wer ich bin, aber so kann es kommen. Und das gibt mir die Gelegenheit, mich selbst zu hinterfragen. Was treibt mich an? Und warum behandele ich die Menschen um mich herum, wie ich es nun einmal tue, und nicht so, wie ich es sollte? Ich bin mir sicher, dass ich niemandem schaden will. Keiner von meinen Freunden, von meiner Familie, hält mich für gefährlich. Das ist es nicht. Es geht um etwas anderes. Darum, ob man wirklich lieben kann. Und zwar so, dass sich andere auch von dir geliebt fühlen. Das nicht zu können – das ist nicht kriminell, aber enttäuschend. Und ich bin froh, dass ich das jetzt weiß."