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Die Nord-Süd-Konfrontation

Es gibt die Flamen und die Wallonen. Es gibt zwei Kulturen, zwei Sprachen und ein Land. Die frankophonen Belgier haben ihre Politiker, eigene Medien und eine französisch ausgerichtete Kultur. In Flandern orientieren sich Politik, Medien und Kultur eher am Nachbarn Niederlande. Berührungspunkte gibt es kaum. Doch jetzt haben Journalisten von "De Standaard" und "Le Soir" sich gegenseitig über die Schultern geguckt. Doris Simon berichtet aus Brüssel:

    10 Uhr 30, Redaktionskonferenz bei der größten frankophonen Zeitung Belgiens, dem "Soir". In der Mitte des Großraumbüros, eingeklemmt zwischen Zeitungsstapeln und Computern, diskutiert der Chef vom Dienst mit den Ressortleitern die Themen des Tages.

    Einer in der Runde schreibt pausenlos mit: Das ist Karel Verhoeven, Redakteur bei "De Standaard", der größten flämischen Tageszeitung Belgiens. Nach der Redaktionskonferenz ruft Verhoeven seine Kollegen vom "Standaard" an um sie über die geplanten Themen im Soir zu informieren.

    "Alle Artikel des Soir kann der Standaard übernehmen und umgekehrt. Wir informieren uns gegenseitig, und dadurch erfahren wir auch, welches Gewicht welche Themen auf der anderen Seite der Sprachgrenze haben."

    Die gegenseitige Werkspionage ist Teil eines Projekts, das in Belgien Aufsehen erregt: Einen Monat lang arbeiten die Zeitungen Le Soir und De Standaard eng zusammen. Auslöser war eine fiktive Sendung über die Abspaltung Flanderns und Leitartikel mit gegenseitigen Beschuldigungen im Standaard und im Soir: Die Medien der anderen Seite wiederholten immer nur die selben Klischees und Vorurteile: Dass alle Flamen Separatisten sind und Rassisten und dass alle Frankophonen faul sind, anti-flämisch und nicht niederländisch lernen wollen. Allerdings machte Le Soir-Chefredakteurin Beatrice Delvaux in ihrem erbosten Leitartikel ihrem flämischen Gegenüber beim Standaard auch ein Angebot:

    "Ich habe Chefredakteur Peter Vandermeersch vorgeschlagen, wir sollten anstelle ewiger Anschuldigungen doch lieber journalistisch zusammenzuarbeiten, um hinter die Klischees zu schauen. Und da hat er sofort enthusiastisch zugesagt."

    Ein paar Wochen später trafen 20 Journalisten des Soir 20 Kollegen des Standaard, mitten im Industriegebiet vor den Toren Brüssels, wo die Redaktion des Standaards arbeitet. Für die Soir-Journalisten aus dem schönen Altbau an der Brüsseler Rue Royale war das der erste Kulturschock - und dann standen neben den vorbereiteten Sandwiches nur Wasserflaschen. Aber als die Soir-Journalisten ihren mitgebrachten Wein auspackten und ihre flämischen Kollegen korrekt auf niederländisch begrüßten, da war das Eis gebrochen. Alle wollten mitmachen, jeder aus einem anderen Grund, erzählt die Chefredakteurin:

    "Ein leitender Redakteur des Standaard sagte, er sei nun zwanzig Jahre Journalist und habe nie mit einem frankophonen Kollegen zusammengearbeitet. Ein bekannter Reporter von uns vom Soir, (...)der meldete sich, und das war auch ein bisschen als Provokation gemeint: Ich war in Bagdad, in Afghanistan, Pakistan und im Iran, aber ich habe noch nie aus Flandern berichtet, das interessiert mich."

    Der Titel der ersten gemeinsam konzipierten Ausgabe hieß: "Die Nord-Süd-Konfrontation". Darunter stand in beiden Zeitungen eine Umfrage, nach der über 90 Prozent der Wallonen, aber auch der Flamen, am belgischen Staat festhalten wollen.

    Doch kaum ein Belgier kennt sein Land wirklich. Es gibt keine belgischen Zeitungen, kein belgisches Radio und auch kein belgisches Fernsehen: Alles ist streng nach Sprachen getrennt. Flämische Medien haben Flandern im Fokus, frankophone Medien schauen auf die Wallonie und auf das weitgehend frankophone Brüssel. Standaard-Redakteur Karel Verhoeven ist das in den letzten Tagen beim Soir richtig deutlich geworden:

    "Hier arbeitet man in einem völlig anderen politischen Kontext. Das schafft größere Unterschiede, als ich vorher gedacht hatte. Das merkt man vor allem in der Behandlung politischer Themen, aber es zieht sich durch die ganze Zeitung hindurch: Hier beim Soir schreibt man über ein anderes Belgien als bei uns im Standaard."

    Wer wirklich wissen will, was in Belgien passiert, muss flämisch und französisch sprechen, abends zwischen RTBF und VRT hin- und herzappen und am besten noch eine flämische und eine frankophone Zeitung lesen. Das können und tun aber die wenigsten, deshalb nehmen sich nun einen Monat lang Standaard und Soir-Journalisten gemeinsam den Alltag vor, Themen aus Kultur, Mode, Gesundheit, Freizeit. Am liebsten spielen sie mit Vorurteilen, etwa: Flamen sind spießig und ziehen sich schlecht an. Das lesen viele Frankophone gerne, aber gleich darauf erfahren sie, dass die Flamen ihrerseits dasselbe von den Wallonen sagen. Im Standaard und im Soir kann jeder Belgier jetzt nachlesen, wie es wirklich aussieht. Wer führt die Hitlisten in Flandern an, wer sind die Stars in der Wallonie? Und warum wollen mehr Fläminnen ihre Kinder zu Hause zur Welt bringen als frankophone Belgierinnen?

    Die meisten Leser unterstützen die Initiative ihrer Zeitungen, Leserbriefe, zeitungseigene Blogs und Online-Foren sind voller Zustimmung. Und einige neue Leser hat zumindest "Le Soir" mit der journalistischen Gemeinschaftsaktion dazugewonnen, so wie Benoît Vierset :

    "Das Projekt müsste viel länger als nur einen Monat laufen, auch in anderen Zeitungen. Das müsste es eigentlich immer geben."