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Die Normandie - 60 Jahre nach der Landung der Alliierten

Eine Dampfwalze rollt über den frischen Teerbelag oberhalb der Ortschaft Arromanches am Atlantik. Auf den Feldern an der landeinwärts gelegenen Seite der Küstenstraße sind Parkplätze entstanden. Der Bedarf ist groß: In Arromanches wird am 6. Juni die gemeinsame Feier der Staats- und Regierungschefs zum 60. Jahrestag der Alliierten Landung stattfinden. Erstmals werden an einer Gedenkveranstaltung zum D-Day auch der russische Präsident und der deutsche Bundeskanzler teilnehmen. Wie überall in der südlichen Normandie hat der Krieg auch hier Spuren hinterlassen. In der Atlantik-Bucht liegen mehrere rostige Stahlblöcke.

Von Christoph Heinemann |
    "Dort sehen Sie die Reste des künstlichen Hafens von Arromanches", erklärt die Touristenführerin. Dann zieht sie ein Foto aus der Tasche: "Hier die schwimmenden Zufahrtsstraßen zu den Anlegestellen, über die die Soldaten, die Fahrzeuge und das Material an Land gebracht wurden. Jede dieser Anlegeplattformen ist etwa 20 Meter hoch, das entspricht der Höhe eines fünfstöckigen Wohnhauses".

    Dann folgen Zahlen: Planung: zwei Jahre. Gebaut wurde ab dem 7. Juni und nach 12 Tagen war der Hafen von Arromanches fertig. Vom Panzer bis zum Teelöffel - alles, was für die Schlacht in der Normandie benötigt wurde, rollte zunächst über den britischen Hafen Arromanches und die zweite weiter westlich gelegene amerikanische Hafenanlage an Land. Das Ziel: Die Alliierten wollten zunächst die Cotentin-Halbinsel abschneiden. Die Amerikaner sollten nach Nordwesten Richtung Cherbourg vorstoßen, die Briten die Stadt Caen einnehmen.

    Die Operation Overlord, die Landung, war der Beginn der Befreiung Europas. In der Nacht vom 5. zum 6 Juni 1944 wurden zunächst Luftlandetruppen und Infanterie abgesetzt. Im Osten im britischen Sektor die Lastensegler an der Pegasus-Brücke bei Bénouville, die über die Orne führt - Voraussetzung für den Vorstoß nach Caen. Im westlichen amerikanischen Sektor landeten Fallschirmspringer im Hinterland - in Sainte-Marie-du-Mont und Sainte-Mère-Eglise.

    Die Turmuhr der Kirche von Sainte-Mère-Eglise schlägt 2.00 Uhr. Die kleine Ortschaft liegt an der Straße, die Caen mit der Hafenstadt Cherbourg verbindet. Einsatzgebiet der 82. US-Luftlandedivision.

    "Ich bin hier mit der ersten Welle gelandet", erzählt US-Veteran Howard Manoian, der damals 19 Jahre alt war.

    "Ich hatte Angst, das ist doch normal. Es war Nacht, dunkel, ich konnte nichts sehen. Ich kam hinter der Kirche runter und fand dort drei Männer, die in meinem Flugzeug gesessen hatten. Als wir auf die Hauptstraße kamen, sah ich die Umrisse einer Gruppe, die sich uns schnell näherte. Sie fuhren auf Fahrrädern. Das konnten nur Deutsche sein, denn wir hatten natürlich keine Räder. Ich habe meinen Männern gesagt, sie sollten sich für einen Kampf bereitmachen. Aber die Deutschen hatten uns nicht bemerkt. Deshalb flüsterte ich meinen Leuten zu: `Lasst sie fahren!` Sie fuhren vorbei und verließen die Stadt.

    "Der D-Day hat begonnen", meldet die britische BBC am 6. Juni 1944. Unter General Dwight David Eisenhower beginnt ab 6.30 Uhr die Landung auf den amerikanischen Strandabschnitten mit den Decknamen Utah und Omaha, später in den beiden britischen Sektoren Gold und Sword und dem kanadischen Juno-Beach. Ein Reporter des amerikanischen CBS-Radios berichtet am gleichen Tag.

    Der Oberbefehlshaber der Alliierten wendet sich über den Rundfunk an die Menschen in West-Europa:

    Die Landung sei Teil des Plans zur Befreiung Europas, der zusammen mit den großen russischen Verbündeten durchgeführt werde. "Die Stunde der Befreiung ist nahe", kündigt General Eisenhower an.

    Dieses Gefühl hat auch Andrée Auvray, die 1944 17 Jahre alt ist und auf einem Bauernhof in der Nähe von Sainte-Mère-Eglise lebte.

    In der Nacht vom 5. auf den 6. Juni begannen die Hunde auf einmal zu bellen. Ich bin nach draußen gegangen und habe ein Paar Männer gesehen. Ich habe gleich die Hände gehoben. Es waren aber keine Deutschen, sondern Amerikaner. Das war ein Glücksgefühl. Okkupation ist das Fehlen jeglicher Freiheit. Trotz der Gefechte war Sainte-Mère-Eglise gegen 4.00 Uhr morgens befreit und die amerikanische Fahne wehte über dem Rathaus.

    Im Regen wirken die Bunkeranlagen von Longues-sur-mer noch trostloser, als im Sonnenlicht. Am Küstenstreifen wenige Kilometer von Arromanches entfernt, sind noch heute die Stellungen und die schweren Geschütze des so genannten Atlantikwalls zu besichtigen. Zweieinhalb Meter dicke Mauern umgeben die Kanone mit einer Reichweite von 17 Kilometern. Wenige Wochen vor der Landung inspizierte der für diese Anlagen verantwortliche Oberkommandierende die Abwehrstellungen. Unfreiwillig lernte die damals jugendliche Andrée Auvray Generalfeldmarschall Erwin Rommel kennen.

    Deutsche Soldaten kamen eines Nachts und sagten: "Wir müssen Räume requirieren!" Da im oberen Stockwerk alle Zimmer belegt waren und die Kinder schliefen, meinten sie, ich solle unten in der Küche Feuer machen und zusätzliche Stühle holen. Dann hieß es, ich sollte wieder nach oben gehen und erst wieder herunterkommen, wenn mir das gestattet würde. Später hörte ich Schritte auf der Treppe. Dann wurde an meine Türe geklopft und geöffnet. Da stand ein Deutscher, der mich fragte: "Sind meine Offiziere nicht hier?" Ich sagte: "Nein, die sind unten". Der Mann schloss die Türe wieder. Etwas später knallten unten Hacken zusammen. Am nächsten Morgen gegen 8.30 Uhr klopfte ein Ordonnanz-Offizier an meiner Türe und sagte: "Madame, Sie können jetzt wieder in ihre Räume unten zurückkehren. Ich muss Ihnen zuvor aber noch die Entschuldigung unseres Chefs Rommel überbringen, der heute Nacht versehentlich Ihr Zimmer betreten hat." Rommel war ein sehr korrekter Herr. Er war ganz durcheinander, als er mich da auf der Bettkante sitzen sah.

    Der Erfolg der Landung hatte mit mehreren Fehleinschätzungen zu tun: Hitler erwartete die Invasion im nördlichen Pas-de-Calais und nicht in der Normandie und hielt tagelang Panzerverbände zurück. Die Marine wiederum rechnete damit, dass die Alliierten nur bei Flut an Land gehen könnten. Vollmond, eine ruhige See und Ebbe waren demgegenüber die Bedingungen, unter denen General Eisenhower die Landung wagen wollte. Dafür kamen im Juni 1944 nur der fünfte, sechste oder siebte in Frage. Anton Herr, damals Chef einer Panzerkompanie erinnert sich:

    Ich weiß den Ort nicht mehr. Das war oben auf der Steilküste. Ich guckte da von oben runter. Und da sah ich sie. Das sah aus wie ein Heuschreckenschwarm.

    Bis Juni 1944 formte der Felsbrocken der Pointe du Hoc zwischen den Küstenabschnitten Utah und Omaha einen gewaltigen Torbogen. Der Granitblock hielt den Bombardierungen nicht stand, die Verbindung zum Festland zerbrach. Die Erde oben auf der Steilküste ist mit Bombenkratern übersäht. Dass die schweren Abwehrkanonen der Deutschen am D-Day gar nicht an Ort und Stelle standen, sondern wegen Bauarbeiten an Bunkern ins Hinterland verlegt worden waren, wussten die Alliierten nicht. 225 Ranger kletterten mit Strickleitern die Steilküste hinauf, etwa 50 starben im Kugelhagel. Der Fallschirmspringer Howard Manoian erfuhr in einem britischen Militärhospital von der Erstürmung der Pointe du Hoc. Sein Bettnachbar hatte bei dem Einsatz einen Arm verloren.

    Er sagte mir, sie hätten die Klippen hochklettern müssen. Ich fragte: "Was?" Er sagte: "Oben standen die Deutschen mit Maschinengewehren und wir mussten hochklettern". Ich habe nachgedacht und ihn gefragt: "Um da hochzuklettern, braucht man doch beide Hände. Wenn die oben schießen und du hochkletterst, kannst du doch nicht zurückschießen. Welcher blöde Hundesohn hat das denn befohlen? Warum haben die Generäle nicht ein Fallschirm-Bataillon hinter den Deutschen abgesetzt? Die Leute hatten doch keine Chance, als sie da hochkletterten. Und doch haben sie es geschafft."

    Trotz schwerer Verluste vor allem im amerikanischen Abschnitt Omaha, gelingt es den Alliierten, am 6. Juni an allen Landeabschnitten Brückenköpfe zu bilden. Für den damals 24 Jahre alten Panzerhauptmann Anton Herr war das für den Kampf im Westen die Vorentscheidung.
    Der Rommel hat gesagt: "Wenn wir sie nicht in den ersten Tagen wieder zurücktreiben, dann haben wir den Krieg verloren".

    Jean Mignon erlebte den D-Day als 14 Jahre alter Junge in seiner Heimatstadt Saint-Lo, der Hauptstadt des Departements Manche. Am Morgen des 6. Juni erfuhr der Messdiener durch den Küstern von der Landung der Alliierten. Abends stand in Saint-Lo und in mehreren anderen Städten des Cotentin kein Stein mehr auf dem anderen.

    Jedesmal wenn ich hierherkomme, frage ich mich, ob es wahr sein kann, dass ich die Stadt so gesehen habe", meint Jean Mignon und zeigt auf ein Foto. Der pensionierte Verwaltungsbeamte betreut die Gedenkstätte der Stadt St.-Lo, die durch alliierte Luftangriffe zu 95 Prozent zerstört wurde. Mindestens 450 Menschen starben in dem Inferno. Bis heute ist der Grund für diese Bombardierung nicht geklärt.

    "Kurz nach dem 11. September kam ein Paar aus New York hierher", erzählt Jean Mignon. "Als sie diese Fotos gesehen haben, sagten sie: `wir haben jetzt auch unsere Ruinen, aber die sind nichts verglichen mit der Zerstörung einer ganzen Stadt".

    Im vergangenen Jahr seien auch nach St.-Lo weniger amerikanische Touristen gekommen, als in den Vorjahren. Eine Folge der Spannungen zwischen Paris und Washington wegen des Krieges im Irak.

    Wir haben doch das Recht, Dinge anders zu beurteilen und nicht mit allem einverstanden zu sein. Nur: anders, als es in den USA dargestellt wurde, haben wir deshalb nicht vergessen, was die Amerikaner 1944 für uns getan haben. Dieser Vorwurf hat uns geschmerzt. Diese armen junge Soldaten hatten keine Ahnung davon, was sie hier erwartete. Sie sind auf unseren Feldern und unseren Stränden gestorben, damit ich wieder frei sein konnte.

    Auch Howard Manoian hat kein Verständnis dafür, dass manche US-Medien einen Zusammenhang zwischen dem D-Day und dem Irakkrieg hergestellt haben. Der amerikanische Veteran, der nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten als Polizist gearbeitet hat, lebt seit seiner Pensionierung in der Nähe von Sainte-Mère-Eglise, wo er am 6. Juni 1944 gelandet ist. Nie hätten es die Franzosen an Dankbarkeit fehlen lassen, versichert Manoian. Zum Irakkrieg möchte er sich nicht äußern, gibt aber dann indirekt doch eine Antwort: "Als Amerikaner meine ich, die Befreiung Europas war unser letzter guter Krieg".

    Sainte-Mère-Eglise, die Ortschaft, die durch den Fallschirmspringer berühmt wurde, der am Dach der Kirche hängen blieb, lädt jedes Jahr die Veteranen der 82. US-Luftlandedivision ein.

    Seit Monaten wird im Rathaus an der Vorbereitung des Jahrestags der Landung gearbeitet. "Wir benötigen eine Infrastruktur, um in den nächsten Wochen 30-60.000 Besucher aufzunehmen, und das in einer kleinen Kommune von 1.600 Einwohnern", erklärt Bürgermeister Marc Lefevre.

    Rund 150 Veteranen werden mit ihren Familien in Sainte-Mère-Eglise erwartet. Viele werden zunächst zur Kirche gehen, an deren Dach während des ganzen Jahres eine Puppe an einem Fallschirm hängt.

    Die Befreiung, die vom Himmel kam, dieser Fallschirmspringer am Kirchturm - und der Kirchturm steht in Frankreich für die Dörfer und kleinen Ortschaften also für die Befreiung des ganzen Landes - das ist ein sehr starkes Bild.

    Marc Lefevre weiß, dass der 60. Jahrestag voraussichtlich die letzte große Gelegenheit sein wird, um zusammen mit den Kriegsteilnehmern die Befreiung zu feiern. Und die Zukunft? "Manchmal ertappe ich mich beim Träumen", gesteht er.

    Ein Zentrum für französisch-amerikanische Beziehungen möchte der Bürgermeister in seiner Gemeinde ansiedeln. Eine Art Brücke zu den USA. "Unser Ort ist in den gesamten Vereinigten Staaten bekannt. Immer wenn sich in Frankreich etwas ereignet, was mit den USA zu tun hat, wollen die US-Medien gleich wissen, was der Bürgermeister und die Bürger von Sainte-Mère-Eglise darüber denken.

    "Der D-Day-Tourismus spielt hier eine sehr wichtige Rolle, meint Regionalratspräsident Philippe Duron, der Regierungschef der Basse Normandie. "Kamen vor 30 Jahren überwiegend Briten und Amerikaner, so besuchen heute Menschen aus ganz Europa die Strände und die Museen", erklärt Mr. Duron. Das große Memorial für den Frieden in Caen, halb Museum halb Forschungs- und Begegnungsstätte, möchte der Regionalratspräsident langfristig zu einem Zentrum für Menschenrechte ausbauen. Vom Erinnerungstourismus und der Landwirtschaft allein kann die Region allerdings nicht leben. "Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die Deindustrialisierung und den drohenden Niedergang vor allem der Rüstungsindustrie zu stoppen sowie Unternehmen zu bewegen, hier zu investieren. Ein erster Schritt ist geschafft: der Konzern Philipps beabsichtigt, in Caen einen Technologiecampus zu gründen."

    Dass Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Jahrestag in die Normandie kommt, freue ihn, sagt Philippe Duron.

    Ich freue mich auch als Sozialist, ein führendes Mitglied der SPD begrüßen zu können. Leider hat einer meiner politischen Freunde auf die Einladung des deutschen Bundeskanzlers ausgesprochen negativ reagiert. Das war unangebracht.

    Der 72 Jahre alte frühere Minister Louis Mexandeau hatte gefordert, vor einer Teilnahme des Bundeskanzlers müsse Deutschland Reparationszahlungen leisten. Aber selbst in seiner Generation denken viele inzwischen anders.

    Man darf keinen Haß bewahren", sagt Andrée Auvray, die die Befreiung in Sainte-Mère-Eglise erlebt hat. "Diese Ereignisse müssen den jungen Menschen als Beispiel dafür dienen, zu welch schrecklichen Taten Intoleranz führen kann.

    Mehr als 100.000 Soldaten und über 15.000 Zivilisten starben am Längsten Tag und in der Schlacht um die Normandie.

    Die Völker, die heute Krieg führen, sollten sich anschauen, wie das deutsch-französische Paar zusammenarbeitet", meint Jacques Belin, der Direktor des Memorial von Caen. "Sie können dann sehen, wie Franzosen und Deutsche 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Jahrhunderte von Kriegen vorausgegangen waren, nicht nur Frieden geschlossen, sondern gemeinsam Europa aufgebaut haben. Inzwischen vertreten sich Präsident und Bundeskanzler gegenseitig in den internationalen Institutionen, wenn der jeweils andere nicht anwesend ist. Für die Völker, die heute Krieg führen - und das sind leider einige - ist dies doch eine wunderbare Lehre voller Optimismus.

    "Nachdem wir Europa aufgebaut haben, werden wir so etwas hoffentlich nie wieder erleben", meint ein Besucher des deutschen Soldatenfriedhofs in La Cambe. Ein anderer Franzose, der die Befreiung ebenfalls miterlebt hat, sagt:

    TAKE (Besucher La Cambe)
    "Viele die hier liegen, waren 17 oder 18 Jahre alt, als sie starben. Auf beiden Seiten haben die Soldaten an das geglaubt, was man von ihnen verlangte".

    "Kriegsgräber sind die größten Prediger des Friedens", dieser Satz von Albert Schweitzer steht am Eingang der 7 Hektar großen gepflegten Anlage. Allein in La Cambe liegen mehr als 21.000 Soldaten. "21.000 - unglaublich!", sagt Howard Manoian.

    Jedesmal wenn der ehemalige amerikanische Fallschirmspringer zu Freunden nach Belgien fährt, besucht er auf dem Hinweg den deutschen Soldatenfriedhof; aus Respekt, wie er sagt. Auf dem Rückweg hält er am amerikanischen Friedhof von Colleville-sur-Mer an, wo rund 9000 seiner Kameraden bestattet sind.

    Vor vier Jahren war ich zusammen mit einem der deutschen Soldaten, die am 6. Juni 1944 mit dem Fahrrad an uns vorbeifuhren und auf die wir beinahe geschossen hätten, in einem Café in Sainte-Mère-Eglise. Jeder hier kennt Rudi und mich, wir sind gute Freunde. Er wollte am gleichen Tag nach Deutschland zurückfahren. An der Tür drehte er sich um und sagte: `Howard!`, ich sagte: `ja, Rudi?` - `danke für mein Leben!