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Die Ohnmacht des Parlaments

Das Lamento des SPD-Politikers Marco Bülow über die Ohnmacht des Bundestagsabgeordneten ist umfassend - der Titel somit programmatisch gewählt. Der noch nicht 40-Jährige hat sich mit seiner Abgeordnetenschelte unter seinen Kollegen keine Freunde gemacht.

Von Christoph Birnbaum | 12.04.2010
    Nächstes Jahr wird er 40. Dann sitzt Marco Bülow neun Jahre als Abgeordneter der SPD im Bundestag. Seit Kurzem auf der Oppositionsbank. Aber nicht allein das sorgt bei ihm für Enttäuschungen, sondern der Politik-, Parlaments- und Parteienbetrieb im Allgemeinen. Denn wer glaubt, dass Bundestagsabgeordnete mächtig sind, der irrt - zumindest, wenn man Marco Bülows Buch "Wir Abnicker” Glauben schenkt. Darin greift er ein heikles Thema auf: die zunehmende Machtlosigkeit des Parlaments. Krisenzeiten sind Zeiten der Exekutive, der Regierung - nicht Zeiten, in denen das Parlament entscheidet. Ganz besonders dann nicht, wenn zum Beispiel in einer Nacht-und-Nebel-Aktion - quasi am Parlament vorbei - mal eben kurz das deutsche Bankensystem gerettet werden muss. Mit mehr als einer halben Billion Euro! Den Parlamentariern bleibt nichts anderes übrig, als dies abzunicken. Und auch Marco Bülow nickte alles ab - vom Bundeswehreinsatz in Afghanistan bis zum milliardenschweren Konjunkturprogramm - mit zunehmend schlechtem Gewissen und noch weniger innerer Überzeugung, denn ihm dämmerte schon bald:

    Wer das Parlament schwächt, die Macht auf nur wenige Köpfe verteilt, der riskiert auch eine Schwächung der Demokratie insgesamt. Und deshalb wird es nach meinem Dafürhalten Zeit, sich den Einflussverlust des Parlaments einzugestehen und dem etwas entgegenzusetzen.
    Bülow kritisiert dabei besonders die vielen kleinen und großen "Kompromisse", die zwischen den Fraktionen einer Koalitionsregierung und ihren Vorsitzenden an den Parlamentariern und den Arbeitsgruppen der Fraktionen vorbei in kleinen Kungelrunden und hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden. An der Basis, so Bülow, sei dies zunehmend weniger zu vermitteln:

    Wenn mal wieder einer unserer Parteispitzen einen Kompromiss der Großen Koalition lächelnd als ein "super Ergebnis" in einem Interview gepriesen hatte, dann bekam ich bei den nächsten Sitzungen in Dortmund einige unfreundliche Worte zu hören. Auch wenn das meine Arbeit nicht einfacher macht, mag ich diese Art, sich geradeheraus zu äußern.
    Das fällt dem direkt - mit über 50 Prozent an Erststimmen - gewählten Bundestagsabgeordneten in seinem Wahlkreis, in Dortmund, sicherlich leicht. Im Gegensatz zum Bundestag. Denn schon seit Langem, so Bülow, ist der Plenarsaal unter der gläsernen Reichstagskuppel eben nicht mehr die "Entscheidungsmitte" deutscher Politik.

    Der Bundestag hat sich auf verschiedene Machtkerne verlagert. Das Parlament spielt nur noch eine Nebenrolle. Teilweise haben Entwicklungen wie die Globalisierung und die Europäisierung dazu geführt, dass Nationalparlamente insgesamt an Einfluss verloren haben.
    Da hat Marco Bülow sicherlich sehr recht. Fallbeispiele gibt es viele: Etwa, wenn Gerhard Schröder als "Basta"-Kanzler manch einen seiner Gesetzespläne als "alternativlos" bezeichnete und so die eigene Fraktion hinter sich zwang. Oder, wenn statt hitziger Plenardebatten merkwürdige "Kommissionen" außerhalb des Parlaments Hartz-Gesetze entwerfen, wenn aus Industrie und Rechtsanwaltskanzleien Mitarbeiter an die Ministerien ausgeliehen werden, um gleich komplette Gesetzestexte zu schreiben. Dann stimmt in der Tat etwas nicht mehr in unserem Land. Was Marco Bülow fordert, ist nicht mehr und nicht weniger als Waffengleichheit zwischen dem Gesetzgeber - dem Bundestag - und der Exekutive. Und er hat recht: Es ist für einen Abgeordneten sehr viel schwieriger, eine Mehrheit für die Veränderung einer Gesetzesvorlage zu erreichen, als für die Regierung, die Parlamentarier mit Gesetzesentwürfen zu überrennen. Das ist in der Tat eine gravierende Schieflage, die einer politikmüden- oder skeptischen Öffentlichkeit immer schwieriger zu vermitteln ist.

    An der Basis gibt es eine viel größere Offenheit, über strukturelle Unzulänglichkeiten zu sprechen und zu diskutieren. Teilweise wird die Debatte regelrecht eingefordert. Viele Parteimitglieder, die sich idealistisch seit Jahren oder sogar Jahrzehnten für ihre Partei aufopfern, die Stunde um Stunde ehrenamtliche Arbeit leisten, wollen im Gegenzug wenigstens ernst genommen werden und ein Mitspracherecht erhalten. Viele reagieren sehr sensibel darauf, wenn sie mitbekommen, dass die Partei und selbst die Fraktionen nicht mehr angemessen an der Willensbildung beteiligt werden.
    Aber warum lassen Parlamentarier das alles mit sich machen? Darauf gibt Marco Bülow leider nur sehr schwammige Antworten und sehr einfache obendrein. Er beruft sich auf die Thesen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Collin Crouch, und dessen 2008 auf Deutsch erschienenes Buch "Postdemokratie”. Darin vertritt Crouch die These:

    Formal ist die parlamentarische Demokratie mit freien, periodisch stattfindenden Wahlen, Wahlkämpfen und Parteienkonkurrenz völlig intakt. Doch hinter dieser funktionierenden Fassade besteht mittlerweile eine Machtstruktur, die sich vom eigentlichen demokratischen System entfernt hat. Eine Elite herrscht und kontrolliert die politischen Entscheidungen, Wahlkämpfe sind ein von Medien- und Imagebratern kontrolliertes, meist personalisiertes Spektakel. Die Regierung handelt Gesetze mit Lobbyisten und nicht mit den Parlamenten aus.
    Das alles klingt ein wenig nach irgendwelchen sinistren, altlinken Verschwörungstheorien. Und - in der Tat - bei Marco Bülow sind sie auch so gemeint. Die Schuldigen sind schnell ausgemacht: die omnipräsenten Lobbyisten, mächtige Verleger - ach, man wünschte sich, Marco Bülow würde sie auch einmal nur mit vollem Namen nennen.

    Finanzstarke und mächtige Lobbyisten beeinflussen die Politik nicht mehr nur, sondern bestimmen sie maßgeblich mit. Ich bin davon überzeugt, dass der Profitlobbyismus unser demokratisches System aushöhlen wird und damit Collin Crouch und seine Thesen zur Postdemokratie auf traurige Weise bestätigt.
    Aber kann man es sich wirklich so einfach machen? Das wäre in der Tat eine vollkommene Bankrotterklärung des Parlaments. Und man muss auch nicht auf die zahllosen Untersuchungsausschüsse im Bundestag und in den Länderparlamenten verweisen, um festzustellen, dass die parlamentarische Wirklichkeit und die Kontrollfunktion der Abgeordneten doch wohl noch ein wenig anders aussieht. Marco Bülow lässt trotzdem auch an seinen Abgeordnetenkollegen kein gutes Haar:

    Die meisten Parlamentarier ignorieren eine Entwicklung, die sie selbst entmachtet. Viele Politiker kennen es gar nicht mehr anders und manche sind sogar stolz auf ihre großartigen Kontakte zu einigen Unternehmen. Es gilt als hohe Wirtschaftskompetenz, wenn man mit Unternehmen verbandelt ist und vom politischen Mandat zu einem hoch dotierten Job in die Wirtschaft wechselt.
    Dass es das alles gibt, ganz besonders auch in seiner eigenen Partei, und in dem Bereich, für den Marc Bülow spricht: der Energiepolitik - ist leider nur allzu wahr. Aber noch - so ist zu hoffen - ist dies nur ein Teil der politischen Realitäten. Marco Bülow stellt mithin die richtigen, sehr berechtigten Fragen. Und es lohnt sich, darüber zu streiten. Aber bei den Antworten greift er zu kurz.

    Maco Bülow: Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter. Das Buch ist bei Econ erschienen, hat 237 Seiten und kostet 18 Euro. Unser Rezensent war Christoph Birnbaum (ISBN 978-3-430300421).