Rainer Berthold Schossig: Das harte Vorgehen Chinas gegen Demonstranten in Tibet fünf Monate vor Beginn der Sommerspiele in Peking konfrontiert die olympische Bewegung mit einem Szenario, das seit 20 Jahren Vergangenheit schien, nämlich dem Boykott. Seit 1992 in Barcelona, dann Atlanta, Sydney und schließlich 2004 in Athen sind die Olympischen Spiele erstaunlich politisch ungestört verlaufen, und nun droht also mit den Boykottforderungen an die Spiele in Peking eine neue Verwicklung Olympias in politische Gewissens- und ethische Grundsatzfragen. Vor der Sendung habe ich mit Rainer Erlinger, dem Moralkolumnisten der "Süddeutschen Zeitung" gesprochen. Die Olympischen Spiele wurden, so habe ich argumentiert, schon seit 1896 in Athen mit politischem Boykott, mit Erpressung, Nationalitätenstreit, von ideologischem und propagandistischem Feldgeschrei begleitet. Gewissensfrage an Sie, Herr Erlinger, darf der Sport, die wichtigste Nebensache der Welt, wie es so schön heißt, zum Spielball der Politik überhaupt gemacht werden?
Rainer Erlinger: Das sollte es natürlich nicht sein, und diese Idee, dass sich die Jugend der Welt trifft, um ihre Kräfte zu messen auf rein sportlicher Ebene, und wie es in der Charta heißt, dass nicht Nationen gegeneinander kämpfen usw., dann sollte es nicht sein. Aber wenn man mal ganz ehrlich ist, ist das Ganze doch insgesamt eine durchaus weltpolitische Veranstaltung. Wenn man sich schon überlegt, wie dann die Entscheidungen fallen, in welche Länder es vergeben wird usw., dann ist das nicht politikfrei, auch schon vom Olympischen Komitee her und vom olympischen Gedanken her.
Schossig: Dann klingt so eine Boykottforderung an sich ein bisschen so, als wolle man nichts Falsches im Richtigen haben, was ja dann eigentlich gar nicht gehen könnte?
Erlinger: Ich glaube, die Vergabe von Olympischen Spielen nach Peking, wo man ja von Anfang an schon irgendwie sich überlegt hat, geht das in so einem Regime, will man das haben, Menschenrechtsverletzungen, die ja vorher schon evident und bekannt waren, hat man sich auf dieses glatte Eis begeben und muss sich, ganz hart ausgedrückt, jetzt nicht wundern, wenn man ein bisschen drauf ins Straucheln kommt.
Schossig: Wenn man mal zurückdenkt ins Jahr 1936, damals hatte das Dritte Reich das Erbe Deutschlands, der Weimarer Republik, schon angetreten, die Spiele waren nach Berlin gelegt worden. Das Ganze, das wissen wir, wurde dann zu einer großen Propagandashow für das Dritte Reich und für die Überlegenheit der arischen Rasse. Frage: War es moralisch ein Fiasko, dass damals kein Boykott Hitlers Kriegs- und Endlösungsstrategie zu stoppen versuchte zumindest?
Erlinger: Mit moralischem Fiasko, mit dem Ausdruck ist man natürlich sehr hart, und vielleicht geht es auch ein bisschen weit. Aber es war sicherlich blauäugig, da zu wenig zu bedenken, welchen gewaltigen Imagegewinn sowohl innerhalb des Landes als auch weltweit das Regime durch diese Spiele damals bekommen konnte und eben auch ja in der Zeit sich so mit einer pseudoweißen Weste und mit dem schönen Gesicht versucht hat zu zeigen. Und das ist sicherlich auch eine der Gefahren, denkt man nur an die Architektursprache des Olympiastadions in Peking. Da ist ja eine sehr filigrane, eine sehr leichte, eine sehr offene Sprache, sehr schönes Stadion, und man denkt fast so ein bisschen an dieses Münchener Stadion, das ja auch eine politische Aussage dieser Leichtigkeit und der neuen Bundesrepublik Deutschland beinhalten sollte. Dann fragt man sich schon, ob hier nicht sozusagen die chinesische Führung sich mit dieser Idee Olympia hier ein bisschen eine Maske überzieht.
Schossig: Die Maske vom Gesicht gerissen bekommen sollte ja auch Moskau, damals im Kalten Krieg 1980. Nun weiß man ja mittlerweile, dass dadurch kein einziger Soldat der Roten Armee aus Afghanistan, wo die Sowjetunion damals gerade einmarschiert war, zurückgezogen wurde, sondern das hatte ganz andere Gründe. Also, kann man überhaupt heute noch, nach diesen Erfahrungen, auch nach den Erfahrungen dann 84 mit der Retourkutsche in Los Angeles, überhaupt davon ausgehen, dass ein Boykott der olympischen Idee nicht eher schadet als nützt?
Erlinger: Ja, ich glaube, das ist ein sehr gutes Beispiel, dieser Boykott damals in Moskau, dass dieser Boykott zwei Seiten hat. Da ist auf der einen Seite das, was Sie gerade ansprachen, dieses Die-Maske-vom-Gesicht-Ziehen, dass nämlich der Boykott verhindern soll, dass sich ein Regime damit schmückt. Das könnte natürlich durchaus funktionieren, und da muss man sich drüber Gedanken machen. Während die Idee, dass man mit so einem Boykott wie jetzt damals die Sowjetunion zum Rückzug aus Afghanistan bewegen könnte, das ist natürlich eine Idee, die man nicht wirklich verfolgen kann. Wobei natürlich bei dieser Frage, jetzt Tibet, man sich schon überlegen kann, ob ein Land jetzt wie China diesen massiven Imageverlust in der Welt da jetzt weiterhin tragen will.
Schossig: Aber jetzt sozusagen noch mal ganz unter uns gefragt, Herr Erlinger. Ist inzwischen im Zeichen konsequenter, weltweiter Vermarktung der Spiele ein Olympiaboykott ohnehin nur noch eine Art Gutmenschengeste, deren Realisierung doch viel zu teuer käme?
Erlinger: Ja, das ist auf jeden Fall ein Aspekt. Der andere Aspekt, was mir dabei gefällt, ist, dass an dieser Stelle ja wieder die olympische Bewegung selbst Farbe bekennen muss und man vielleicht mit dieser Diskussion, die wir jetzt haben, womöglich sogar der olympischen Bewegung die Maske auch vom Gesicht reißt, dass man nämlich da überlegen muss, was ist es jetzt eigentlich. Ist es im Kern wirklich noch die Jugend der Welt, die sich trifft, oder ist es wirklich ein großes Geschäft, bei dem die Sportler selbst auch nur mehr irgendwelche, nun, Marionetten will ich nicht sagen, aber doch nur noch Mitwirkende sind?
Schossig: Boykott oder nicht Boykott, das ist hier die Frage. Das waren Betrachtungen von Rainer Erlinger.
Rainer Erlinger: Das sollte es natürlich nicht sein, und diese Idee, dass sich die Jugend der Welt trifft, um ihre Kräfte zu messen auf rein sportlicher Ebene, und wie es in der Charta heißt, dass nicht Nationen gegeneinander kämpfen usw., dann sollte es nicht sein. Aber wenn man mal ganz ehrlich ist, ist das Ganze doch insgesamt eine durchaus weltpolitische Veranstaltung. Wenn man sich schon überlegt, wie dann die Entscheidungen fallen, in welche Länder es vergeben wird usw., dann ist das nicht politikfrei, auch schon vom Olympischen Komitee her und vom olympischen Gedanken her.
Schossig: Dann klingt so eine Boykottforderung an sich ein bisschen so, als wolle man nichts Falsches im Richtigen haben, was ja dann eigentlich gar nicht gehen könnte?
Erlinger: Ich glaube, die Vergabe von Olympischen Spielen nach Peking, wo man ja von Anfang an schon irgendwie sich überlegt hat, geht das in so einem Regime, will man das haben, Menschenrechtsverletzungen, die ja vorher schon evident und bekannt waren, hat man sich auf dieses glatte Eis begeben und muss sich, ganz hart ausgedrückt, jetzt nicht wundern, wenn man ein bisschen drauf ins Straucheln kommt.
Schossig: Wenn man mal zurückdenkt ins Jahr 1936, damals hatte das Dritte Reich das Erbe Deutschlands, der Weimarer Republik, schon angetreten, die Spiele waren nach Berlin gelegt worden. Das Ganze, das wissen wir, wurde dann zu einer großen Propagandashow für das Dritte Reich und für die Überlegenheit der arischen Rasse. Frage: War es moralisch ein Fiasko, dass damals kein Boykott Hitlers Kriegs- und Endlösungsstrategie zu stoppen versuchte zumindest?
Erlinger: Mit moralischem Fiasko, mit dem Ausdruck ist man natürlich sehr hart, und vielleicht geht es auch ein bisschen weit. Aber es war sicherlich blauäugig, da zu wenig zu bedenken, welchen gewaltigen Imagegewinn sowohl innerhalb des Landes als auch weltweit das Regime durch diese Spiele damals bekommen konnte und eben auch ja in der Zeit sich so mit einer pseudoweißen Weste und mit dem schönen Gesicht versucht hat zu zeigen. Und das ist sicherlich auch eine der Gefahren, denkt man nur an die Architektursprache des Olympiastadions in Peking. Da ist ja eine sehr filigrane, eine sehr leichte, eine sehr offene Sprache, sehr schönes Stadion, und man denkt fast so ein bisschen an dieses Münchener Stadion, das ja auch eine politische Aussage dieser Leichtigkeit und der neuen Bundesrepublik Deutschland beinhalten sollte. Dann fragt man sich schon, ob hier nicht sozusagen die chinesische Führung sich mit dieser Idee Olympia hier ein bisschen eine Maske überzieht.
Schossig: Die Maske vom Gesicht gerissen bekommen sollte ja auch Moskau, damals im Kalten Krieg 1980. Nun weiß man ja mittlerweile, dass dadurch kein einziger Soldat der Roten Armee aus Afghanistan, wo die Sowjetunion damals gerade einmarschiert war, zurückgezogen wurde, sondern das hatte ganz andere Gründe. Also, kann man überhaupt heute noch, nach diesen Erfahrungen, auch nach den Erfahrungen dann 84 mit der Retourkutsche in Los Angeles, überhaupt davon ausgehen, dass ein Boykott der olympischen Idee nicht eher schadet als nützt?
Erlinger: Ja, ich glaube, das ist ein sehr gutes Beispiel, dieser Boykott damals in Moskau, dass dieser Boykott zwei Seiten hat. Da ist auf der einen Seite das, was Sie gerade ansprachen, dieses Die-Maske-vom-Gesicht-Ziehen, dass nämlich der Boykott verhindern soll, dass sich ein Regime damit schmückt. Das könnte natürlich durchaus funktionieren, und da muss man sich drüber Gedanken machen. Während die Idee, dass man mit so einem Boykott wie jetzt damals die Sowjetunion zum Rückzug aus Afghanistan bewegen könnte, das ist natürlich eine Idee, die man nicht wirklich verfolgen kann. Wobei natürlich bei dieser Frage, jetzt Tibet, man sich schon überlegen kann, ob ein Land jetzt wie China diesen massiven Imageverlust in der Welt da jetzt weiterhin tragen will.
Schossig: Aber jetzt sozusagen noch mal ganz unter uns gefragt, Herr Erlinger. Ist inzwischen im Zeichen konsequenter, weltweiter Vermarktung der Spiele ein Olympiaboykott ohnehin nur noch eine Art Gutmenschengeste, deren Realisierung doch viel zu teuer käme?
Erlinger: Ja, das ist auf jeden Fall ein Aspekt. Der andere Aspekt, was mir dabei gefällt, ist, dass an dieser Stelle ja wieder die olympische Bewegung selbst Farbe bekennen muss und man vielleicht mit dieser Diskussion, die wir jetzt haben, womöglich sogar der olympischen Bewegung die Maske auch vom Gesicht reißt, dass man nämlich da überlegen muss, was ist es jetzt eigentlich. Ist es im Kern wirklich noch die Jugend der Welt, die sich trifft, oder ist es wirklich ein großes Geschäft, bei dem die Sportler selbst auch nur mehr irgendwelche, nun, Marionetten will ich nicht sagen, aber doch nur noch Mitwirkende sind?
Schossig: Boykott oder nicht Boykott, das ist hier die Frage. Das waren Betrachtungen von Rainer Erlinger.