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Die Opfer zahlen immer

15.000 Anrufe, E-Mails und Briefe hat Christine Bergmann beantwortet, seit sie im Amt ist. Vor gut eineinhalb Jahren übernahm sie den Posten der Unabhängigen Beauftragten für Kindesmissbrauch der Bundesregierung. Kein leichter Job, der viel Feingefühl verlangt.

Von Claudia van Laak | 19.05.2011
    "Ich fühle mich so verloren - ich gehöre nicht dazu." - "Ich hasse meinen Körper." - "Bin ich normal im Kopf? Wie höre ich mich an? Ich habe solche Angst, dass mich alle für verrückt halten!" - "Ich frage mich, ob ich schuld bin."

    Vier Stimmen von 15.000. 15.000 Anrufe, E-Mails und Briefe sind bei der Missbrauchsbeauftragten Christine Bergmann und ihren Mitarbeitern in gut einem Jahr eingegangen. Es meldeten sich direkt Betroffene, aber auch Ehepartner, Freunde und Verwandte. Neun von zehn Betroffenen wurden mehrmals Opfer sexualisierter Gewalt, neun von zehn Tätern sind Männer. Und: Sexueller Missbrauch geschieht eher in der Familie als in der Schule oder im Internat. Viele Betroffene meldeten sich, nachdem sie die eindringlichen Spots gesehen hatten, die der bekannte Regisseur Wim Wenders im Auftrag der Missbrauchsbeauftragten gedreht hat.

    "Ausschnitt aus einem Werbespot: "Das bleibt ein Geheimnis zwischen uns hatte er gesagt, nachdem er mich missbraucht hat. Das Schweigen hat mich ein Leben lang zum Opfer gemacht. Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter. Es ist nie zu spät, über sexuellen Missbrauch zu sprechen. Rufen Sie uns an.""

    "Ich hab vor allen Dingen begriffen, wie stark die Folgen sind. Die Älteste, die sich bei uns gemeldet hat, war 89, sie hat das erste Mal darüber geredet. Und man merkt, das ist alles noch da, das tut weh, das ist lebendig und hat Folgen gehabt für das ganze Leben. Das war für mich eine ganz ganz einschneidende Erfahrung."

    "Die töten das Leben der Kinder. Das ist schlimmer als Mord, denn die Hülle der Betroffenen bleibt lebenslänglich am Leben."- "Danach hat man keine Seele mehr." - "Es muss gesagt werden, dass es nicht irgendwie um Sexualität geht, sondern um Seelenmord an den Opfern." - "Ich ekle mich noch heute."

    Für die 71-jährige Christine Bergmann war sexueller Missbrauch kein neues Thema, als sie im März des vergangenen Jahres von der Bundesregierung gebeten wurde, das auf eineinhalb Jahre angelegte Amt der Unabhängigen Beauftragten für Kindesmissbrauch zu übernehmen. Als Berliner Frauensenatorin und als Bundesfamilienministerin hatte sie bereits Kampagnen und Gesetzesinitiativen für Kinderschutz, gegen sexuelle Gewalt und Kinderpornografie auf den Weg gebracht.

    "Ich hab immer gedacht, ich weiß, was da los ist","

    sagt sie, und der Blick danach spricht Bände. Die verstörenden Schilderungen der Betroffenen haben die engagierte Protestantin nicht kalt gelassen, Sie habe Bilder und Worte mitgenommen in den Feierabend, ins Wochenende, erzählt sie. Alle eingegangenen Briefe und E-Mails hat die 71-Jährige persönlich beantwortet. Eines wurde ihr bewusst: Die Betroffenen brauchen Zeit.

    ""Da ist auch etwas, was eine Gesellschaft wissen muss. Was auch alle wissen müssen, die in dem ganzen juristischen Bereich arbeiten. Wenn jemand kommt zur Polizei und will etwas anzeigen. Dass der Polizist nicht sagt, na, das ist ja schon ein paar Jahre her, da kann's ja nicht so schlimm gewesen sein."

    Christine Bergmann veröffentlicht am kommenden Dienstag ihren Abschlussbericht, obwohl ihre Amtszeit erst in einem halben Jahr endet. Der Grund: Sie will noch dafür sorgen, dass ihre Empfehlungen am Runden Tisch, in der Bundesregierung – besonders beim Bundesfinanzminister - Gehör finden. Bei der Verlängerung der Verjährungsfristen ist man sich bereits einig, das größte Problem jedoch ist die anstehende Entscheidung über mögliche Entschädigungen. Wie hoch sollen sie sein? Wie kommen die Betroffenen an ihr Geld? Und vor allen Dingen: Wer zahlt wie viel?

    "Da werden wir miteinander noch einiges zu diskutieren haben."

    Die katholische Kirche hat bereits das Angebot gemacht, den Betroffenen 5000 Euro Entschädigung zu zahlen. Christine Bergmann ist nicht sonderlich glücklich über diesen Vorstoß, sie hätte gerne eine gemeinsame Lösung aller Beteiligten: einen Fonds, vielleicht in Form einer Stiftung, in die sowohl Bund und Länder als auch die verantwortlichen Täterinstitutionen einzahlen.

    "Die Arbeit ist noch nicht zu Ende", sagt Christine Bergmann. Sie ist der Ansicht, dass Betroffene weiterhin eine Anlaufstelle brauchen, die unabhängig ist von den Täter-Institutionen, aber auch vom Staat. Als in der DDR Aufgewachsene liegt ihr eine Opfergruppe besonders am Herzen, um die sich bislang niemand gekümmert hat – Menschen, die als Kinder in DDR-Heimen missbraucht wurden.

    "Es ist eigentlich nicht auszuhalten, dass man sagt, die einen werden jetzt in Form der Entschädigung bzw. Therapien für Folgeschäden in irgendeiner Weise rehabilitiert, und die anderen nicht. Da muss es schon eine Gleichbehandlung geben. Und vor allen Dingen muss es eine Aufarbeitung geben. Es ist alles nicht aufgearbeitet, was in DDR-Heimen passiert ist."

    "Ich wäre am liebsten tot." - "Missbrauch ist wie eine Bombe im Bauch, die jederzeit losgehen kann." - "Als Betroffener hat man lebenslänglich." - "Die Opfer zahlen immer: körperlich, seelisch und finanziell. Das ist ganz frustrierend."

    Die Stimmen Betroffener zeigen – auch eine hohe finanzielle Entschädigung ist kein Ausgleich für ein vielleicht verpfuschtes Leben.