Archiv


Die Physik des Jahres 1800

Die Physik zählt zu den Naturwissenschaften und ist weit weg von Literatur, Kunst oder Philosophie. Das war nicht immer so. Um das Jahr 1800 gehörte das Fach an den deutschen Universitäten zur Philosophischen Fakultät und beschäftigte sich gleichzeitig mit Kunst und naturwissenschaftlichen Experimenten. An der Universität Jena fand nun eine Tagung statt, die sich mit der Physik und den Physikern im Jahr 1800 beschäftigte.

Von Bettina Mittelstass |
    Die "Annalen der Physik" gehören bis heute zu den wichtigsten naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften der Welt. Albert Einstein veröffentlichte hier 1905 seine erste Arbeit zur Speziellen Relativitätstheorie. Da war die Zeitschrift schon rund 100 Jahre alt. Die erste Ausgabe erschien 1799, herausgegeben von Ludwig Wilhelm Gilbert, Professor der Physik und Chemie zu Halle. Im Jahr 1800 erscheint in den Annalen unter anderen ein Artikel mit dem Titel "Ideen zu einer Theorie des Magneten". Geschrieben hat ihn der 19 Jahre alte Physikstudent Ludwig Achim von Arnim, heute viel besser bekannt als Dichter und Schriftsteller der Frühromantik.

    "Elektrizität, Magnetismus und Galvanismus waren zu dieser Zeit, also auch um die Jahrhundertwende Phänomene, mit denen sich eben nicht nur die Naturwissenschaftler, sondern auch die Dichter, Schriftsteller auseinander setzten. Galvani hat mit den Froschschenkeln experimentiert und man hat gedacht: Also man hat jetzt endlich herausgefunden: Was ist Leben!? Was ist die Lebenskraft!?"

    Das interessierte die Literaten und Denker der Zeit. Aber sie holen sich für ihre Themen, ihre Ideen, ihre Gedanken nicht nur Anleihen aus den Naturwissenschaften, sagt Roswitha Burwick, Herausgeberin der naturwissenschaftlichen Schriften von Achim von Arnim. Schriftsteller wie Arnim betrieben auch selbst Physik, Chemie oder Biologie. Heinz Härtl, Mitherausgeber der historisch-kritischen Arnim-Gesamtausgabe, die in Zusammenarbeit mit der Stiftung Weimarer Klassik entsteht:

    "Arnim gehörte zur intellektuellen Avantgarde um 1800, kannte bereits als Schüler schon den ganzen Kant, den es bis dahin gab, war ein Zeitgenosse von Johann Wilhelm Ritter, dem genialen Physiker und Aphoristiker der Romantik, mit dem er sich teils stritt, teils überein kam. Einer der großen Intellektuellen, der im Gegensatz zu Novalis, Ritter, Schelling, Schlegel als Denker nicht so bekannt ist."

    "Das ist das Interessante an der Zeit: Das sind alles Naturforscher! Weil sie versuchen, dieses Ganze 'Natur' wahrzunehmen. Und eine entscheidende Idee ist zu sagen: Ja, ja, gut, wenn wir diese Naturwahrnehmung wahrnehmen wollen, dann müssen wir doch auch wissen, wie wir das tun! Heute würden wir dazu Neurobiologie treiben."

    Es ist heute kaum vorstellbar, dass Neurobiologen die Grenzen ihrer Disziplin so weit überschreiten, dass sie Literatur verfassen. Um 1800 gab es noch keine so unüberwindbar scheinende Disziplinengrenzen, weil es keine etablierten Methoden in den naturwissenschaftlichen Fächern gab, sagt der Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach, Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

    "Das Strukturelement, was unsere modernen Forschung auszeichnet - Naturwissenschaften als disziplinär organisiertes Wissen, das unter einer bestimmten methodischen Prämisse die Natur in einer ganz bestimmten definierten Weise in den Blick nimmt - das gibt es in dieser Zeit noch nicht. Das ist alles schwammig. Es gibt so was wie Physik, das ist aber ohne ein standardisiertes Lehrprogramm. Es gibt noch nicht eine Chemie in unserem Sinne, die sich auch von der Pharmazie abgrenzt."

    Besonders die experimentelle Physik ist durch ein weitgehend orientierungsloses Ausprobieren gekennzeichnet, sagt Olaf Breidbach. Elektrizität elektrisiert die Zeit.

    "Diese experimentelle Physik beschäftigt sich mit Phänomenen, die kaum augenfällig zu machen sind. Elektrizität können sie im eigentlichen nicht schmecken. Man versucht es. Gerade die romantischen Physiker Ritter und, wenn man das so will, auch von Humboldt setzen sich selbst als lebende Proben ein und elektrisieren sich zum Entsetzen ihres Kammerdieners oder der Mitstudenten in einer solchen Weise, dass sie danach kräftigt zu verbinden sind. Gewinnen dann mit diesen Experimenten europaweite Fama. Nur: was ist das? Elektrizität scheint doch das zu sein, was Faraday mit dem Drachen aus dem Himmel holt. Ist es das, was so eine kuriose Maschine, die wir Elektrisiermaschine produziert? Ist es zugleich etwas, was ein Naturforscher in Südamerika erlebt, der einen elektrischen Fisch anfasst, und auf einmal auch feststellt, es gibt einen elektrischen Funkeschlag zwischen ihm und dem Fisch? Ist das demzufolge eine Kraft, die in der Tat zeigt, dass die Natur von einem Gefüge durchsponnen ist, in dem wir nun alles verorten können, was diese Natur dynamisch und lebendig macht?"

    "Arnim war einer der ersten, der noch vor seinen Lehrern daran geglaubt hat, dass es keine Stoffe gibt, sondern, dass das einfach nur alles Kraft ist. Also, er ist ein Dynamiker, wie wir so sagen."

    Wie viele seiner Zeitgenossen sucht auch Arnim eine Möglichkeit, dasjenige zu erfassen, was dem erfahrenden Menschen als "Natur" gegenüber steht.

    "Und das kann ich natürlich künstlerisch, poetisch oder sagen wir mit grafischen Mitteln, das kann ich vielleicht philosophisch und das kann ich auch vielleicht dadurch, dass ich bestimmten experimentalen Prozeduren folge, erfassen."

    Und so greifen Erfahrung, wissenschaftliches Experiment, philosophische Theorie, Spekulation und Dichtkunst ineinander, und zwar nicht nur aus Sicht derer, die wir heute meist als Dichter wahrnehmen, sondern auch seitens bekannter Physiker.

    "Diese Physik der Zeit arbeitet mit Analogien, tut das sogar in so unverdächtigen Personen wie bei Lichtenberg, der einen Begriff nutzt, indem er ein bestimmtes Mineral, Turmalin, den Sie vielleicht heute noch aus dem Andenkenladen kennen, zu beschreiben sucht, und das als ein Modell gleichzeitig fasst, bestimmte Eigenschaften magnetischer und elektrischer Phänomene abgleichen zu können. Und kommt dann zu so Aussagen, die fast schon Schellingianisch, das heißt spekulativ-philosophisch erscheinen, dass die Erde nichts anderes als ein großer Turmalin sei."

    Mitten in diesem Zusammenhang von Sammeln, Ausprobieren und Entleihen, wo zum Beispiel im Raum Jena ein Physiker wie Johann Wilhelm Ritter seine Begriffe dem Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling entlehnt, der wiederum den Physiker braucht, um seine Philosophie zu schreiben, mitten in diesem Netzwerk, zu dem auch der Schriftsteller Achim von Arnim gehört, entsteht am Ende nicht aus allem das Eine, sondern Vielfalt und Abgrenzung. Aus der Diskussion um das Ganze der Natur formieren sich die Einzelwissenschaften, sagt Olaf Breidbach:

    "Der Impuls, der gegeben wird, ist, dass man überhaupt mal Natur in einem Begriff dekliniert. Und das, wie es so schön heißt, ist dann falsifikationsfähig. Das heißt, wir können uns daran abarbeiten. Wir können sagen: so nicht! Aber nicht diffus, sondern in einer sehr präzisen Weise. Und dann dazu oder dagegen etwas setzen. Und das hat sehr viel dann zu tun, dass man sagt: Wir denken jetzt nicht über die komplexen philosophischen Zusammenhänge nach, sondern wir machen das jetzt erst mal. Wir sichern das, was wir tun dadurch, dass wir eine bestimmte Art von Messmethodik reflektieren. Und wir gewinnen demzufolge Befunde, die wir in reflektierter Art und Weise einem sagen wir mal Gefüge zuordnen können, und so kommt eine Wissenschaft in Gang, die dann sehr schnell sagt: Wir setzten uns gegen diese Philosophen ab. Wir versprechen euch nicht die allgemeine Weltsicht, aber wir versprechen euch Anwendung und Nutzbarkeit."