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Die politische Unzufriedenheit steigt überall

Überall wandeln sich die Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund wandeln sich auch politische Kulturen. Welche Folgen das hat und was poltische Kultur heute bedeutet, darüber diskutierten deutsche Politikwissenschaftler auf einer Fachkonferenz an der Universität Leipzig.

Von Bettina Mittelstraß | 17.10.2013
    Gert Picke, Soziologe und Politikwissenschaftler und Direktor des Instituts für Praktische Theologie an der Universität Leipzig:

    "Der Begriff der Politischen Kultur versucht letztendlich nahe (klar) zu stellen, dass wir nicht nur einen sehr mäandernden Kulturbegriff haben, sondern etwas, was relativ klar sich auf Politik bezieht. Und das wird häufig festgemacht, dass man sagt: Es gibt so was wie eine Struktur der Politik. Kennen wir alle - Institutionen, aber auch Personen, die bewerten wir ja auch unterschiedlich. Und politische Kulturen sagen etwas aus darüber, wie man diese bewertet, wie man zu diesen steht, wie man zum Beispiel zum Konzept der Demokratie steht."

    Politologen, die sich auf die Erforschung von politischer Kultur konzentrieren, schauen sich politische Strukturen genau an und arbeiten mit Umfragen. In den Umfragen geht es nicht um rasch wechselnde Meinungen, sondern um Einstellungen gegenüber politischen Institutionen - dem Parlament, der Polizei oder gegenüber Gerichten. Einstellungen sind von längerer Dauer als Meinungen, aber auch sie können sich ändern. Ob und zu welchem Grad sie sich ändern ist Gegenstand der Erforschung von politischer Kultur.

    Susanne Pickel, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen:
    "Was politische Kulturforschung sehr gut kann, ist, den Finger in Wunden legen, in Entwicklungen, in Gesellschaften, die mit Demokratie zufrieden oder unzufrieden sind. Demokratiezufriedenheit wird sehr oft verwendet in der Öffentlichkeit als Ausdruck dafür, ob eine Demokratie noch gewünscht ist oder nicht. Das ist aber leider falsch, weil Demokratiezufriedenheit sich darauf bezieht, ob die Menschen die Demokratie, wie sie gerade funktioniert, anerkennen oder nicht."

    Missstände identifizieren
    Den Finger in die Wunde legen heißt auch Missstände zu identifizieren, sagt Susanne Pickel:

    "Die können ökonomischer Natur sein, die können auf der repräsentativen Ebene liegen, die können darin liegen, dass die Politiker sich den Menschen nicht mehr zuwenden und die können dari n liegen, dass man der Meinung ist, es wird zum Beispiel auf der falschen Ebene über Politik entschieden - Beispiel Europa: regionale Ebene, lokale Ebene, Ähnliches."

    In jedem Land kann man politische Kulturforschung betreiben. Erkennbar werden unterschiedliche politische Kulturen insofern als sich Einstellungen unterscheiden - etwa das Vertrauen in religiöse Institutionen. Gert Pickel:

    "Man hat eine hohe Religiosität auf der einen Seite und wir reden jetzt ja immer darüber, dass zum Beispiel das moderne politische System, also die jetzigen gewählten Führer versuchen, Prinzipien, die früher eingeführt wurden, zurück zu drängen. Und hier kommt es natürlich drauf an, da fragt man sich: Was wollen denn die Bürger überhaupt? Wir sehen die Demonstrationen in Istanbul und fragen uns: Ja wie ist denn das? Die sind religiös, das wissen wir auch. Warum sind die damit nicht zufrieden? Und hier kommt das eben zu einer politischen Kultur, die wir jetzt aus dem westeuropäischen Rahmen gar nicht kennen, dass hochreligiöse Leute sagen, dass trotzdem Politik und Religion getrennt sein sollte im Formalen."

    Gefahren für die Demokratie
    Wenn die Unzufriedenheit steigt, wohin führt das? Was bedeutet es, wenn die Menschen ein bestehendes politisches System, zum Beispiel in Ungarn zunehmend anders bewerten? Susanne Pickel:
    "Wir sehen ganz klar: Auf der institutionellen Ebene werden Gesetze beschlossen, die nicht mehr unbedingt nur als demokratisch zu bezeichnen sind. Wie ist das zu erklären? Es gab eine sehr hohe Unzufriedenheit in Ungarn. Man hat sich eine Person gewählt, die versprochen hat, diese Unzufriedenheit zu lösen. Diese Person hat Lösungsangebote gemacht, die nicht unbedingt demokratisch sind. Abwahl ist das Instrument in der Demokratie, um Unzufriedenheit zu lösen. Das funktioniert aber nur, solange die Eliten auch demokratisch sind. Sind die Eliten nicht demokratisch, habe ich mit der Abwahl genau das geschaffen, was ich nicht will, nämlich eine Gefährdung für die Demokratie erzeugt".

    Solche Tendenzen können mit Hilfe der politischen Kulturforschung gut erkannt werden. Und dabei ist es egal, in welchem System man sich befindet, ob Demokratie oder Autokratie. Susanne Pickel:

    "Unzufriedenheit mit der Regierung, Unzufriedenheit mit dem politischen System, die steigt an. In den letzten zehn Jahren massiv - man kann das beobachten -, um bis zu zehn Prozentpunkte pro Jahr. Wir können aber nicht sagen, wann das umschlägt. Aber wir können sagen: Leute passt auf, hier passiert etwas, euer politisches System hat ein Problem und ihr müsst etwas verändern, damit es auf Dauer persistent bleibt, das heißt, es darf sich verändern, aber es muss im gleichen Systemtyp bleiben."

    Ungarns Premierminister Viktor Orban
    Ungarns Premierminister Viktor Orban (picture alliance / dpa / Julien Warnand)
    Hat es in Ägypten tatsächlich eine Revolution gegeben?
    Heute ist gerade in Ägypten unklar, ob sich das politische System nicht doch erhalten hat. Kristin Seffer, Mitarbeiterin am Zentrum für Regionalstudien der Universität Leipzig:

    "Die Frage ist tatsächlich, ob man aus dem, was wir in den letzten zwei Jahren beobachten konnten, tatsächlich schon Rückschlüsse ziehen konnten auf das, was sich mittel- oder langfristig entwickeln wird, nämlich die Frage: Kommt es in Ägypten oder Tunesien zu einer Demokratie oder nicht? Und da wurde meines Erachtens ziemlich schnell gesagt, dass es hier eine Revolution gab, die den Zusammenbruch des autoritären Systems generiert hat, aber am Ende müssen wir jetzt wiederum beobachten, zwei Jahre später, dass das vielleicht doch nicht der Fall ist."

    Der Eindruck bleibt, dass die politischen Umbrüche zumindest in Richtung Demokratie zunehmen. Die Frage nach dem Warum führt zu einer Konjunktur in der politischen Kulturforschung. Es ist wahrscheinlich, dass durch die Globalisierung auch politische Konzepte reisen. Immer wieder steht damit letztlich die Frage im Raum: Verändern sich politische Kulturen insgesamt zu einer Art demokratischer Weltkultur? Gert Pickel:

    "Viele Bürger, also auch gerade in Afrika, wenn ich die frage, was Demokratie ist, dann sagen die Freiheit, Wohlstand und natürlich Gleichheit und damit auch Gleichberechtigung. Und das wollen die auch haben! Und das ist natürlich auch nicht unwichtig und das kann man vor allem im Vergleich erforschen."

    Armut und Trostlosigkeit in Mumbais Slums
    Armut und Hoffnungslosigkeit prägen das Leben vieler Menschen in Asien und in Afrika. (picture alliance/dpa/Divyakant Sola)
    Wohlstand oft wichtiger als Demokratie
    Kristin Seffer:
    "Die Chancen des Vergleichs sehen wir schon darin, dass man - wenn der Vergleich dann auch tatsächlich stringent durchgeführt wird - feststellen kann, ob es denn überhaupt noch diese regionalen Unterschiede gibt oder ob man mittlerweile sagen kann, dass tatsächlich Globalisierung auch dazu führen kann, dass es eben zu einer Angleichung kommt und regionale Unterschiede mehr und mehr verschwinden. Aber das ist eben offen."
    Dass zumindest den Kernbegriffen weltweit ähnliche Bedeutung zugeschrieben wird, lässt sich wohl jetzt schon feststellen. Susanne Pickel:

    "Es wird nicht in Asien etwas völlig anderes unter Demokratie verstanden als in Afrika, Lateinamerika, Europa oder Nordamerika. Es gibt einen Kernbestandteil, um den gibt es keine Debatte: Freiheit, Gleichheit und auch Kontrolle sind Merkmale von Demokratie, über die wird nicht gestritten. Es geht jetzt nur um die Frage traditioneller Ausprägung. Ist mehr Gemeinschaftssinn damit verbunden? Wird ein stärkerer Wert auf Gleichheit gelegt? Aber es geht immer noch um Demokratie. Wir brauchen manchmal sogenannte Bedeutungsäquivalente. Das ist so wie, wenn man im Deutschen sagt "gemütlich" - diesen Begriff gibt es in anderen Sprachen nicht. Da gibt es Bedeutungsäquivalente. Und genauso ist es meinetwegen mit dem Begriff Demokratiezufriedenheit oder Vertrauen. Da muss man gucken, ob das in anderen Ländern genauso ist. Ist sehr breitgemacht worden, wird jetzt mit weiteren Verfahren noch vertieft und man kann eigentlich belegen, dass der Kern der Sache zumindest überall sehr, sehr ähnlich gesehen wird."