23. Juli 2023
Die Presseschau

Wären heute Landtagswahlen in Baden-Württemberg, dann würde ein Fünftel aller Wahlberechtigten die AfD wählen. Das ist ein Thema auf den Meinungseiten der Sonntagszeitungen.

Ein AfD-Anhänger trägt ein Logo der Partei auf dem Hinterkopf.
Auch in Westdeutschland bekommt die AfD inzwischen viel Zuspruch. (picture alliance / dpa / Ronny Hartmann)
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG fragt: "Was ist los in Westdeutschland? Was hat die ehemalige Bundesrepublik in den Köpfen der Menschen angerichtet? Sind die Menschen im Westen nicht in der Demokratie angekommen? - Fragen wie diese werden stets gestellt, wenn es um den Osten der Bundesrepublik geht. Erst in den vergangenen Tagen gaben angesichts der dort ebenfalls hohen Umfragewerte für die AfD etwa Katrin Göring-Eckardt, Wolf Biermann und Joachim Gauck darauf die immer wieder gleichen Antworten. Biermann erklärte kurzerhand und unhinterfragt allen Ostdeutschen 'bleibende Seelenschäden', Gauck und Göring-Eckardt schränkten gerade noch ein, dass 'ein Teil der Ostdeutschen' diktaturbedingt in einem 'Zwischenreich' lebe und eine 'Neigung zu Führern' habe beziehungsweise 'nicht in der Demokratie angekommen' sei. - Diese Erzählungen, die im Osten längst niemand mehr hören kann, sind im Westen nach wie vor sehr beliebt, weil sie den unschlagbaren Vorteil haben, dass man glaubt, selbst davon nicht betroffen zu sein, weil man ja nicht in der DDR gelebt hat. Allerdings war es schon immer ein Trugschluss, dass deshalb das Gebiet der alten Bundesrepublik vor politischen Verwerfungen, also auch AfD-Erfolgen, gefeit wäre. Und mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung lassen sich politische Entwicklungen in Ost und West erst recht nicht mehr monokausal mit der Vergangenheit erklären. Es ist deshalb sinnlos, weiter mit dem Finger aufeinander zu zeigen oder nur dem jeweils anderen Handlungsbedarf zu attestieren. Die AfD ist weder ein ost- noch ein westdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches Problem", stellt die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG fest.
Die WELT AM SONNTAG betrachtet die umstrittene Vereinbarung zwischen der EU und Tunesien, die Migration nach Europa reduzieren soll: "Die tunesischen Sicherheitskräfte gefährden das Leben von Migranten, statt es zu schützen. Laut Human Rights Watch wurden Fälle von Folter, übermäßiger Gewaltanwendung, kollektiven Ausweisungen und Diebstahl von Geld und Eigentum dokumentiert. Die sogenannte Jasmin-Revolution im Jahr 2011 mag zwar den Diktator Zine el-Abidine Ben Ali gestürzt haben, aber Strukturen und Mentalität im Sicherheitsapparat sind vielfach noch die von damals. Gewalt gilt als angemessenes Mittel, ist zugleich aber auch Ausdruck behördlicher Hilflosigkeit. Was Migration betrifft, existieren bisher keine klaren Richtlinien. Das könnte sich durch das Abkommen mit der EU bald ändern. Prügel und Aussetzungen von Migranten in der Wüste wird Brüssel auf Dauer nicht akzeptieren. Tunesien muss andere Wege einschlagen, um die EU zufriedenzustellen. Dabei wird Präsident Saied ausgerechnet sein autoritärer Führungsstil hilfreich sein", ist die WELT AM SONNTAG überzeugt.
Die österreichische Zeitung DIE PRESSE macht sich Gedanken über nukleare Aufrüstung: "Der Ukraine-Krieg ist zugleich wie eine Dauerwerbung für die Atombombe. Putin hätte den Überfall auf den Nachbarn niemals gewagt, wenn die Ukraine die drittgrößte Atommacht geblieben wäre, zu der sie nach der Unabhängigkeit 1991 über Nacht geworden war. Aber Kiew tauschte die sowjetischen Nuklearwaffen gegen vage Sicherheitszusagen der Briten, Amerikaner und just der Russen ein - im Budapester Memorandum 1994. Putins Krieg erinnert daher auch alle Autokraten dieser Welt: Nur der Atomwaffenbesitz taugt als Lebensversicherung. Deshalb ist auch die Kim-Dynastie in Nordkorea noch an der Macht und Saddam Hussein schon im Grab. Die einen haben Atomwaffen, der andere hatte sie nicht. Deshalb bastelt der Iran an der Bombe. Deshalb sendet Polen immer wieder Signale, US-Atomwaffen beheimaten zu wollen, während Putin schon Atombomben in Polens Nachbarland Belarus geschoben hat. - Der Widerspruch war dabei schon kaum auszuhalten, dass die Atombombe zwar augenblicklich Tausende Menschenleben auslöschen kann und auch schon ausgelöscht hat, aber auch verhindern half, dass der Kalte Krieg heiß wurde. Doch Putin nutzt die Waffe nicht nur zur defensiven Abschreckung, sondern auch für seine Offensive, um mit Drohungen die westlichen Waffenhelfer der Ukraine in ihrem Eifer zu bremsen", stellt DIE PRESSE fest, die in Wien erscheint.
In der irakischen Hauptstadt Bagdad wurde als Reaktion auf die angekündigte Verbrennung des Koran in Schweden die schwedische Botschaft gestürmt. Die norwegische Zeitung VERDENS GANG meint: "Es ist dumm, intolerant und kränkend, etwas zu schänden, was für andere Menschen heilig ist. Das weckt starke Emotionen. Aber es wäre schlimm, wenn die schwedischen Behörden den Protesten nachgeben und die Meinungsfreiheit einschränken würden. Gleichzeitig muss sich Stockholm darauf vorbereiten, dass sich der Konflikt vom Irak auf andere Länder ausdehnt und Schwedens Verhältnis zur gesamten muslimischen Welt beeinflusst. Das könnte zu einer diplomatischen Katastrophe für Schweden werden. Große muslimische Länder wie die Türkei oder Saudi-Arabien sowie die schiitische Hisbollah-Miliz beklagen Hass gegen Muslime, und es gibt genug religiöse Gruppen, die den Zorn für sich zu nutzen wissen und wie im Irak Menschen zu Protesten mobilisieren. Wir können nicht ausschließen, dass Schwedens Wirtschaft durch Boykotte ernsthaft leidet oder sich die Angelegenheit erneut auf die Ratifizierung von Schwedens NATO-Beitritt auswirkt", so die Überlegungen der VERDENS GANG, die in Oslo erscheint.
Die BERLINER MORGENPOST resümiert die diesjährige Parade zum Christopher Street Day und nennt sie "eine machtvolle Demonstration": "Für die Gleichbehandlung queerer Menschen, für Toleranz und Offenheit, für Vielfalt und für gute Laune, die unsere Meckergesellschaft dringend braucht. Hunderttausende Menschen machten erneut klar, wie stark gerade in Berlin dieser Teil der Gesellschaft ist, der sich gegen Hass, Engstirnigkeit und das Hinterhertrauern der 'guten alten Zeit' wendet. Es ist ein Fortschritt, dass ein politisch konservativer Hetero-Mann wie der Regierende Bürgermeister Kai Wegner und wichtige Unternehmen dabei sind und dass der Staat Regenbogenflagge zeigt. Was daran anmaßend sein soll, das Recht einzufordern, nach eigener Façon unbehelligt selig werden zu können, leuchtet nicht ein. An alle, die gerne die 'schweigende Mehrheit' und deren 'Verlustängste' für sich reklamieren: Niemand muss queer leben, niemand hat weniger von irgendwas, wenn Diskriminierung aufhört", schreibt die BERLINER MORGENPOST.
Die NZZ AM SONNTAG wünscht trotz Klimakrise und Kritik an Urlaub in der Ferne "Gute Reise!" und findet: "Nur wenige Tätigkeiten sind menschlicher. Man muss den Mond nicht als liegende Sichel sehen – und sich also auf die Südhalbkugel bewegen –, um das Verwandlungspotenzial einer Reise zu erleben. Ein moderater Ortswechsel genügt für die vielleicht letzte Jenseitsvorstellung der säkularen Gesellschaft: Es gibt ein Leben jenseits des Alltags. Oder anders gesagt: Wo die Reise endet, ist nebensächlich, wichtig ist, dass man eine unternimmt. - Das alles mag jetzt nach Lebensberatung klingen, doch gerade heute, da das Reisen seine Unschuld verloren hat, braucht der jährlich wiederkehrende Ferienfuror ein Plädoyer der Verteidigung mehr denn je. Dafür muss weder die kollektive Flugscham kleingeredet, noch der Massentourismus rehabilitiert werden. - Allerdings raubt exakt die kollektive Suche nach Erholung dem Reisen den Stachel, der zu einer substanziellen Erfahrung führt: Wer in der Masse unterwegs ist, kann sich kaum mehr verlieren. Wer einem durchorganisierten Plan folgt, bequemt sich mit dem, was er auf Instagram schon tausendmal gesehen hat. Dabei sind es nicht selten die Sehensunwürdigkeiten, die den Blick für das andere schärfen. Und nur wer sich im Wortsinne gehenlässt, muss am Ende der Auszeit nicht nur seine Siebensachen, sondern ein bisschen auch sich selber wieder sammeln." So weit die NZZ AM SONNTAG.