12. November 2023
Die Presseschau

Die Kommentatoren befassen sich unter anderem mit dem Krieg im Nahen Osten und der Flüchtlings- und Migrationspolitik in Deutschland.

Palästinensische Kinder, Frauen und Männer auf der Flucht im Gazastreifen. Manche der Kinder werden von anderen getragen. Einer der Männer blickt auf sein Handy. Ein kleines Mädchen gähnt. Die Gruppe hat wenig Gepäck. Im Hintergrund steigt Rauch auf.
Vom Norden in den Süden: Palästinensische Familien auf der Flucht im Gazastreifen (dpa / Mohammed Talatene)
Die norwegische Zeitung VERDENS GANG aus Oslo geht auf die Situation in Israel und im Gazastreifen ein: "Die Verantwortung für den Terror am 7. Oktober trägt allein die Hamas, und Israel hat das Recht, sich gegen solche Angriffe zu verteidigen. Aber inzwischen scheint es, als sei Netanjahu dabei, Israel in eine Sackgasse zu bugsieren, aus der das Land nur schwer wieder herausfindet. Der Premier wird vor allem von der Angst um seine eigene Haut umgetrieben, und gerade deshalb ist das Risiko so groß, dass es zu einer Eskalation kommt, die nicht im Interesse Israels liegt. Unter seiner Regierung haben sich immer mehr radikale und gewaltbereite Siedler im Westjordanland niedergelassen. Die Hamas ist nicht dasselbe wie die Palästinenser. Sie ist eine Terrororganisation, und sie ist auch gnadenlos gegenüber ihren eigenen Bürgern. Die Hamas ruft zur Vernichtung Israels auf und fordert einen Staat Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer. Israel kämpft deshalb um seine Sicherheit und nach Ansicht einiger Israelis um seine Existenz – aber Netanjahu kämpft nur für sich selbst. Das Ergebnis sind tausende Tote im Gazastreifen, noch mehr Hass unter den Palästinensern und eine Zunahme der Kritik an Israel aus aller Welt. Nach dem Krieg wird Israel mit Netanjahu abrechnen müssen – und ebenso die Palästinenser mit der Hamas", meint die Zeitung VERDENS GANG aus Oslo.
Die JERUSALEM POST gibt zu Bedenken: "Während Israel in Gaza kämpft, hat sich die Lage im Westjordanland nicht beruhigt. Tatsächlich sind die Kämpfe nur noch intensiver geworden. Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten wurden acht Palästinenser von israelischen Siedlern getötet. Diese acht Todesfälle sollten jeden Israeli beunruhigen. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Yesh Din gab es seit dem 7. Oktober 100 Gewaltvorfälle in über 60 palästinensischen Städten. Am Donnerstag verurteilte Ministerpräsident Netanjahu die Gewalt der Siedler. 'Es gibt eine winzige Handvoll Leute, die diese Gesellschaft nicht repräsentieren und das Gesetz selbst in die Hand nehmen', sagte er. So wichtig die Verurteilung durch den Premierminister auch ist, es besteht Handlungsbedarf. Während sie weiterhin entschlossen gegen den tödlichen palästinensischen Terror vorgehen, müssen die israelischen Sicherheitskräfte auch alles in ihrer Macht Stehende tun, um den jüdischen Terror in seinem Kern zu bekämpfen. Anstifter müssen identifiziert und zur Befragung vorgeführt werden, Täter müssen verhaftet und vor Gericht gestellt werden", verlangt die israelische Zeitung JERUSALEM POST.
In einem Gastkommentar in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG AM SONNTAG heißt es: "Nach dem Anschlag der Hamas vom 7. Oktober gehen die Wogen nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Europa und den USA hoch. Ein endloses gegenseitiges Beschuldigen und Aufrechnen ist im Gang. Dabei dürfte die wirkliche Front klar sein: der Versuch von religiösen Fanatikern, der westlichen Kultur der Aufklärung ein Ende zu bereiten. Die Narrative zum Krieg im Nahen Osten gehen meist aneinander vorbei und greifen ins Leere. Historische und politische Argumente führen zu einem endlosen Hin und Her von Beschuldigungen. Moralisch-humanitäre Gebote stehen der militärischen Selbstbehauptung Israels entgegen, und ein religiös motivierter Identitätswahn behindert Kompromisse. Israel, aber auch einige autoritär, aber säkular regierte arabische Staaten werden in ihrer Selbstbehauptung vom Islamismus herausgefordert. Und auch Europa ist durch die Migration zum Feld des kulturalistischen Kampfes gegen Andersgläubige geworden. Die historischen und politischen Kategorien haben sich längst als Sackgassen erwiesen. Aus dem gängigen Kausalketten-Diskurs, in dem Israel dieses und die Palästinenser jenes getan oder nicht getan haben, ist ein endlos geflochtenes Band von ausweglosen Verstrickungen entstanden", betont die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG AM SONNTAG.
Die WELT AM SONNTAG blickt auf den anstehenden Besuch des türkischen Präsidenten Erdogan in Deutschland: "Erdogan ist ein Wiederholungstäter. Erneut hat er das Existenzrecht Israels öffentlich infrage gestellt. Wie stets, wenn Erdogan auf den Putz haut, folgt die Eskalation machtpolitischem Kalkül. Erdogan nutzt die Empörung der Muslime über die hohe Zahl ziviler Opfer der israelischen Schläge gegen die Hamas, um sich an die Spitze der Bewegung der 'Israelkritiker' zu setzen. Nun kommt der Brandstifter Erdogan am 17. November nach Deutschland, um mit dem Bundeskanzler die gesamte Bandbreite politischer Themen zu besprechen. Die Stimmen, die aufgrund seiner jüngsten Ausfälle seine Ausladung fordern, mehren sich. Und in der Tat, für ein Land, für das die Sicherheit Israels Staatsraison ist, spräche viel dafür, einen Politiker zu canceln, der mit seiner Rhetorik zur Gefährdung von Juden beiträgt und damit kokettiert, das Existenzrecht des jüdischen Staates in Zweifel zu ziehen.Dennoch wäre eine Absage in der gegenwärtigen Lage nicht hilfreich. In einem Moment, in dem die Welt in Flammen steht, muss man sich nicht noch eine weitere diplomatische Krise ins Haus holen. Die Türkei bleibt ein ebenso schwieriger wie kaum verzichtbarer Partner. Sowohl in der Ukraine als auch im Nahen Osten werden wir sie noch brauchen. Von Flüchtlingen gar nicht zu reden", unterstreicht die WELT AM SONNTAG.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG ist zu den Beschlüssen der Ampelkoalition in der Flüchtlings- und Migrationspolitik zu lesen: "Die lange Nacht im Kanzleramt war nicht die erste ihrer Art, und wieder verfehlte sie notwendige Klärungen. Gleichwohl ist sie bemerkenswert. Zum ersten Mal seit dem Asylkompromiss von 1993 zeichnete sich ein parteiübergreifender Konsens ab, dass es die Anziehungskraft Deutschlands für Flüchtlinge und irreguläre Migranten zu reduzieren gilt; dass man den Zustrom begrenzen muss, will man 'es schaffen'. Die aus den Fugen geratene Migration mit ihren Konsequenzen für den gesellschaftlichen Frieden, aber auch die Erfahrungen mit islamischen Einwanderern - von Siegeskorsos für den türkischen Präsidenten Erdogan bis zu antisemitischen Hetzparolen auf Pro-Palästina-Demos - haben, wenn auch sehr spät, den Realismus in die Debatte zurückgebracht. Erst stellte die Regierung ihren Widerstand gegen stationäre Grenzkontrollen ein, dann gegen ein schärferes Abschieberecht und nun gegen Leistungsbeschränkungen für Asylbewerber. Die wirklich harten Bretter müssen erst gebohrt werden, etwa die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten, was - das zeigt das Abkommen der italienischen Ministerpräsidentin Meloni mit Albanien - nur mit persönlichem Einsatz des Regierungschefs erreichbar ist", hebt die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG hervor.
DER TAGESSPIEGEL AM SONNTAG schreibt zur Krise der Linken in Deutschland: "Das Austragen von Grundkonflikten führt gerade nicht weiter. Positionen dazu haben einst die politische Linke zusammengehalten und vergleichsweise stark gemacht. Es sind andere Zeiten. Das tritt alles in den Hintergrund, wenn real existierende Menschen den Eindruck gewinnen, dass nicht für sie selber Politik gemacht wird, sondern um der Theorie willen. Darin liegt ein Teil der Krise aller Linken: Wo für sie die Unterscheidung von anderen, von Rechten, unverzichtbar ist, werden in den Lösungsangeboten für die großen Fragen von Migration bis Klima immer mehr Kompromisse deutlich. Es geht um lebensnahe Politik, nicht um einen Pakt mit dem Populismus. Links zu sein bedeutet danach einerseits, alle Inhalte darauf zu prüfen, ob sie jedem Menschen die gleichen Rechte und Möglichkeiten zusichern – zugleich aber Progressivität daran zu bemessen, was sich verwirklichen lässt. Gerechtigkeit und Solidarität, immer konkret, immer praktisch. Jetzt ganz besonders. Wenn sich links so aus den Lösungen herauslesen lässt, ist es nicht mit rechts zu verwechseln. Und wird nicht in allen Wahlen geschlagen, Mal um Mal." So weit DER TAGESSPIEGEL AM SONNTAG, mit dem die Presseschau endet.