30. Mai 2023
Die Presseschau aus deutschen Zeitungen

Kommentiert werden die Einigung im US-Schuldenstreit und die vorgezogenen Parlamentswahlen in Spanien. Doch zunächst geht es um den Ausgang der Stichwahl um das Präsidentamt in der Türkei.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält eine Ansprache. In der linken Hand hält er ein Mikrofon und gestikuliert.
Die Zeitungen äußern sich unter anderem zur Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. (picture alliance / dpa / Tass / Valery Sharifulin)
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG führt aus: "Das Land macht weiter wie bisher, mit dem gewohnten Präsidenten, der seinen Anhängern schon versprach, 'bis ins Grab' bei ihnen zu sein. Und es vertagt die ungelösten Konflikte, etwa mit der Minderheit der Kurden. Der um sich greifende Nationalismus verhindert, dass sich die Gesellschaft endlich aussöhnt mit sich, mit der Tatsache, dass sie nun einmal heterogen ist. Stattdessen fühlen sich die Sieger, also Erdogans Anhänger, nun weiterhin als die Chefs im Land, mit der Lizenz, die anderen zu beherrschen. Die Tragik dieser Wahlen liegt in einem Widerspruch. Erdogan hat einerseits gewonnen, andererseits ist er schwach wie nie. Sein Sieg war kein Triumph, er kam über 52 Prozent nicht hinaus, und das in einem vollkommen unfairen Rennen. Die Beinah-Niederlage, die Erfahrung, verlieren zu können, sie wird Erdogan eher noch autoritärer werden lassen. Er wird alles daransetzen, dass er in fünf Jahren noch schwerer zu schlagen sein wird", vermutet die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.
Erdogan fühle sich in seiner bisherigen Politik bestätigt, vermerkt die FREIE PRESSE aus Chemnitz: "Trotz der Wirtschaftskrise mit hoher Inflation und einem Wertverlust der Lira von 75 Prozent seit der letzten Wahl vor fünf Jahren hält eine Mehrheit der Türken zu ihm. Erdogan gewann die Wahl mit einer Mischung aus lauteren Mitteln wie seinem Gespür für die Stimmung der Wähler und unlauteren Methoden wie seiner Kontrolle über Justiz, Verwaltung und Medien. Jetzt hat er freie Bahn. Es gibt keine politischen oder wirtschaftlichen Hindernisse mehr für seine unbeschränkte Macht", konstatiert die FREIE PRESSE.
Die WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG aus Essen gibt zu bedenken: "Bei aller Verbitterung über den Wahlausgang darf nicht vergessen werden, dass knapp die Hälfte der Wahlberechtigten in der Türkei eben nicht Erdogan gewählt haben. Es sind zumeist jene Menschen, die eine andere, eine freiere und demokratische Türkei wollen. Vor allem in den Großstädten haben sie eher die Opposition gewählt, besonders viele junge Menschen. Verständlich, dass sie nun enttäuscht sind. Doch ihre große Zahl zeigt, dass das Potenzial für einen Wandel vorhanden ist", hebt die WAZ hervor.
Die MITTELDEUTSCHE ZEITUNG aus Halle beobachtet: "Bei jeder Türkei-Wahl kommt Präsident Recep Tayyip Erdogan in Deutschland auf ein besseres Ergebnis als in der Heimat. Natürlich ist alarmierend, dass so viele Deutschtürken, die die Vorzüge der Demokratie genießen, für einen Autokraten in einem Land stimmen, in dem sie nicht leben. Eben weil sie aber in Deutschland leben und Teil dieser Gesellschaft sind, sollte die Konsequenz heißen, sie stärker einzubeziehen", folgert die MITTELDEUTSCHE ZEITUNG.
Aus Sicht der HEILBRONNER STIMME leben viele Deutsch-Türken in einer Parallelwelt: "Sie interessieren sich nicht für deutsche Medien, lassen sich von Erdogans Staatsmedien berieseln. Vor der Situation ihrer Landsleute in der Türkei verschließen sie die Augen. Während man hierzulande Meinungsfreiheit und alle staatlichen Vorzüge einer Demokratie genießt, ist es vielen Deutsch-Türken wohl egal, dass es diese Vorzüge in ihrem Heimatland nicht mehr gibt. Ein Trauerspiel, das deutlich macht, wie wenig erfolgreich die Integrationsbemühungen bislang sind", moniert die HEILBRONNER STIMME.
Der Berliner TAGESSPIEGEL blickt voraus: "Schon in wenigen Tagen beim Gipfeltreffen der EU mit europäischen Nachbarstaaten wird ein selbstbewusster Erdogan mit am Tisch sitzen. Wie mit ihm umgehen? Die Türkei komplett zu isolieren, ist wenig hilfreich. Zu wichtig ist das Land als NATO-Mitglied, als Bindeglied zwischen Europa, Nahost und Asien. Mit China und Russland stehen schon zwei Großmächte bereit, die liebend gerne Erdogan komplett auf ihre Seite ziehen möchten. Dennoch ist Nachgiebigkeit keine Lösung. Es wird also etwas zwischen Prinzipientreue, Stärke zeigen und Realitätssinn benötigt", ist sich der TAGESSPIEGEL sicher.
Themenwechsel. Die RHEINISCHE POST aus Düsseldorf geht auf den Schuldenstreit in den Vereinigten Staaten ein: "Die USA machen es spannend wie in einer Netflix-Serie. Wochenlang pokerten Demokraten und Republikaner um die Konditionen, zu denen die Schuldenobergrenze angehoben wird. Nun, wenige Tage vor dem drohenden Zahlungsausfall, kommt die erlösende Nachricht: Joe Biden und der republikanische Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, einigen sich. Die Grenze soll für zwei Jahre ausgesetzt werden. Der Präsident ist der stille Gewinner, geschickt überlässt er McCarthy die Vermarktung. Denn der muss nun die radikalen Republikaner für den Deal gewinnen – und sitzt selbst nicht fest im Sattel. Erst, wenn beide Kammern des Kongresses das Gesetz verabschieden, kann die Welt aufatmen", notiert die RHEINISCHE POST.
Die FRANKFURTER RUNDSCHAU bemerkt zur Strategie von US-Präsident Biden: "Mit seiner ruhigen Art hat der alte Fuchs viel mehr erreicht, als viele noch vor Tagen für möglich gehalten hatten: Er hat einen politisch verheerenden Zahlungsausfall der USA verhindert. Er hat den nächsten Budgetstreit auf die Zeit nach den Wahlen vertagt. Und er hat seine Klimavorzeigeprojekte ungeschoren durchgebracht. Dass die Parteilinken gleichwohl wenig begeistert von dem Kompromiss sind, kann niemand verwundern. Aber unter dem Strich muss McCarthy, dessen Partei brutale Einschnitte gefordert hatte, deutlich größere Eingeständnisse machen. Für den Karrieristen, der von der Gnade der ultrarechten Politchaoten in seiner Fraktion abhängt, könnte das Nachgeben politisch sogar lebensbedrohlich werden", analysiert die FRANKFURTER RUNDSCHAU.
Das STRAUBINGER TAGBLATT bilanziert: "Obwohl keiner so recht zufrieden sein kann, ist der Preis für den Deal hoch, denn wieder einmal haben die Reputation der amerikanischen Politik und das Vertrauen in die Institutionen gelitten. Die Folgen dieses Nervenkrieges werden die USA bei den Zinsen zu spüren bekommen, die sie für ihre gigantischen Schulden berappen müssen. Gelöst sind die Probleme jedoch nicht, schon kommendes Jahr nach der Präsidentschaftswahl wird das Gezerre über die Schuldenobergrenze von vorn losgehen", erwartet das STRAUBINGER TAGBLATT.
Nun nach Spanien, wo Ministerpräsident Sánchez nach den Stimmenverlusten seines Linksbündnisses bei den Kommunal- und Regionalwahlen vorzeitige Parlamentswahlen angekündigt hat. Die TAGESZEITUNG bewertet das wie folgt: "Damit erwischt er die siegreichen Rechten von Partido Popular und VOX kalt. Die hatten ihren Fahrplan bis zum Winter bereits vorbereitet. Sie wollten Sánchez Tag für Tag vorwerfen, dass er ein autoritärer, undemokratischer Regierungschef sei, der an seinem Amt festhält und das Land zerstört, statt des Volkes Willen abzufragen. Diese Kampagne ist nun hinfällig. Die PP wird in den kommenden Wochen ein Problem haben. Sie wird ihre Koalitionsabkommen in Gemeinden und Regionen mit der rechtsextremen VOX vorstellen müssen. Die wird die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, die Diktatur zu verherrlichen, ihre rassistischen, frauen- und minderheitsfeindlichen Sprüche loszuwerden und Maßnahmen in die Koalitionsabkommen zu diktieren. Das macht vielen Angst und könnte mobilisieren – für eine erneute Amtszeit von Sánchez", spekuliert die TAGESZEITUNG.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG findet: "Es ist dringend nötig, dass die beiden größten Parteien ihr Verhältnis zu den Extremisten und Nationalisten klären - links wie rechts. Viel zu lange schon ließen sich die sozialistische PSOE und die konservative PP von ihnen erpressen. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist das alte Zweiparteiensystem Geschichte. Spanien braucht politische Klarheit und Stabilität. Das ist auch im europäischen Interesse. Drei Wochen vor der Wahl übernimmt die viertgrößte Volkswirtschaft der EU die Ratspräsidentschaft."