06. Oktober 2023
Die Presseschau aus deutschen Zeitungen

Kommentiert wird unter anderem die Entscheidung von Bundeskanzler Scholz, der Ukraine weiter keine Taurus-Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen. Weiteres Thema ist die Verleihung des diesjährigen Literaturnobelpreises an den Norweger Jon Fosse. Doch zunächst geht es um die AfD-Doppelspitze und die Zwischenfälle im Zusammenhang mit Wahlkampfauftritten:

Tino Chrupalla und Alice Weidel stehen während einer Pressekonferenz auf dem Bundesparteitag der AfD nebeneinander.
Ein Thema in den Kommentaren der Zeitungen ist das AfD-Führungsduo Tino Chrupalla und Alice Weidel (Archivbild). (Sebastian Kahnert/dpa)
Die BADISCHE ZEITUNG aus Freiburg meint, Aufklärung sei dringend geboten: "Der eine AfD-Vorsitzende aus ungeklärten Gründen einen Tag in der Klinik, die andere AfD-Vorsitzende nach einer - eine Weile zurückliegenden - Drohung außer Landes, da sollte schon der gesunde Menschenverstand zur Vorsicht mahnen und voreilige Erklärungen verbieten. Leider ist dem nicht so. Funktionäre der in weiten Teilen rechtsextremen Partei tönen ungeniert von 'tätlichen Angriffen' und Hinweisen auf einen Anschlag. Als käme ihnen die Gelegenheit, die Partei und ihre Repräsentanten wieder einmal als Opfer übler Mächte darzustellen, vor dem Wahlsonntag in Hessen und Bayern gerade recht. Aber zimperlich sind auch AfD-Gegner nicht. Für viele von ihnen stand prompt fest, was auch nicht erwiesen ist: dass nämlich Tino Chrupallas Beschwerden nichts mit einem versteckten Angriff zu tun haben könnten oder Alice Weidel schlicht mehr Bock auf Mallorca als auf Wahlkampf gehabt habe", notiert die BADISCHE ZEITUNG.
Auch die MITTELDEUTSCHE ZEITUNG aus Halle hebt hervor, viele Details seien unklar: "Eins aber muss festgestellt werden: Gewalt, Drohungen, Attacken dürfen keine Mittel der politischen Auseinandersetzung werden. Vertreter einer Partei, die Hass schürt und Ausgrenzung befördert, sollten immer und überall auf Widerspruch treffen. Zu einer demokratischen Gesellschaft muss es aber auch gehören, dass Politiker zugelassener Parteien unversehrt auftreten können und dass sie vor Übergriffen und Drohungen sicher sind."
Unbestritten sei, schreibt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, dass "die Vorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla als gefährdete Personen gelten müssen. Das ist schlimm genug. In diesen aufwühlenden Momenten ist es aber zwingend, die Klappe zu halten und den Behörden das Wort zu überlassen. Die Hysterie im Netz ist bedrückend, die Partei nutzt die Unschärfe, um den Opfernimbus zu nähren. Dieses Geraune ist gefährlich für die Demokratie." Das war die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.
Themenwechsel. Bundeskanzler Scholz hat angekündigt, der Ukraine weiter keine Taurus-Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen. Dazu bemerkt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG: "Aus dem, was über Umwege aus dem Kanzleramt durchgesickert ist, ergeben sich zwei Gründe für das Zögern von Scholz: die Möglichkeit, mit den Marschflugkörpern Schläge tief auf russischem Gebiet zu führen, und der Umstand, dass man der Ukraine offenbar auch Geodaten oder Personal zur Verfügung stellen müsste. Beides sind ernste Probleme, die man nicht leichtfertig vom Tisch wischen sollte. Die Möglichkeit, dass Deutschland als Kriegspartei angesehen werden könnte, ist ein legitimer Grund, auf die Lieferung eines Waffensystems (vorerst?) zu verzichten. Dass Großbritannien und Frankreich da andere Abwägungen vornehmen, hilft in der hiesigen Debatte nicht weiter. Gerade weil London und Paris Marschflugkörper geliefert haben, ist es ja nicht so, dass die Ukraine diese Fähigkeit von ihren Verbündeten gar nicht bekäme", gibt die F.A.Z. zu bedenken.
Der REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER beobachtet: "Auch die USA zögern noch, was die Lieferung vergleichbarer ATACMS-Raketen angeht. Und es ist stets der große Bruder aus Übersee, an dem sich Scholz orientiert. Eine selbstbewusste europäische Sicherheitspolitik sieht anders aus. Dabei wäre eine solche im Moment wichtiger denn je. Steht doch die Unterstützung der Ukraine durch die USA auf tönernen Füßen, sollte die Fraktion um Donald Trump an die Macht zurückkehren. Tatsächlich wünschen sich die Amerikaner ein eigenständigeres Engagement der Europäer, würden sie sich doch lieber auf einen drohenden Konflikt mit China um Taiwan konzentrieren", vermutet der REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER.
Scholz müsse bedenken, was auf dem Spiel stehe, betont das STRAUBINGER TAGBLATT: "Mit seiner Reichweite könnte Taurus weit auf russischem Gebiet eingesetzt werden. Mit Geoinformationsdaten aus Deutschland. Das wäre eine neue Dimension. Manche Völkerrechtler haben Bedenken. Eine Reichweitenbegrenzung wäre zwar möglich, doch die Ukraine hat pfiffige Rüstungs- und IT-Spezialisten, für die das kein großes Hindernis darstellen dürfte. Mag sein, dass die Ukraine sich bisher an die Vorgaben gehalten und Waffen aus dem Westen so wie vereinbart eingesetzt hat. Was aber ist, wenn der militärische Druck zu groß wird?", fragt das STRAUBINGER TAGBLATT.
Die LAUSITZER RUNDSCHAU aus Cottbus bilanziert: "Nun ist es wieder so, dass mit Zögern und Scholzen eine Entscheidung in der Luft hängt. Gewiss werden diese Raketen den Krieg nicht entscheiden. Doch helfen können sie der Ukraine in ihrem Kampf gegen die Invasoren definitiv. In Zeiten eines drohenden Shutdowns in den USA, Wahlkampfmanövern in Polen und prorussischer Parteisiege in anderen EU-Staaten ist eine deutliche und klare Unterstützung der Ukraine wichtiger denn je. Zumal das Land auch unsere Werte verteidigt", unterstreicht die LAUSITZER RUNDSCHAU.
Die NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG beschäftigt sich mit dem Literaturnobelpreis, der in diesem Jahr dem Norweger Jon Fosse verliehen wird: "Die Schwedische Akademie verpasst die Chance, mit dem Literaturnobelpreis 2023 ein politisches Zeichen zu setzen. Das werden Kritiker jetzt monieren. Dabei gilt der Preis der Literatur, keinem noch so honorigen Engagement. In diesem Sinn geht das Votum für Fosse nicht nur in Ordnung, es war von vielen Literaturliebhabern längst erwartet worden. Die Jury hat sich für ein starkes literarisches Werk entschieden und für einen Autor, der ähnlich populär und geschätzt ist wie Margaret Atwood und Haruki Murakami, die seit Jahren für die höchste literarische Auszeichnung der Welt gehandelt werden. Nach der Französin Annie Ernaux, die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden war, geht der Preis wieder an eine Autorenpersönlichkeit, die präsent und prominent ist. Fosses Bücher werden, ähnlich wie die von Annie Ernaux, wirklich gelesen", erläutert die NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG.
Der Berliner TAGESSPIEGEL analysiert, bei Fosse gehe es um "Schmerz, Trauer, Alkoholismus und Einsamkeit, bevorzugt von Männern, um Offenbarungen und Erlösung, um die Leere und das Nichts. Es lässt sich schon sagen, dass seine Literatur etwas Universelles hat, anderseits verweist sie sehr auf sich selbst. So wie es die Akademie am liebsten hat: Vor der gesellschaftspolitischen Sendung kommt bei ihr die Literatur. Vor einem Statement beispielsweise zum Thema Meinungsfreiheit oder bezüglich gefährdeter, verfolgter Autoren und Autorinnen der Verweis auf die eigene Deutungshoheit. Deshalb wurde Salman Rushdie wieder nicht ausgewählt, deshalb ging Ljudmila Ulitzkaja leer aus, deshalb hat der chilenische Dichter Raúl Zurita vielleicht nie eine Chance. Die schwedische Akademie ist eine Klasse für sich, ihr Blick ein eurozentrischer", urteilt der TAGESSPIEGEL.
Die große Stärke von Fosse liege im Atmosphärischen, heißt es in der Zeitung DIE WELT: "Menschen, Sprache, Landschaft, das verdichtet sich bei ihm zu archetypischen Bildwelten, die die Düsternis der Klischees über Skandinavien noch übertreffen. Im Genre der Kriminalromane hat diese Atmosphäre in den vergangenen Jahren ein Massenpublikum gefunden, Fosse ist das auch gelungen – allerdings ohne Krimihandlung. Bei ihm wird kein Mörder gesucht, sondern die Suche selbst wird zum bestimmenden literarischen Thema – nach dem Sinn. Der inzwischen vierte Nobelpreis für einen norwegischen Schriftsteller, er geht mit Fosse an einen Autor, der sich schriftstellerisch an der berühmten 'transzendentalen Obdachlosigkeit' abarbeitet – ein Thema, das man – wie Fosse selbst – kaum noch auf dem Zettel hatte." Das war zum Ende der Presseschau DIE WELT.