Mittwoch, 15. Mai 2024

27. März 2024
Die Presseschau aus deutschen Zeitungen

Viele Zeitungen kommentieren die Entscheidung des Londoner High Court, dass Julian Assange Berufung gegen seine Auslieferung in die USA einlegen darf. Vorrangiges Thema ist aber die Tarifeinigung bei der Deutschen Bahn.

27.03.2024
Zu sehen ist ein ICE
Bei der Bahn (picture alliance / dpa / Jan Woitas)
Dazu schreibt die MÄRKISCHE ODERZEITUNG aus Frankfurt /Oder: "Dank seiner Beharrlichkeit hat GDL-Chef Claus Weselsky sich mit der 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter durchgesetzt. Das wird ihm in seinem letzten Kampf als Gewerkschaftschef niemand nehmen können. Damit hat er sich ein Denkmal gesetzt. Doch gelohnt hat sich das trotzdem nicht. Denn Weselsky erstritt die verkürzte Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich nicht etwa für Zehntausende Beschäftigte. Weniger als 10.000 GDL-Mitglieder werden davon profitieren. Und wer weiß, wie viele die 35-Stunden-Woche tatsächlich in Anspruch nehmen, wenn sie stattdessen für eine reguläre Woche mehr Geld bekommen können", fragt die MÄRKISCHE ODERZEITUNG.
Die Koblenzer RHEIN-ZEITUNG blickt in die Zukunft: "Weselskys Stil hat eine heikle Konsequenz, denn nun ist eine politische Debatte um eine Änderung des Streikrechts entbrannt. Diejenigen fühlen sich bestätigt, die glauben, dass Spartengewerkschaften zu viel Macht haben, dass es nicht sein kann, dass gerade in wichtigen Infrastrukturbereichen oder denen der Daseinsvorsorge ein ganzes Land mal eben lahmgelegt wird. Schnellschüsse verbieten sich hier aber, vor allem solche, die die Arbeitgeber womöglich einseitig bevorteilen. Mag der GDL-Streik und insbesondere Claus Weselsky die Nerven aller noch so sehr strapaziert haben", gibt die RHEIN-ZEITUNG zu bedenken.
Die LUDWIGSBURGER KREISZEITUNG begrüßt den Tarifabschluss bei der Bahn: "Das ist die Innovation an der Einigung: Sie sorgt für mehr Flexibilität und macht es attraktiv, länger zu arbeiten. Anreize für mehr Arbeit – sie werden in Zeiten des Fachkräftemangels die Zukunft auf dem Arbeitsmarkt sein", ist die LUDWIGSBURGER KREISZEITUNG überzeugt.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG ist hingegen skeptisch: "Das Interesse der Kunden liegt vor allem darin, zu bezahlbaren Preisen mit pünktlichen Zügen durch Deutschland zu fahren. Ob der jetzt ausgehandelte Vertrag den Staatskonzern diesem Ziel näherbringt, ist mehr als fraglich. Am Ende müssen Bahnkunden und Steuerzahler die Zeche zahlen. Und auch für die GDL könnte sich der Abschluss als Pyrrhussieg erweisen. Schon wird in der Politik über Änderungen des Streikrechts diskutiert. Statt zwei Gewinnern könnten damit zwei Verlierer vom Platz gehen", so die Erwartung der FAZ.
Die GLOCKE aus Oelde in Westfalen blickt auf GDL-Chef Weselsky: "Bei der Laufzeit musste Weselsky eine Klatsche einstecken – statt 12 sind es 26 Monate. Der bald scheidende GDL-Chef selbst würde das jedoch niemals zugeben. Dafür ist er viel zu selbstherrlich. Niederlagen eingestehen? Nicht seine Sache. In der Vergangenheit hat er lieber jede Menge verbrannte Erde hinterlassen. Beleg dafür: Die Tarifparteien schafften es gestern nicht einmal, den Abschluss gemeinsam vorzustellen", hält die GLOCKE aus Oelde fest.
Für die STUTTGARTER ZEITUNG ist klar: "Den harten Kurs wird auch Weselskys Nachfolger beibehalten – schon weil auch er den Erzfeind, die große Gewerkschaftsschwester EVG, ausstechen muss. Zwischen EVG und Bahn läuft der Tarifvertrag in einem Jahr aus, dann wären auch hier wieder Streiks möglich. Kaum vorzustellen, dass sich die EVG mit weniger als die GDL abspeisen lässt. Auch deshalb gibt es für die Bahnkunden nur bis zum nächsten Frühjahr Entwarnung", so die Erwartung der STUTTGARTER ZEITUNG.
Das HANDELSBLATT kritisiert: "In einer dramatisch alternden Gesellschaft von der allgemeinen 35-Stunden-Woche mit Lohnausgleich zu träumen ist illusorisch. Wer das will, muss sagen, wie durch Einwanderung oder Automatisierung die entstehenden Lücken geschlossen werden sollen. Oder den Menschen erklären, dass die schöne neue Arbeitswelt nur um den Preis von Wohlstandsverlusten zu haben ist. Als kollektiver Freizeitpark kann Deutschland im internationalen Wettbewerb nicht bestehen", stellt das HANDELSBLATT klar.
Die FRANKFURTER RUNDSCHAU ist anderer Ansicht: "Endlich haben sich die Spitzen der Deutschen Bahn und der Lokführergewerkschaft GDL geeinigt. Mit dem Ende des hitzigen Tarifkonflikts haben alle gewonnen: die Fahrgäste, die GDL um Claus Weselsky und auch das Bahn-Management. Es ist ein klassischer Kompromiss. Alle Seiten können Erfolge vorweisen, alle müssen Zugeständnisse machen", so das Urteil der FRANKFURTER RUNDSCHAU.
Die SÄCHSISCHE ZEITUNG aus Dresden meint: "Die GDL kann die Claus-Weselsky-Gedenkmedaille in Auftrag geben. Der scheidende Chef der Lokführergewerkschaft hat erreicht, was er und seine Gefolgschaft wollte: den Einstieg in die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter. Brauchte es einen Beweis für Unfähigkeit der Bahnspitze auch auf diesem Gebiet, dann hat ihn dieser Konflikt geliefert. Sich der GDL-Kernforderung – weil 'unbezahlbar' – monatelang verweigern, dann mit Scheinangeboten und Verbalattacken aufwarten und auf Justitia hoffen: Das musste schiefgehen. Letztlich ging es um Gesichtswahrung. Die Baustelle Bahn bleibt – wie die Unruhe im Konzern. Wie reagieren die nicht profitierenden 90 Prozent der DB-Belegschaft? Weselsky kann es egal sein. Er geht im Herbst in Rente. Mit Mario Reiß steht ein ebenso selbstbewusster Nachfolger bereit. Er weiß als Ex-Konzernaufsichtsrat, wie die Chefs ticken. Und auch er ist Sachse", vermerkt die SÄCHSISCHE ZEITUNG.
Themenwechsel. Die MITTELDEUTSCHE ZEITUNG aus Halle schreibt über die zunächst abgewendete Auslieferung von Julian Assange an die USA: "Würde Assange, obwohl er kein US-Bürger ist, nach Amerika ausgeflogen, müssten Journalisten weltweit jederzeit fürchten, dass ein Staat sie wegen ihrer investigativen Arbeit auch im europäischen Rechtsraum anklagen und dann eine Auslieferung verlangen könnte. Ein Horrorszenario. Assange hat für seine Veröffentlichungen längst teuer bezahlt", so die Meinung der MITTELDEUTSCHEN ZEITUNG.
Noch eindeutiger formuliert es die TAZ: "Dieses Verfahren ist nur noch beschämend. Natürlich ist es erst einmal gut, dass Julian Assange in Großbritannien gegen seine Auslieferung in die USA in Berufung gehen darf. Aber ein Grund zum Feiern ist die Entscheidung aus London wahrlich nicht. US-Präsident Joe Biden könnte die Verfolgung Assanges mit einem Federstrich einstellen, so wie einst Barack Obama eine Begnadigung für Chelsea Manning aussprach. Denn jeder Tag, den der schwer kranke Assange weiter im Gefängnis sitzt, kostet den Westen Glaubwürdigkeit", kritisiert die TAZ.
Die Zeitung ND DER TAG aus Berlin blickt auf die deutsche Haltung im Assange-Verfahren: "Eine Schande ist und bleibt es, dass die den westlichen Werten so sehr verpflichtete deutsche Regierung dazu weiter schweigt. Auch gestern kein Wort etwa von Außenministerin Annalena Baerbock, die bis zur Bundestagswahl 2021 regelmäßig die Freilassung von Assange gefordert hatte. Seit ihrem Amtsantritt jedoch bekundete sie lediglich wiederholt ihr Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des britischen Verfahrens. Sie dürfte genau wissen, dass es in Wahrheit ein Angriff auf Demokratie und Freiheit ist", moniert die Zeitung ND DER TAG.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG sieht es grundsätzlich: "Die Grundidee staatlichen Strafrechts ist, dass nicht die unmittelbar Geschädigten einer Straftat selbst ihre Rechnungen begleichen, mit pochenden Adern und Rachegelüsten, sondern dass ihnen eine neutrale Instanz dies abnimmt. Sachlich, distanziert und dazu fähig, größere Prinzipien hochzuhalten. Was aber geschieht, wenn dieser Geschädigte und der Staat einfach identisch sind, das erlebt man in den seltenen Fällen, in denen sich ein Staat einen echten oder vermeintlichen Spion oder Verräter vorknöpft. Die mäßigende Wirkung der Distanz entfällt. Schnell wird es brachial. Die Reaktion der USA ist höllisch politisiert. In solchen Fällen endet die Kooperation zwischen Rechtsstaaten, auch zwischen befreundeten. Es ist überfällig, dass Großbritanniens Justiz dies in Richtung der USA endlich ausspricht – und Julian Assange freilässt", fordert die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, mit der diese Presseschau endet.