Freitag, 17. Mai 2024

02. Mai 2024
Die Presseschau aus deutschen Zeitungen

Die Eil-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs im Völkermordprozess gegen Deutschland ist Thema, zunächst geht es aber um den gestrigen "Tag der Arbeit" und die Debatte über Arbeitsmarktpolitik und Konjunktur.

02.05.2024
Eine Demonstrationzug zieht am Tag der Arbeit durch Berlin-Friedrichshain. Auf einem Schild wird mehr Tariflohn gefordert.
Tag der Arbeit: Demonstration in Berlin (Christoph Soeder / dpa / Christoph Soeder)
Die WESTDEUTSCHE ZEITUNG aus Wuppertal unterstreicht: "Hat man der Videobotschaft von Kanzler Scholz zum 1. Mai aufmerksam zugehört, ist da ein Besorgnis erregend schön gezeichnetes Bild deutscher Arbeitswelt auf Video gebannt. Für Scholz kann alles bleiben, wie es ist. Keiner schraube bitte an der Rente und deren Zugangsverhältnissen, gearbeitet werde doch so viel wie nie. Passend dazu hat der Deutsche Gewerkschaftsbund angesichts seiner zuletzt gelungenen Tarifverhandlungen getitelt: 'Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit.' Klingt wie im Paradies. Angesichts von überbordendem Fachkräftemangel, Branchenkrisen und einem kollabierenden Rentensystem, in dem immer mehr ältere Menschen Rente erhalten als jüngere Menschen dafür einzahlen können, ist das eine euphemistische Erzählung unserer Zeit", betont die WESTDEUTSCHE ZEITUNG.
Auch die FRANKENPOST aus Hof findet: "Es ist von Bundeskanzler Olaf Scholz grob fahrlässig, eine weitere Erhöhung des Rentenalters über die bislang beschlossene Anhebung auf 67 Jahre hinaus derart kategorisch auszuschließen. Wie sehr ein Politiker damit auf die Nase fallen kann, zeigt das Beispiel des einstigen Bundesarbeitsministers Norbert Blüm mit seinem markigen Spruch 'Denn eines ist sicher: die Rente'. Pah, nichts ist sicher."
Die FREIE PRESSE meint dagegen: "Kanzler Olaf Scholz hat eine weitere Verschiebung des Renteneintrittsalters zurecht abgelehnt. Er stemmt sich damit gegen eine von interessierter Seite in Wirtschaft und Politik losgetretene Kampagne, die ein Zerrbild Deutschlands zeichnet. Da wird suggeriert, die Deutschen seien nicht mehr fleißig genug, arbeiteten zu wenig, müssten zu mehr Überstunden animiert werden und scheuten vor Mehrarbeit zurück. Das Schlagwort vom 'Freizeitpark Deutschland' hat wieder Konjunktur. Das alles ist empörendes Gerede, das weit an der Realität vorbeigeht", heißt es in der FREIEN PRESSE aus Chemnitz.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG ergänzt: "Alle reden über Personalmangel, aber kaum jemand über etwas Offensichtliches: Millionen Frauen wären gerne mehr berufstätig. Doch die Verhältnisse machen es ihnen schwer. Wenn die Bundesregierung das ernsthaft ändert, würde sie nicht nur Gleichberechtigung fördern, sondern zugleich die wirtschaftliche Schwäche bekämpfen. 20 Prozent der weiblichen Fachkräfte und 30 Prozent der Hilfskräfte möchten mindestens vier Stunden die Woche länger tätig sein. Doch dafür gibt es viele Hindernisse: mangelndes Kita-Angebot. Firmen, die Home-Office reduzieren. Männliche Partner, die sich immer noch viele Stunden weniger als die Frauen um Haushalt und Kinder kümmern. Das Land begegnet Arbeitnehmerinnen im Jahr 2024 teils immer noch mit den Rollenvorstellungen von 1958, als Ehemänner zu genehmigen hatten, dass Ehefrauen arbeiten gingen. Eine Zuspitzung? Nein, sondern die Realität des damals eingeführten Ehegattensplittings." So weit die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.
Der TAGESSPIEGEL stellt heraus: "Sicher ist: Wird die Arbeit als sinnstiftend empfunden, sind alle bereit, mehr zu tun. Ich arbeite, also bin ich? Damit Arbeit sinnstiftend wirken kann, braucht es natürlich Sicherheit, Verlässlichkeit – und, ja, auch Geld. Schon heute brauchen wir wirklich alle, die arbeiten können. Vielleicht ist ja die ökologische Transformation der Wirtschaft in den kommenden Jahren dabei nicht nur eine weitere Herausforderung, sondern eine Chance: Viele neue Jobs werden entstehen, für die es motivierte, gut aus- und weitergebildete Menschen braucht. Wenn die Arbeit dann sinnvoll ist und Sicherheit gibt, werden sie auch viele machen wollen", folgert der TAGESSPIEGEL aus Berlin.
Der REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER befasst sich mit der Rolle der Gewerkschaften: "Die hohen Abschlüsse, die in letzter Zeit erzielt wurden, waren nötig, um die Wohlstandsverluste durch die hohe Inflation auszugleichen. Dennoch müssen sich die Gewerkschaften klar machen, dass immer höhere Löhne und immer kürzere Arbeitszeiten in Zeiten von Rezession und Fachkräftemangel für Deutschland zum Standortnachteil werden. Wohlstand muss verdient werden. Zudem orientieren sich gerade die großen Gewerkschaften wie Verdi oder die IG Metall mit ihren Forderungen häufig an der Leistungsfähigkeit der großen Konzerne, wo sie über einen hohen Organisationsgrad verfügen. Für viele Mittelständler sind diese Forderungen kaum noch zu erfüllen, deshalb bleibt ihnen oft nichts anderen übrig, als die Tarifbindung zu verlassen", notiert der REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER.
Die FRANKFURTER RUNDSCHAU überlegt: "Die Einigung im Tarifstreit zwischen der Deutschen Bahn und der Lokführergewerkschaft GDL zeigt, wohin die Reise gehen könnte: zu Arbeitszeitmodellen, die den Beschäftigten die Wahl lassen. Je nach Vorliebe oder Lebensphase könnte dann mehr oder weniger gearbeitet werden. Das ist nicht sofort in allen Branchen möglich. Auch deshalb braucht es die Tarifpartner, die für jede Branche die passende Regelung finden können."
Zum nächsten Thema. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat am Dienstag einen Eilantrag Nicaraguas abgewiesen, wonach Deutschland seine Waffenlieferungen an Israel einstellen soll. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG bemerkt: "In Berlin wird man eine gewisse Erleichterung empfunden haben: Auch wenn kaum jemand ernsthaft befürchtet hatte, dass der Internationale Gerichtshof in Deutschlands Unterstützung für Israel eine Beihilfe zum Völkermord sehen würde, war die fast einmütige Entscheidung der Haager Richter doch ein wichtiges Signal. Und das nicht nur für das internationale Recht, weil sich das Gericht dem Versuch entgegenstellt, den schwersten Vorwurf des Völkerrechts zu verwässern. Für Berlin geht es um deutlich mehr: Deutschland muss seit dem 7. Oktober um sein Ansehen als ehrlicher Makler im Nahen Osten fürchten. Vor allem in den arabischen Staaten wird der Bundesregierung ihre klare Positionierung an der Seite Israels übel genommen – und das umso mehr, je höher die Zahl der zivilen Opfer in Gaza steigt." Das war die F.A.Z.
Die KIELER NACHRICHTEN kommentieren: "Vorerst gescheitert ist damit der Versuch, den ohnehin hoch emotionalisierten Konflikt über eine Weisung des IGH an einen der wichtigsten Unterstützer Israels anzuheizen und symbolisch zu überlagern. Dass ausgerechnet das diktatorisch regierte Nicaragua sich auf diesen Weg gemacht hat, ist eine bittere Fußnote. Für Deutschland bleibt die Verpflichtung, Waffenlieferungen nicht nur, aber eben auch an Israel besonders sorgfältig zu prüfen. Es ist die logische Konsequenz aus der militärischen Strategie Israels in Gaza, die die Regierung Netanjahu zwar nicht dem Völkermord, aber dem Vorwurf von Kriegsverbrechen gefährlich nahe bringt. Umgekehrt sei darauf hingewiesen, dass die Hamas Israel gerne von der Landkarte tilgen würde – da liegt der Völkermord-Vorwurf deutlich näher. Ein Prozess würde sich lohnen. Am wichtigsten aber wäre es, den Krieg zu beenden, die Region zu stabilisieren und damit Anlässe für Klagen wie die Nicaraguas zu beseitigen", mahnen die KIELER NACHRICHTEN.
Die Zeitung ND.DER TAG schätzt die Entscheidung des IGH anders ein: "Der Gerichtshof hat eine Chance vertan, ein klares Signal zu senden an Staaten, die durch die Lieferung von Waffen und Armeeausrüstung Kriege befeuern. Das IGH-Urteil mag formaljuristisch korrekt sein, ist aber politisch falsch, denn es ermuntert Regierungen weiter dazu, kriegsführende Staaten zu unterstützen – und sei es mit Helmen und Schutzwesten, wie sie Deutschland an Israel geliefert hat. Ein Urteil darüber, ob Deutschland die israelische Regierung bei Kriegshandlungen unterstützt, die als Genozid angesehen werden könnten, muss fallen. Die Richter wiesen nur einen Eilantrag auf Sofortmaßnahmen gegen Deutschland ab", erläutert ND.DER TAG.