
Das HAMBURGER ABENDBLATT kritisiert: "Angesichts der schwierigen Lage im Land war dieses Wahlverhalten unverzeihlich. Natürlich ist das Mandat frei und die Wahl geheim: Doch bei der SPD hatten die Genossen gerade erst mit fast 85 Prozent den Koalitionsvertrag gebilligt; auch bei der Union hatte niemand im Vorfeld mutig sein Nein begründet. Der Schaden, den die Abgeordneten angerichtet haben, ist erheblich. Die Autorität des Kanzlers im In- wie im Ausland ist beschädigt, seine Führungsstärke hat gelitten, das Vertrauen zwischen den Partnern ist dahin. Die Aufbruchstimmung, die neue Köpfe und kluge Kompromisse hätten erzeugen können, droht zu verfliegen. Das war kein guter Tag für die Demokratie", findet das HAMBURGER ABENDBLATT.
Die WIRTSCHAFTSWOCHE wirft ein: "'Reißt euch zusammen, Leute!', möchte man den Abgeordneten der Koalitionsfraktionen zurufen, es geht um mehr! Spätestens die feixende AfD-Fraktion und die von Rechts- wie Linksaußen ertönenden Rufe nach Neuwahlen zeigen, wie instabil die Machtbalance der Mitte ist", urteilt die WIRTSCHAFTSWOCHE.
Für die NÜRNBERGER ZEITUNG ist... "...die Aufbruchstimmung erst einmal dahin, auf die sowohl Friedrich Merz als auch Lars Klingbeil gesetzt haben, um eventuell zweifelnde Abgeordnete hinter sich zu versammeln beziehungsweise bei der Stange zu halten. Und vor allem, um in der Bevölkerung, in Wirtschaft und Industrie wieder Zuversicht für eine Zukunft in Wohlstand und Freiheit zu schaffen", schreibt die NÜRNBERGER ZEITUNG.
Der MÜNCHNER MERKUR befürchtet: "Das historisch beispiellose Scheitern von Friedrich Merz im ersten Kanzler-Wahlgang ist ein Menetekel, das über den Tag hinausweist: Zerfall und Verwahrlosung in der politischen Mitte sind weit vorangeschritten, wenn Abgeordnete lieber zündeln, als angesichts der Bedrohungen durch innere und äußere Feinde ihrer Verantwortung für unser Land und seiner Demokratie gerecht zu werden", analysiert der MÜNCNHER MERKUR.
Die Zeitung ND DER TAG sieht es so: "Warum auch immer: Die eigenen Leute haben dem neuen Kanzler gleich zum Start die Grenzen gezeigt. So wie Merz im Januar seine Macht testete, als er mit den Stimmen der AfD das Asylrecht verschärfen wollte. Klar ist, wer von Merz’ Straucheln profitiert: die AfD. Die extrem rechte Partei jubilierte, als Merz im ersten Wahlgang durchgefallen war. Ihre Führungsfiguren forderten sofort Neuwahlen und machten Kooperationsangebote in Richtung Union. Die Strategie dahinter ist durchsichtig: Die AfD will die Union spalten und dafür sorgen, dass bei Regierungsbildungen kein Weg an ihr vorbeiführt", vermutet ND DER TAG.
Der TAGESSPIEGEL aus Berlin notiert: "Viel wird auf diesen Kanzler und seine Regierung zukommen. Vertrauen, Stabilität und Erfolge wird Bundeskanzler Friedrich Merz sich hart erarbeiten müssen. Viel Einarbeitungszeit wird er nicht bekommen. Aber wenn dieser gescheiterte erste Anlauf zur Kanzlerwahl irgendetwas Gutes haben sollte, dann vielleicht die Tatsache, dass es auch die letzten Sinne für den Ernst der Lage geschärft haben sollte. Bei allen Beteiligten", hofft der TAGESSPIEGEL.
Die FRANKFURTER NEUE PRESSE bemängelt: "Die sich auch gesellschaftlich leider ausbreitende Unfähigkeit zu Kompromiss und Einsicht hat schon die Ampel-Koalition scheitern lassen, ebenso ihr Machttaktieren.Bedauerlicherweise ist durch den ersten Wahlgang nun der Eindruck entstanden, dass in der neuen schwarz-roten Regierung ähnliche Defizite herrschen – und das schon zu Beginn und sogar innerhalb einer Partei. In der Ampel war zumindest anfangs Einigkeit", hält die FRANKFURTER NEUE PRESSE fest.
In der AUGSBURGER ALLGEMEINEN heißt es: "Wenn dieser Tag überhaupt etwas Gutes haben kann, dann ist es das: Merz muss erkennen, dass er so nicht weitermachen kann. Was in den vergangenen Wochen immer wieder verstörend auffiel, ist die absolute Selbstgewissheit, man könnte fast sagen Hybris, mit der Merz markige Entscheidungen verkündet – nur, um sie dann umgehend wieder einzurollen oder einzugestehen, dass sein Vorgehen nicht richtig zu Ende gedacht war", so das Fazit der AUGSBURGER ALLGEMEINEN.
Die RHEIN-NECKAR-ZEITUNG aus Heidelberg zieht folgenden Vergleich: "Adolf Hitler hat sich die Macht am 30. Januar 1933 nicht genommen. Sie wurde ihm überreicht. Es waren die Demokraten selbst, die die Demokratie in die Hände der Nazis legten. Und das bleibt unverzeihlich. Genau dieses Szenario stand am gestrigen Dienstag erneut bedrohlich über dem Himmel der Berliner Regierungszentrale: Eine Hand voll Abgeordneter aus Reihen von Union und SPD riskierten den Zustand der Unregierbarkeit, indem sie Merz ihre Stimme verweigerten", meint die RHEIN-NECKAR-ZEITUNG.
Die TAZ urteilt: "So oder so: Dieser Dienstag war keine Sternstunde für Merz, vielmehr ein schmerzhafter Bauchklatscher – für den Merz selbst Anlauf genommen hatte. In seiner dirigistischen Art stellte er immer wieder vollmundige Ankündigungen in den Raum, die er anschließend kleinlaut wieder zurücknehmen musste. Dabei produzierte er reihenweise Enttäuschungen bei jenen Mitgliedern und Wählern der Union, die dem einstigen Aufsichtsrat glaubten, man müsse einfache Lösungen nur straff genug durchpauken, um erfolgreich zu sein. Seine verkorkste Wahl zum Kanzler hat gezeigt: Mehrheiten lassen sich nicht verordnen. Wer ständig polarisiert, darf nicht erwarten, dass ihn alle tragen, wenn er es braucht", befindet die TAZ.
Die DITHMARSCHER LANDESZEITUNG aus Heide sieht Merz und seine Koalition beschädigt: "Merz kann regieren, aber er startet mit einem blauen Auge und dem Makel, dass nur das Paktieren mit der Linkspartei den zweiten Anlauf noch am gleichen Tag ermöglichen konnte. Für große Reformprojekte und andere Abstimmungen, denen innerparteiliche Diskussionen vorausgehen, verheißt das nichts Gutes – und auch insgesamt für die Stabilität einer Koalition nicht, die längst keine große mehr ist", so die Erwartung der DITHMARSCHER LANDESZEITUNG.
Das Portal T-ONLINE kommentiert: "Sieh dich vor! Das ist die Botschaft der anonymen Heckenschützen an Merz. Der neue Kanzler wird nicht nur in einer krisengeschüttelten Welt durch Minenfelder manövrieren müssen, sondern auch zu Hause bei der politischen Mehrheit, die ihn trägt. Das ist eine schwere Hypothek. Sollte er es vorgehabt haben – durchregieren kann Merz nun nicht mehr", gibt T-ONLINE zu bedenken.
Der SPIEGEL analysiert mit Blick auf Friedrich Merz: "Der neue Kanzler muss für seine Positionen werben, er muss Gegner einbinden, nicht nur in der Union, auch in der SPD. Er darf keine Gefolgschaft einfordern, sondern muss Entgegenkommen zeigen. Dass sein Vizekanzler Lars Klingbeil mit ähnlichen Problemen kämpft, macht die Sache nicht leichter. Ob Merz, der in diesem Jahr 70 Jahre alt wird, noch in der Lage ist, sich zu ändern? Es wäre erstaunlich, weil er sich die vergangenen 30 Jahre beharrlich geweigert hat, das zu tun. Aber es ist nicht unmöglich. Vielleicht ist der Schock des verlorenen ersten Wahlgangs groß genug. Dann hätte das rücksichtslose Verhalten der Abweichler noch einen Nutzen", so die Meinung des SPIEGEL.
Die NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG stellt fest: "Es gibt Leute, die Merz regelrecht hassen, weil er für Werte steht, die sie ablehnen. Oder weil er ihnen in vielen Jahren des politischen Wirkens wehgetan hat, womöglich zuletzt mit der Besetzung von Posten in der Regierung. Trotzdem ist Merz Durchhaltevermögen zu wünschen – und dem Land ebenfalls. Mit Appeasement und dem Befrieden von Klientelinteressen, mit Rücksichtnahme auf eine überbordende politische Korrektheit und der permanenten Angst vor Kritik wird die Regierung nichts gewinnen können. Der gescheiterte erste Wahlgang illustriert, dass an der deutschen Krise nicht Russland Schuld trägt, nicht ein anderes Land oder Donald Trump und Corona schon gar nicht. Die Deutschen stehen sich selbst im Weg, die Parlamentarier mit ihrem Gebaren allen voran. Zeit, das zu ändern", fordert die NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG, mit der diese Presseschau endet.