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Die Psychoanalyse des Nahost-Konflikts

Wahlen in Palästina - ein heikler Vorgang, der ganz abgesehen von der aktuellen Lage mit unendlich vielen psychologischen Protuberanzen verbunden ist. Es geht im Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern stets auch um Erinnerungen, Zukunftsentwürfe, Zugeständnisse, Belastbarkeiten – also lauter Dinge aus der weichen, seelischen Materie. Shmuel Erlich hat sich als langjähriger Vorsitzender der Psychoanalytischen Vereinigung und Inhaber des Sigmund-Freud-Lehrstuhls der Hebräischen Universität Jerusalem intensiv mit Fragen der politischen Psychologie beschäftigt.

Von Christian Gampert | 08.01.2005
    Shmuel Erlich ist als Kind mit seinen Eltern vor den Nazis geflüchtet; Frankfurt war seine Heimatstadt. In Israel war er jahrelang Vorsitzender der Psychoanalytischen Vereinigung; er sitzt auf dem renommierten Sigmund-Freud-Lehrstuhl der Hebräischen Universität Jerusalem und beschäftigt sich seit Jahren auch mit Fragen der politischen Psychologie.

    Erlich sieht in Israel derzeit einen vorsichtigen Optimismus, aber auch Angst: man weiß eben nicht, was man von einer neuen Palästinenserführung erwarten kann. Viel wird davon abhängen, wie diese neue Führung mit den Kränkungen der Vergangenheit umgeht, sagt Erlich:

    Ich sehe das als eine Identitätsfrage. Bis heute ist die palästinensische Identität sehr schwach. Das ist eine historisch späte Entwicklung, die es öfter gibt; sie resultiert aus narzisstischen Verletzungen. Eine volle, positive Identität ist da noch nicht erreicht. Es ist eher so: der gemeinsame Feind erlaubt uns, zusammenzukommen.

    Für eine neue Führung werde es sehr schwer, sagt Erlich, die von Arafat verkörperte Anti-Identität zu verändern. Und einen Kompromiß mit Israel werde es nur geben, wenn die palästinensische Gesellschaft reif dafür sei.

    Ein Kompromiss setzt die Fähigkeit voraus, die Realität richtig einzuschätzen. Das ist auch eine psychologische Entwicklungsfrage. Wenn in einer Gesellschaft eine Schwarz-Weiß-Spaltung existiert, dann ist ein Kompromiß nicht möglich.

    Und die Realitäts-Einschätzung sei ein enormes Problem der Palästinenser. Allerdings gebe es auch auf der israelischen Seite diese Spaltung, sich selbst als gut und den Feind als unwürdig zu betrachten. Es komme aber darauf an, sagt Erlich, mit dem Feind etwas Gemeinsames zu entdecken, eine gemeinsame dritte Möglichkeit.

    Es gibt dieses berühmte Wort von Menachim Begin, der Arafat als zweifüßiges Tier bezeichnet hat. Dieses Denken führt zu keinem Kompromiss. Mit Sadat dagegen konnte er einen Kompromiss schließen, weil er ihn als eine Art Ehren-Feind betrachtet hat.

    Es hat also auch in der israelischen Gesellschaft Entwicklungen gegeben, die dann zu den Verträgen von Oslo führten. Dahin gelte es zurückzukehren. Und seltsamerweise sei es in Israel vor allem die Rechte, die den Rückzug aus Gaza und einen Ausgleich mit den Palästinensern durchsetzen könne - weniger die Arbeiterpartei von Peres und Barak.

    Rechte Parteien können leichter Frieden machen – das berühmteste Beispiel ist Nixon und China. Wenn zum Beispiel Ehud Barak den Rückzug aus Gaza beschlossen hätte, wäre Scharon der Erste, der protestieren und sich vor die Panzer legen würde.

    Zu Scharon habe man in Israel mehr Vertrauen: Wenn er, der Ex-General, der um Sicherheit bemühte Konservative, sich aus Gaza zurückziehe, dann müsse etwas dran sein. Die Linke sei sowieso dafür. Und wahrscheinlich habe Scharon auch den historisch richtigen Zeitpunkt erkannt. Weniger Vertrauen habe man in Israel in die Politik der Europäer. Israel fühle sich von den europäischen Staaten ständig auf die Anklagebank gesetzt.

    Die Europäer sind ganz gegen uns. Es gibt dieses Gefühl: Der Antisemitismus ist in Europa wieder ganz stark geworden, und dieser neue Antisemitismus richtet sich gegen Israel. Israel wird nur als Unterdrücker wahrgenommen.

    Das liege, so sagt Erlich, an dem kurzen historischen Gedächtnis vor allem der europäischen Jugend.