Archiv


Die quirlige Stadt

Zehntausende von Einwanderern fanden um 1900 im kanadischen Montreal eine neue Heimat: Franzosen, Iren, Italiener, Russen. Noch heute ist der Stadt die bunte Mischung der Kulturen anzusehen.

Von Florens Herbst |
    Boulevard Saint Laurent, Ecke Rue Rachel: Ein Lieferant entlädt seinen Wagen, Fußgänger hetzen vorbei. Unter ihren Fellkragenkapuzen schauen gerötete Nasen hervor. Ein kalter Wind weht vom Mont Royal herunter, dem rund 200 Meter hohen Berg, dem die Stadt ihren Namen verdankt. Unter den Füßen knirscht das Streusalz, am Bordstein türmt sich der Schnee kniehoch. Eine ganz normale Kreuzung, aber keine ganz normale Straße. 1996 hat die kanadische Regierung den Boulevard Saint Laurent, den die englischsprachigen Bewohner The Main nennen, zu einer nationalen historischen Stätte erklärt.

    "Diese Straße ist eine Legende. Sie halbiert Montréal und war schon immer das Einfallstor für Generationen von Einwanderern, die hier ohne einen Pfennig in der Tasche ankamen. Sie haben sich genau hier ihr neues Leben aufgebaut und sind dann schließlich fortgezogen, nachdem sie etwas erreicht hatten. Aber hier auf der Main hat alles angefangen."

    Joe King steht am Hafenbecken und betrachtet die Eisstücke, die den Sankt Lorenz Strom hinabtreiben. Vor dem bitterkalten Wind schützt sich der 86-jährige Buchautor mit einer Pelzmütze. Auf seinem grünen Mantel schmelzen Schneeflocken. Joe King hat drei Bücher über die jüdische Geschichte der Stadt geschrieben. Hier im Hafen beginnt sie: Hier sind um 1900 Zehntausende von Einwanderern von den Booten gestiegen; wenige Franzosen, ein paar Iren, viele Italienern, vor allem aber jüdische Flüchtlinge aus Russland, Galizien, Ungarn, oder Rumänien.

    "Das waren ganz arme Schlucker, deren Habseligkeiten wahrscheinlich in einen Mehlsack oder eine Papiertüte hineinpassten. Die wurden hier von ihren Verwandten oder Freunden auf Jiddisch begrüßt und dann zum Übernachten eingeladen. In den Mietshäusern gab es ja keine Gästezimmer damals, also haben die auf dem Boden geschlafen und am nächsten Morgen hat ihnen der Cousin dann gleich Arbeit verschafft und die gesamte Familie ging arbeiten."

    Viele der osteuropäischen Flüchtlinge fanden in den Textilbetrieben entlang des Boulevards Arbeit. Noch heute stehen einige Gebäude, in denen damals der Grundstein für die Bedeutung Montréals als Stadt der Bekleidungsindustrie gelegt wurde. Heute werden dort keine Hemden mehr geschneidert. Multimediaagenturen und Designer residieren in den zu schicken Lofts umgewandelten ehemaligen Fabriken. Aber um dort hinzukommen, muss man den Boulevard ein ganzes Stück hochlaufen. Kaum hat man die historische Altstadt verlassen, ist es erstmal vorbei mit dem Charme von Montréal:

    Hinter Altstadt verläuft eine mehrspurige Autobahn unter dem Boulevard hindurch. Ein Vermächtnis der Städteplanung der 70er-Jahre, der zahlreiche historische Gebäude zum Opfer gefallen sind. Bei all dem Lärm kann man sich kaum vorstellen, dass noch im 18. Jahrhundert genau hier ein Trampelpfad verlief, der den 1642 gegründeten französischen Handelsposten mit seinem Hinterland verband. 1760 eroberten die Engländer Frankreichs Kolonie - la Nouvelle-France. 1792 erweiterten sie das befestigte Montréal und bestimmten den Pfad als Grenze zwischen dem Ost- und dem Westteil der wachsenden Siedlung - und damit auch zur Grenze zwischen der französisch- und der englischsprachigen Bevölkerung. Franzosen im Osten, Engländer im Westen. Diese Trennung hat sich bis heute erhalten. 1905 wurde der ehemalige Trampelpfad zum Boulevard erklärt.

    Hinter der Stadtautobahn beginnt Chinatown, das sich über zwei Blöcke erstreckt. Nördlich davon gelang man zu der trostlosen Kreuzung von Saint Laurent und Saint Caterine. Ein heruntergekommener Nachtklub namens Cleopatra ist das Einzige, was halbwegs an die turbulente Vergangenheit dieses Viertels erinnert. In den 20er- und 30er-Jahren gab es hier Dutzende von Jazz- und NachtKlubs, was vor allem an der Prohibition in den USA lag. Da viele amerikanische Künstler ihr Publikum verloren hatten, zogen sie ins liberalere Kanada. Mit dem Nachtleben kam die Mafia, erzählt Joe King, und die hatte beste Beziehungen zur Polizei.

    "Hier gab es damals jede Menge Bordelle und der Schnaps floss in Strömen. Ein Justizangestellter der Stadt, ein Mann namens Pacifique Plante, hat damals aufgedeckt, wie die Polizei bestochen wurde, um die Bordelle und die Spielhöllen zu erhalten. Und zum Dank für seinen Bericht wurde er kurzerhand gefeuert."

    Ein ganzes Stück weiter den Boulevard hoch presst Randy Creese Hunderte von Kartoffeln einzeln durch eine altertümliche Zerteilmaschine an der Wand. Die Stücke landen in einem hüfthohen Eimer und später als Pommes frites im Magen der Kunden. Randy ist einer von 40 Angestellten im Schwartz's, ein Restaurant auf der Ostseite der Main, wie es sie hier in den 20er-Jahren zu Dutzenden gab. 1928 hat der jüdisch-rumänische Immigrant Reuben Schwartz das Lokal als Schwartz's Hebrew Delikatessen gegründet. Heute gehört es zu Montréal wie das Cafe Sacher zu Wien. Während Randy die Kartoffeln vorfrittiert, erklärt Frank Silva, wie Smoked Meat entsteht, die Spezialität des Hauses.

    "Das ist unsere Räucherkammer. Die ist noch original. Früher haben wir sie mit Holz beheizt. Das Fleisch wird zehn Tage lang mariniert, hängt dann für acht Stunden hier drinnen. Und so sieht dann das fertige Produkt aus. Das Fleisch kann man jetzt schon essen, es ist aber ziemlich trocken, also stecken wir es in den Dampfgarer, damit es wieder Feuchtigkeit aufnimmt. Und dann wird es von Hand in Scheiben geschnitten."

    Und das ist Johnnys Job. Eigentlich heißt er Joao Goncalves, ist Sohn portugiesischer Einwanderer und seit seinem 14. Lebensjahr bei Schwartz's beschäftigt. Das ist 36 Jahre her. Johnny, bekleidet mit weißer Schürze und weißer Mütze, hat seit Jahren einen Tennisarm, weil er jeden Tag Hunderte von Rinderbruststücken mit einer großen Gabel hin und her wuchtet und dann Tausende von Scheiben Smoked Meat abschneidet.

    "Hier am Rand ist das Stück noch mager, in der Mitte ist etwas fetter und am Ende ist es richtig saftig. Je fetter das Fleisch, desto besser schmeckt es. Der Doktor empfiehlt ja mageres Fleisch, aber wenn er selbst kommt, dann ißt er nur die fette Stücke. Nach dem Motto: Mach, was ich sage, aber wehe du machst, was ich tu."
    Das Schwartz's ist ein schlichtes Restaurant: An den Wänden hängen Zeitungsausschnitte, die Tische sind aus Aluminium, im Fenster liegen Dutzende von geräucherten Rinderbrüsten. Seit dem Gründungsjahr hat sich wenig geändert. Der eine oder andere Gast komme seit 1928, erzählt Johnny. Greise, die schon als Kleinkinder hier gegessen hätten. Oft ist der Andrang so groß, dass die Gäste auch bei 15 Grad Minus vor der Tür eine halbe Stunde Schlange stehen, nur um genau dieses Smoked Meat zu essen.

    "Es ist salzig, schmeckt frisch, ist gepfeffert und zusammen mit dem Senf eine super Mischung."

    Eine Menge interessanter Leute trifft man hier, erzählt Frank Silva, der auch schon 28 Jahre dabei ist. Sein Vater hat hier gearbeitet, sein Sohn tut es auch. Heute ist Frank der Manager. Als er noch Kellner war, hat er mal Jean Chrétien am Tisch gehabt, den damaligen Premierminister Kanadas.

    "Danach wollten alle wissen, wie viel Trinkgeld hat er dir denn gegeben? War mir ziemlich peinlich. Ich habe niemanden gesagt, dass er gar nichts gegeben hatte. Eine Stunde später klingelt das Telefon, Jean Chrétien ist dran und entschuldigt sich bei mir, dass sein Leibwächter das Trinkgeld vergessen habe. Da war er schon auf halben Weg nach Ottawa. Den Bodyguard hat er dann mit dem Trinkgeld extra nach Montréal zurückgeschickt."

    Wir verlassen das Schwartz's und wechseln die Straßenseite. Dort steht ein Gebäude, dessen rund 100 Jahre alte Backsteinfassade durch mehrere Umbauten komplett entstellt ist. Laute Schreie dringen dreimal pro Woche von hier auf die Straße. Ein paar Stufen muss man hochgehen, dann weiß man wieso: Auf über 20 Bildschirmen werden hier die Eishockey-Spiele der Montréal Canadiens übertragen.

    Überraschenderweise füllt sich die Kneipe dann vor allem mit weiblichen Fans, viele von ihnen in den rotblauen T-Shirts mit dem Emblem der Mannschaft. Einige von ihnen feuern die Spieler begeistert an, wenn die sich auf dem Eis die Helme vom Kopf reißen und sich wie Schuljungen prügeln. Manche der Frauen fluchen laut und ausführlich, wenn Montréal ein Tor kassiert und die ein oder andere versteht überhaupt keinen Spaß, wenn es um ihr Team geht, erzählt Kellnerin Veronique.

    "Es gab hier schon mal richtig Zoff zwischen einer Frau und einem Mann wegen eines Hockeyspiels. Die Frau hat den Mann so sehr attackiert, dass wir sie zurückhalten mussten, der Mann war völlig baff. Ich würde sagen, der Großteil unserer Gäste - das sind Frauen."

    Nadine Guillemot kommt oft in die Kneipe, um Eishockey zu schauen. Spricht sie von ihrem Team, sagt sie Les Canadiens, so wie alle Frankokanadier. Im englischsprachigen Kanada wird der Klub aus Montréal Habs genannt, was auf das französische Wort Les Habitants zurückgeht, mit dem die ersten Siedler "Neu-Frankreichs" im 17. und 18. Jahrhundert bezeichnet wurden. Die Habs oder Canadiens sind für das nordamerikanische Eishockey das, was Bayern München für den deutschen Fußball ist: der Rekordmeister. 24 Stanley-Cup-Titel in 100 Jahren Geschichte, so viel wie kein anderes Team der Liga.

    Die guten Zeiten sind allerdings längst vorbei: Seit Jahren dümpeln die Canadiens im Mittelmaß der Liga herum. Aber wenn im April die Ausscheidungsspiele beginnen, fahren trotzdem Tausende Autos mit Wimpeln durch die Straßen und die Kneipen sind zum Bersten voll. Das liegt am Patriotismus, erzählt Nadine Guillemot, am Stolz darüber, aus Québec zu sein: eine eigene Nation, wie viele hier meinen. Und dann gibt sie lächelnd noch eine etwas schlichtere Vermutung darüber ab, warum so viele Frauen begeisterte Fans sind: Weibliche Fans können sich in Québec der vollen Aufmerksamkeit der Männer sicher sein.

    "Ich war beim letzten Stanley-Cup-Gewinn 1993 im Stadion. Ich hab mich umgedreht, um die Menge zu betrachten: Die Frauen waren unglaublich hysterisch, viel mehr als die Männer. Die haben sich während des Spiels einfach die Hemden vom Körper gerissen. Nicht nur eine: viele!"

    Wir gehen den Boulevard ein paar Blöcke weiter nach Norden und gelangen zu einem verschneiten Platz. Hier steht das Haus von Leonard Cohen, der in diesem Viertel aufgewachsen ist und der in seinem Lied Susanne auf verschiedene Montréaler Orte Bezug nimmt. Klein und unscheinbar ist sein Wohnhaus mit den zwei Stockwerken und der schlichten Steinfassade. Meistens ist der Sänger in Kalifornien, aber manchmal kommt er für eine Weile in seine Heimatstadt und lässt sich dann auch in den Cafés des Boulevards blicken; so wie früher, erzählt Joe King, als Leonard Cohen seine ersten Versuche als Dichter unternahm und oft in Ben's Delikatessenladen zu finden war.

    "Es gab dort eine Ecke der Poeten. Leonard hing immer in dem Laden rum und hoffte, die Dichter würden ihn zu sich rüber rufen. Eines Tages rief ihn dann tatsächlich einer rüber, sein Professor Louis Dudick, selbst ein guter Poet. Er befahl Leonard: Knie dich nieder. Dann rollte er eine Zeitung zusammen, schlug sie ihm auf die Schultern und sagte: Erhebe dich, Dichter. Und so wurde er in die Poetenecke aufgenommen."
    Leonard Cohen ist nicht der Einzige, der es von hier aus zu Weltruhm gebracht hat. In der Parallelstraße, der Saint Urbain, ist einer der bekanntesten kanadischen Schriftsteller aufgewachsen: Mordechai Richler. Seine Romane sind auch auf Deutsch erschienen, seine Kinderbücher über die Abenteuer von "Jacob Zwei Zwei" wurden verfilmt. Die Straßen seiner Kindheit und die Welt der jüdischen Einwanderer hat der 2001 verstorbene Autor in vielen seiner Bücher beschrieben, unter anderem in dem 1955 erschienenen Roman "Sohn eines kleineren Helden":

    All day long, St. Lawrence Boulevard, or Main Street, is a frenzy of poor Jews, who gather there to buy groceries, furniture, clothing and meat. Most walls are plastered with fraying election bills, in Yiddish, French and English. The street reeks of garlic and quarrels and bill collectors: orange crates, stuffed full with garbage and decaying fruit, are piled slipshod in most alleys. Swift children gobble pilfered plums; slower cats prowl the fish market.

    Läuft man den Boulevard Saint Laurent entlang, findet man zwischen indischen Restaurants, Latino-Supermärkten, französischsprachigen Buchläden und Dutzenden Restaurants immer wieder bunte Infotafeln an den Wänden der Gebäude. Versehen mit historischen Fotos, Zitaten und Informationen erzählen sie die Geschichte des Boulevards. Ein Projekt des Künstlers Pierre Allard. Frags on the Main hat er es genannt.

    "Die Gebäude hier in Montréal wurden jahrelang vernachlässigt, teilweise sind sie zusammengefallen, keinen hat das interessiert. Mit unserem Projekt Frags wollten wir erreichen, dass sich die Leute wieder um die Gebäude kümmern. Da wir während unserer Recherchen jede Menge alter Fotos gefunden hatten, dachten wir uns: Am besten geben wir geben den Leuten die Geschichte dieses Viertels zurück, indem wir sie direkt auf die Straße bringen."

    Eine der Tafeln von Pierre Alard erzählt die Geschichte der portugiesischen Einwanderer, die sich hier entlang des Boulevards niedergelassen haben.

    Das Herz des portugiesischen Viertels befindet sich zwischen den Querstraßen Duluth und Fairmount. Hier, wo zwischen den Weltkriegen fast nur Jiddisch gesprochen wurde, dringt von fast jeder Ecke der Geruch von brutzelnden Hähnchen aus den portugiesischen Kneipen. Alte Männer stehen - oft auch bei 20 Grad Minus - vor der Tür und rauchen. An der Rue Rachel liegt das Gemeindezentrum Santa Cruz, das Reisebüro Lisboa und die Redaktion des Wochenblattes "Voz de Portugal" sind um die Ecke. Die meisten Portugiesen sind Mitte der 50er-Jahre gekommen, die Mehrheit von ihnen von den Azoren - so wie die Familie Sa, die auf Höhe der Rue de Villeneuve einen Supermarkt betreibt.

    "An den Wänden hängen Trikots der portugiesischen Nationalmannschaft. Babystrampelanzüge mit dem Logo des FC Porto kann man hier kaufen und natürlich gibt es azorische Spezialitäten. Im Fernseher über der Fleischtheke plärrt eine Moderatorin des portugiesischen Fernsehens, untendrunter steht Mario Susa und schneidet Fleisch für seine Kundin Maria Oliveira zurecht."

    Die 65-Jährige kommt oft hier her. Heute kauft sie für ihre Eltern die Zutaten für Polvo Guisado - Tintenfischeintopf. Die Eltern, erzählt sie, essen auch noch nach 60 Jahren in Kanada am liebsten das, was man auf den Azoren isst. Die Familie hat die Insel Faial nach dem Vulkanausbruch von 1957 verlassen, so wie viele andere auch.

    "In den 50er-Jahren hat Kanada Landwirte gebraucht. Also sind viele portugiesische Bauern hier hergekommen, haben dann allerdings nur ein oder zwei Jahre auf dem Land ausgehalten, weil der Winter hier in Kanada so streng ist und das Leben hart war. Also zogen sie weiter nach Montréal - und hier sind sie noch immer."

    Temperaturen von bis zu 40 Grad Minus, fünf Monate Eis und Schnee: Maria Oliveira erinnert sich noch gut an ihre ersten kanadischen Winter.

    "Meine Güte, das war furchtbar. In den 50ern und 60ern hat es noch viel mehr geschneit als heute, das waren ja geradezu Mauern aus Schnee und Eis damals. Die Autos fuhren mit Schneeketten durch die Stadt. Heute sind die Straßen frei, die Temperaturen haben sich verändert und Kanada, finde ich, ist fast schon richtig warm geworden."

    In der Rue Saint Urbain - einer Parallelstraße des Boulevard Saint Laurent - steht gegenüber der Kirche Santa Cruz ein wuchtiges Backsteingebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert: früher eine Synagoge, seit mehr als 30 Jahren der Sitz des portugiesischen Verbandes Kanada. Hier trifft sich sonntagvormittags das azorische Blasorchester. 40 Musiker spielen mit, der Jüngste ist acht Jahre alt. Gilberto Pavâo hat das Orchester vor 1978 gegründet und leitet es seitdem.

    "Wir sehen unsere Aufgabe darin, der portugiesischen Gemeinde zu dienen. Wir treten bei religiösen Feiern und bei Festen auf dem Land auf. Zweimal haben wir auch schon in Sâo Miguel auf den Azoren gespielt und in den USA waren wir unzählige Male. Es gibt außer uns noch ein paar andere Orchester, aber wir machen das alle auf traditionelle portugiesische Art."

    Irwin Shlafman fischt mit einem Sieb im Honigwasser. Vor ihm tanzen drei Dutzend Bagels im holzbefeuerten Kochtopf. Wir haben das Blasorchester verlassen und sind den Boulevard ein paar Blocks zur Rue Fairmount hochgelaufen. Hier, neben Mordechai Richlers ehemaligen Stammrestaurant Willinsky - das heute noch wie in vor 50 Jahren aussieht - befindet sich die Fairmount Bagel Bäckerei, die Irwin Shlafman in dritter Generation leitet. Zwei seiner Mitarbeiter schleppen einen Teighaufen in der Größe einer trächtigen Sau durch den Laden, wuchten ihn auf einen Tisch und stampfen dann mit den Ellbogen die Luft raus. Einer der beiden schneidet handflächenbreite Scheiben ab, rollt die Teigstücke zu Kringeln und wirft sie dann ins kochende Honigwasser. Fünf Minuten bleiben sie darin, erklärt Irwin Shlafman.

    "Nach dem Bad kommen sie hier auf den Tisch, werden mit Sesam oder Mohn bestreut und dann legen wir sie auf ein langes Holzbrett. Das schieben wir in den Ofen, genau neben das Feuer. Ist die Oberfläche der Bagel trocken, werden sie gewendet und bleiben noch mal 16 Minuten auf dem Ofenblech. Danach sind sie fertig und kommen wieder raus."

    In Tüten verpackt gehen sie über die Theke. 12.000 handgerollte Bagels entstehen hier jeden Tag nach einem Rezept, das sich in 100 Jahren nicht verändert hat. Irwin Schlafmanns Großvater hat es Anfang des 20. Jahrhunderts mitgebracht, nachdem er vor Pogromen aus Russland nach Montréal geflohen war. Während Irwin ohne hinzuschauen einen Teigring nach dem anderen in atemberaubender Geschwindigkeit formt, erzählt er die Geschichte des Bagels.

    "Soweit wir wissen, entstand der erste Bagel um 1600 in Polen. Es war das Geschenk eines Bäckers an König Stanislaus. Damals war der Bagel aus drei Zöpfen zusammengeflochten und hatte die Form eines Steigeisens. Der nachfolgende Bäcker machte daraus einen Kreis als Symbol des Lebens. Ich glaube, etwa 100 Jahre später wurde der Ring nur noch aus einem Stück gemacht und so entstand der Bagel, wie man ihn heute kennt."

    Unser Spaziergang führt weiter durch Little Italy, am Markt Gemüsemarkt Jean Talon vorbei und endet da, wo er angefangen hat: am Wasser. Elf Kilometer nordwestlich des historischen Stadtkerns mündet der Boulevard Saint Laurent am Ufer des Rivière des Prairies. Eine quirlige, mitunter hässliche, immer aber faszinierende Ader der Stadt Montréal; verewigt von zahlreichen Schriftstellern, Poeten, Filmemachern und Musikern.