Michael Köhler: Wolfgang Kraushaar ist Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie haben im Zusammenhang mit der RAF von einem identitätspolitischen Projekt gesprochen. Was verstehen sie darunter?
Wolfgang Kraushaar: Ja, ich glaube, dass es ein großes Missverständnis ist anzunehmen, dass es sich bei der RAF um ein in erster Linie politisches Projekt gehandelt hat wegen des Vietnamkriegs damals und vielen anderen Dingen mehr, die da immer als Begründung angeführt werden. Ich denke, es geht in Wirklichkeit um etwas anderes. Natürlich haben die politischen Bezüge eine Rolle gespielt, aber es geht vor allen Dingen oder es ging vor allen Dingen um einen subjektiven Selbstentwurf, nämlich sich in einer neuen Gesellschaft, politischen Identität zu formulieren, und das meinte durchaus als ein revolutionäres Subjekt, denn die RAF hat sich ja als bewaffnete Avantgarde verstanden. Und das Problem besteht darin, dass man nach 30 Jahren Abstand das alles nicht mehr so richtig meint erkennen zu können, aber möglicherweise dass unter den Haftbedingungen von Frau Mohnhaupt oder von Herrn Klar das in gewisser Weise eingebunkert gewesen ist, diese Mentalität, dieses identitätspolitische Projekt.
Köhler: Aber das ist doch eigentlich nur eine Frage, die sozusagen die linksradikale Binnenkultur betrifft, wie die sich jetzt verstehen und was das ist.
Kraushaar: Nein, das glaube ich keineswegs, denn ich glaube, man muss einfach in Rechnung stellen, wenn jemand ein Vierteljahrhundert inhaftiert gewesen ist und bislang keinerlei Signal an die Öffentlichkeit ausgegeben hat, dass man irgendetwas bereuen würde, dass es eine Form von Schuldeinsicht gibt und so weiter und so fort, dann ist das sehr verwunderlich, und man muss sich seine Gedanken darüber machen, denn letztendlich geht es ja nicht sozusagen um individuelle Formen von Kriminalität, sondern das ist eingebunden gewesen zum Teil auch in einem Generationenkonflikt, und das hat für die Geschichte der alten Bundesrepublik Deutschland eine ganz zentrale Rolle gespielt.
Köhler: Herr Kraushaar, ist es ein Akt höherer Dialektik oder höherer Verrücktheit, dass man das Konstrukt RAF weiterhin braucht, um es abzuwerfen, abzulegen?
Kraushaar: Ja, ich glaube, man muss nicht unbedingt das Konstrukt benötigen, aber man braucht eine Deutung dieses Konstrukts, wie es dazu gekommen ist, denn schließlich haben wir es zu tun mit den letzten Überresten dessen, was die größte Herausforderung der Geschichte der alten Bundesrepublik bedeutet hat, und die Bundesrepublik war im Jahr 1977 - das ist auch heute eine Reaktion auf diese Entscheidung zu Frau Mohnhaupt noch mal erklärt worden - am Rande eines Ausnahmezustandes. Wir haben damals die schnelle Einführung eines Kontaktsperregesetzes erlebt, wir hatten eine Nachrichtensperre und viele andere Dinge mehr. Man muss versuchen das auch zu begreifen, um deutlich zu machen, wodurch die Bundesrepublik hindurchgegangen ist, um sich sozusagen zu stabilisieren, zu manifestieren, so wie sie heute da steht.
Köhler: Trotzdem werden Sie nicht überrascht sein, wenn ich - wie auch manch anderer - so ein bisschen Probleme damit habe zu sagen, das ist geschichtliche Wirklichkeit, keine Frage, es ist Konstrukt zugleich auch, aber gilt das nicht von allen vagen, lockeren Gruppierungen der politischen Geschichte, also auch von Gruppierungen, die nicht radikal oder terroristisch waren, das junge Deutschland oder Studenten beim Hambacher Fest oder Vegetarier oder Kannibalen oder Terroristen, Pazifisten? Ich will das nicht ins Lächerliche ziehen. Kann man das auf andere Gruppierungen anwenden?
Kraushaar: Möglicherweise. Es hängt ganz davon ab, welche Gruppierungen Sie meinen, um welchen Kontext es geht. Hier ging es ja darum, dass eine kleine Gruppe, stellvertretend für einen größeren Zusammenhang, für den Teil einer ehemaligen Bewegung, dem Staat den Krieg erklärt hat und damit sozusagen insistiert hat darauf, dass die Voraussetzungen dieser parlamentarischen Demokratie nicht nur in Frage gestellt, sondern möglicherweise abgeschafft und durch etwas anderes hätten ersetzt werden sollen. Das ist was ganz Elementares. Davon kann man nicht so einfach abstrahieren.
Köhler: Was denken Sie, wir können hier schon eine Geschichte der kulturellen Bearbeitung des deutschen Herbstes schreiben in Form von Kinofilmen, "Die bleierne Zeit", "Verlorene Ehre der Katharina Blum" und so weiter. Wird das jetzt mit den Begnadigungen zu einem Ende kommen oder wird es neuen Auftrieb bekommen, was denken Sie?
Kraushaar: Es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einem Ende kommen können, alleine schon deshalb nicht, weil von der ARD beginnend über Spiegel und Stern Serien für das Thema 30 Jahre deutscher Herbst in Vorbereitung sind. Das wird dann im September, Oktober dieses Jahres noch mal einen nicht unerheblichen Teil des Publikums halt beschäftigen. Aber auch danach wird es insofern keinen wirklichen Schlussstrich geben können, weil ja zum Teil bestimmte Mordfälle immer noch nicht aufgeklärt sind und zum anderen die gründliche zeithistorische Durcharbeitung und Bearbeitung immer noch aussteht, weil ja in der Regel die entscheidenden Dokumente erst nach 30 Jahren freigegeben werden.
Wolfgang Kraushaar: Ja, ich glaube, dass es ein großes Missverständnis ist anzunehmen, dass es sich bei der RAF um ein in erster Linie politisches Projekt gehandelt hat wegen des Vietnamkriegs damals und vielen anderen Dingen mehr, die da immer als Begründung angeführt werden. Ich denke, es geht in Wirklichkeit um etwas anderes. Natürlich haben die politischen Bezüge eine Rolle gespielt, aber es geht vor allen Dingen oder es ging vor allen Dingen um einen subjektiven Selbstentwurf, nämlich sich in einer neuen Gesellschaft, politischen Identität zu formulieren, und das meinte durchaus als ein revolutionäres Subjekt, denn die RAF hat sich ja als bewaffnete Avantgarde verstanden. Und das Problem besteht darin, dass man nach 30 Jahren Abstand das alles nicht mehr so richtig meint erkennen zu können, aber möglicherweise dass unter den Haftbedingungen von Frau Mohnhaupt oder von Herrn Klar das in gewisser Weise eingebunkert gewesen ist, diese Mentalität, dieses identitätspolitische Projekt.
Köhler: Aber das ist doch eigentlich nur eine Frage, die sozusagen die linksradikale Binnenkultur betrifft, wie die sich jetzt verstehen und was das ist.
Kraushaar: Nein, das glaube ich keineswegs, denn ich glaube, man muss einfach in Rechnung stellen, wenn jemand ein Vierteljahrhundert inhaftiert gewesen ist und bislang keinerlei Signal an die Öffentlichkeit ausgegeben hat, dass man irgendetwas bereuen würde, dass es eine Form von Schuldeinsicht gibt und so weiter und so fort, dann ist das sehr verwunderlich, und man muss sich seine Gedanken darüber machen, denn letztendlich geht es ja nicht sozusagen um individuelle Formen von Kriminalität, sondern das ist eingebunden gewesen zum Teil auch in einem Generationenkonflikt, und das hat für die Geschichte der alten Bundesrepublik Deutschland eine ganz zentrale Rolle gespielt.
Köhler: Herr Kraushaar, ist es ein Akt höherer Dialektik oder höherer Verrücktheit, dass man das Konstrukt RAF weiterhin braucht, um es abzuwerfen, abzulegen?
Kraushaar: Ja, ich glaube, man muss nicht unbedingt das Konstrukt benötigen, aber man braucht eine Deutung dieses Konstrukts, wie es dazu gekommen ist, denn schließlich haben wir es zu tun mit den letzten Überresten dessen, was die größte Herausforderung der Geschichte der alten Bundesrepublik bedeutet hat, und die Bundesrepublik war im Jahr 1977 - das ist auch heute eine Reaktion auf diese Entscheidung zu Frau Mohnhaupt noch mal erklärt worden - am Rande eines Ausnahmezustandes. Wir haben damals die schnelle Einführung eines Kontaktsperregesetzes erlebt, wir hatten eine Nachrichtensperre und viele andere Dinge mehr. Man muss versuchen das auch zu begreifen, um deutlich zu machen, wodurch die Bundesrepublik hindurchgegangen ist, um sich sozusagen zu stabilisieren, zu manifestieren, so wie sie heute da steht.
Köhler: Trotzdem werden Sie nicht überrascht sein, wenn ich - wie auch manch anderer - so ein bisschen Probleme damit habe zu sagen, das ist geschichtliche Wirklichkeit, keine Frage, es ist Konstrukt zugleich auch, aber gilt das nicht von allen vagen, lockeren Gruppierungen der politischen Geschichte, also auch von Gruppierungen, die nicht radikal oder terroristisch waren, das junge Deutschland oder Studenten beim Hambacher Fest oder Vegetarier oder Kannibalen oder Terroristen, Pazifisten? Ich will das nicht ins Lächerliche ziehen. Kann man das auf andere Gruppierungen anwenden?
Kraushaar: Möglicherweise. Es hängt ganz davon ab, welche Gruppierungen Sie meinen, um welchen Kontext es geht. Hier ging es ja darum, dass eine kleine Gruppe, stellvertretend für einen größeren Zusammenhang, für den Teil einer ehemaligen Bewegung, dem Staat den Krieg erklärt hat und damit sozusagen insistiert hat darauf, dass die Voraussetzungen dieser parlamentarischen Demokratie nicht nur in Frage gestellt, sondern möglicherweise abgeschafft und durch etwas anderes hätten ersetzt werden sollen. Das ist was ganz Elementares. Davon kann man nicht so einfach abstrahieren.
Köhler: Was denken Sie, wir können hier schon eine Geschichte der kulturellen Bearbeitung des deutschen Herbstes schreiben in Form von Kinofilmen, "Die bleierne Zeit", "Verlorene Ehre der Katharina Blum" und so weiter. Wird das jetzt mit den Begnadigungen zu einem Ende kommen oder wird es neuen Auftrieb bekommen, was denken Sie?
Kraushaar: Es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einem Ende kommen können, alleine schon deshalb nicht, weil von der ARD beginnend über Spiegel und Stern Serien für das Thema 30 Jahre deutscher Herbst in Vorbereitung sind. Das wird dann im September, Oktober dieses Jahres noch mal einen nicht unerheblichen Teil des Publikums halt beschäftigen. Aber auch danach wird es insofern keinen wirklichen Schlussstrich geben können, weil ja zum Teil bestimmte Mordfälle immer noch nicht aufgeklärt sind und zum anderen die gründliche zeithistorische Durcharbeitung und Bearbeitung immer noch aussteht, weil ja in der Regel die entscheidenden Dokumente erst nach 30 Jahren freigegeben werden.