Dina Netz: Der österreichische Schriftsteller und Komparatist Raoul Schrott hat die Homer'sche "Ilias" neu übersetzt. Das Ergebnis wird im Hanser Verlag erscheinen und eine Hörspielfassung läuft im Deutschlandfunk wieder an Silvester und Neujahr. Jetzt hat sich ein Streit entzündet, und zwar nicht an der Übersetzung von Raoul Schrott, sondern an den Recherchen, die er im Zuge der Übersetzung gemacht hat und die ihn zu ganz neuen Schlüssen über die Ilias und auch über Homer kommen lassen. Zu lesen war das vor einer Woche in der "FAZ". Ganz kurz zusammengefasst, lauten diese Schlüsse so: Homer war ein bei den Assyrern beschäftigter Schreiber und die Ilias spielt in Wahrheit in Kilikien, in der heutigen Türkei. Der Basler Gräzist Joachim Latacz hat gestern hier in unserer Sendung die Thesen von Raoul Schrott hinterfragt. Er hat selbst die Neuübersetzung der "Ilias" wissenschaftlich begleitet, ein Jahr lang, ist dann aber ausgestiegen. Der gravierendste Vorwurf, den Latacz gestern formuliert hat, ist der des Dilettantismus. Schrotts Veröffentlichung in der "FAZ" sei Fantasie. Ich habe Raoul Schrott gefragt: Was antworten Sie Herrn Latacz?
Raoul Schrott: Tja, was soll man da sagen? Was den Dilettantismus betrifft, so könnte man ja auch sagen, Schliemann wäre ein Dilettant gewesen [...] etc. All diese Dinge heißen eigentlich nichts anderes letztlich, als dass man einen anderen frischen Blick auf ein Dogma werfen kann, von dem Herr Latacz halt, der sicher ein sehr guter, griechischer Grammatiker ist, aber von den neuesten Erkenntnissen der Assyrologie und der Hethitologie, da hat er halt wenig Ahnung. Und er ist halt einer der letzten inzwischen auch pensionierten Vertreter eines Homer-Bildes, das letztlich in der Klassik entstand, das halt am Geniebegriff festhalten will. Und ich kann mich an einen langen Briefwechsel mit ihm immer erinnern, dass er vor allem die Fragen, die ich aufgeworfen habe und die letztlich durch die Kilikische These sozusagen ziemlich schlüssig zu belegen sind, eigentlich nie eine Antwort hatte, was letztlich immer die Reaktion von Dogmatikern ist. Die vielen Dinge, die ich vorgelegt habe, die zu hinterfragen, glaube ich, wäre ganz spannend und wäre auch im Sinne von Wissenschaft zu verstehen, nämlich sich die neuen Argumente anzuhören, die abzuklopfen, das Ganze ein bisschen besonnener anzugehen und nicht gleich vom Tisch zu wischen. Das wäre eigentlich eine angemessene Reaktion.
Netz: Herr Latacz hat gestern hier in unserer Sendung auch ein paar ganz handfeste Argumente ins Feld geführt, zum Beispiel das chronologische Argument, also Kilikien sei halt nicht, wie Sie sagen, der Schauplatz der Ilias gewesen, denn die Stadt Karatepe in Kilikien sei noch gar nicht gegründet gewesen zum Zeitpunkt des Ilias-Feldzugs. Und außerdem sieht Herr Latacz auch gar keinen Sinn darin, dass die Griechen Karatepe angegriffen hätten, eine Stadt, 800 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, ohne Zugang zum Meer?
Schrott: Ja, da sind halt die verschiedensten Dinge. Zum einen ist Herr Latacz immer noch einer, der die Ilias im achten Jahrhundert ansetzt, womit er ziemlich inzwischen alleine dasteht. Da hat sich unter den jüngsten Kennern eine Datierung auf 660 durchgesetzt. Und ich habe auch nicht behauptet, dass die Griechen Karatepe angegriffen haben, sondern dass die Revolte der Griechen gegen die Assyrer, die sich dort Anfang des siebten Jahrhunderts abspielte, dass all diese Dinge mit hineinprojiziert wurden in den alten, in den uralten Trojastoff, der quasi wie ein Zeithorizont mit modernen Dingen durch Homer versehen wird. Und das ist das eigentlich Spannende daran. Das heißt, man nimmt der alten Troja-These nichts weg. Aber man tut das damit, was dann letztlich jeder Dichter in den letzten paar Tausend Jahren getan hat, nämlich eine Geschichte zu erzählen, die da auch Zeitrelevanz besitzt. Und die Zeitrelevanz dieses Stoffes ist in dem Maße, wie Homer seine eigene Lebenswirklichkeit da unterbringt, all das auszubreiten, das ist Thema meiner Recherche gewesen, die jetzt in ein paar Monaten dann vorliegen wird, auf 400 Seiten mit Abertausenden von Fußnoten, in denen ich als vergleichender Literaturwissenschaftler all die Erkenntnisse der einzelnen Fachgebiete zusammengetragen habe, weil sie ein ziemlich schlüssiges Bild erlauben von dem, was die Ilias damals darstellte, und vor allen Dingen Fragen beantworten können, die man bis jetzt nicht beantworten konnte.
Netz: Ist das also im Grunde, Herr Schrott, ein bisschen auch eine Generationenfrage, so wie Sie das eingangs geschildert haben, dass es einfach darum geht, dass heute Erkenntnisse verfügbar sind, die manche nicht ganz wahrhaben wollen?
Schrott: Das, glaube ich, haben Sie jetzt sehr präzise formuliert. Unter den jüngeren Wissenschaftlern, die ich kenne, ist, dass Homer ein Schreiber gewesen sein könnte. Der ganze assyrische Hintergrund ist bei Weitem nichts neues. Vor allen Dingen aber auch, weil erst in den letzten zehn Jahren die ersten Studien zu Kilikien aufgetaucht sind, man sich näher damit befasst hat, man sich dessen multikulturellen Hintergrundes bewusst ist, Homer auch darin situieren kann. Und vor allen Dingen der ganze Einfluss des Ostens auf Homer und auf die griechische Kultur überhaupt auch erst in den letzten zehn, 20 Jahren, durch wirklich so vielseitige Gelehrte wie Walter Burkert oder Martin West in den Vordergrund gestellt wurden. All das ist natürlich ein Bild, das dem alten eurozentristischen Bild eines Homer, das quasi Mittelpunkt der abendländischen Kultur ist, völlig widerspricht, aber dem gleichzeitig eine neue Relevanz verleihen kann. Denn das Bild eines Homer, das also nur ein Genie ist, der quasi einen Gesang vollkommen von alleine erfindet, das aus originalschöpferischen Dingen tut, völlig ohne jeden Kontext, das ist eines, das letztlich nicht weit führt.
Raoul Schrott: Tja, was soll man da sagen? Was den Dilettantismus betrifft, so könnte man ja auch sagen, Schliemann wäre ein Dilettant gewesen [...] etc. All diese Dinge heißen eigentlich nichts anderes letztlich, als dass man einen anderen frischen Blick auf ein Dogma werfen kann, von dem Herr Latacz halt, der sicher ein sehr guter, griechischer Grammatiker ist, aber von den neuesten Erkenntnissen der Assyrologie und der Hethitologie, da hat er halt wenig Ahnung. Und er ist halt einer der letzten inzwischen auch pensionierten Vertreter eines Homer-Bildes, das letztlich in der Klassik entstand, das halt am Geniebegriff festhalten will. Und ich kann mich an einen langen Briefwechsel mit ihm immer erinnern, dass er vor allem die Fragen, die ich aufgeworfen habe und die letztlich durch die Kilikische These sozusagen ziemlich schlüssig zu belegen sind, eigentlich nie eine Antwort hatte, was letztlich immer die Reaktion von Dogmatikern ist. Die vielen Dinge, die ich vorgelegt habe, die zu hinterfragen, glaube ich, wäre ganz spannend und wäre auch im Sinne von Wissenschaft zu verstehen, nämlich sich die neuen Argumente anzuhören, die abzuklopfen, das Ganze ein bisschen besonnener anzugehen und nicht gleich vom Tisch zu wischen. Das wäre eigentlich eine angemessene Reaktion.
Netz: Herr Latacz hat gestern hier in unserer Sendung auch ein paar ganz handfeste Argumente ins Feld geführt, zum Beispiel das chronologische Argument, also Kilikien sei halt nicht, wie Sie sagen, der Schauplatz der Ilias gewesen, denn die Stadt Karatepe in Kilikien sei noch gar nicht gegründet gewesen zum Zeitpunkt des Ilias-Feldzugs. Und außerdem sieht Herr Latacz auch gar keinen Sinn darin, dass die Griechen Karatepe angegriffen hätten, eine Stadt, 800 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, ohne Zugang zum Meer?
Schrott: Ja, da sind halt die verschiedensten Dinge. Zum einen ist Herr Latacz immer noch einer, der die Ilias im achten Jahrhundert ansetzt, womit er ziemlich inzwischen alleine dasteht. Da hat sich unter den jüngsten Kennern eine Datierung auf 660 durchgesetzt. Und ich habe auch nicht behauptet, dass die Griechen Karatepe angegriffen haben, sondern dass die Revolte der Griechen gegen die Assyrer, die sich dort Anfang des siebten Jahrhunderts abspielte, dass all diese Dinge mit hineinprojiziert wurden in den alten, in den uralten Trojastoff, der quasi wie ein Zeithorizont mit modernen Dingen durch Homer versehen wird. Und das ist das eigentlich Spannende daran. Das heißt, man nimmt der alten Troja-These nichts weg. Aber man tut das damit, was dann letztlich jeder Dichter in den letzten paar Tausend Jahren getan hat, nämlich eine Geschichte zu erzählen, die da auch Zeitrelevanz besitzt. Und die Zeitrelevanz dieses Stoffes ist in dem Maße, wie Homer seine eigene Lebenswirklichkeit da unterbringt, all das auszubreiten, das ist Thema meiner Recherche gewesen, die jetzt in ein paar Monaten dann vorliegen wird, auf 400 Seiten mit Abertausenden von Fußnoten, in denen ich als vergleichender Literaturwissenschaftler all die Erkenntnisse der einzelnen Fachgebiete zusammengetragen habe, weil sie ein ziemlich schlüssiges Bild erlauben von dem, was die Ilias damals darstellte, und vor allen Dingen Fragen beantworten können, die man bis jetzt nicht beantworten konnte.
Netz: Ist das also im Grunde, Herr Schrott, ein bisschen auch eine Generationenfrage, so wie Sie das eingangs geschildert haben, dass es einfach darum geht, dass heute Erkenntnisse verfügbar sind, die manche nicht ganz wahrhaben wollen?
Schrott: Das, glaube ich, haben Sie jetzt sehr präzise formuliert. Unter den jüngeren Wissenschaftlern, die ich kenne, ist, dass Homer ein Schreiber gewesen sein könnte. Der ganze assyrische Hintergrund ist bei Weitem nichts neues. Vor allen Dingen aber auch, weil erst in den letzten zehn Jahren die ersten Studien zu Kilikien aufgetaucht sind, man sich näher damit befasst hat, man sich dessen multikulturellen Hintergrundes bewusst ist, Homer auch darin situieren kann. Und vor allen Dingen der ganze Einfluss des Ostens auf Homer und auf die griechische Kultur überhaupt auch erst in den letzten zehn, 20 Jahren, durch wirklich so vielseitige Gelehrte wie Walter Burkert oder Martin West in den Vordergrund gestellt wurden. All das ist natürlich ein Bild, das dem alten eurozentristischen Bild eines Homer, das quasi Mittelpunkt der abendländischen Kultur ist, völlig widerspricht, aber dem gleichzeitig eine neue Relevanz verleihen kann. Denn das Bild eines Homer, das also nur ein Genie ist, der quasi einen Gesang vollkommen von alleine erfindet, das aus originalschöpferischen Dingen tut, völlig ohne jeden Kontext, das ist eines, das letztlich nicht weit führt.