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Die Reform der Reform in Baden-Württemberg: Neues Oberstufensystem an Allgemeinbildenden Gymnasien bringt mehr Lernstress

Sie gilt als "Reform der Reform": Die neue Oberstufenstruktur in den Klassen zwölf und dreizehn an den Allgemeinbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg. Als erstes Bundesland hat sich, seit Beginn dieses Schuljahres, Baden-Württemberg weitgehend von dem klassischen System von Leistungs- und Grundkursen verabschiedet. Stattdessen gibt es Kernkompetenzfächer, Profilfächer und Neigungsfächer; die sollen ein deutliches "Mehr" an Allgemeinbildung und Studienkompetenz vermitteln. Doch die "Reform der Reform" im Südwesten steht auch in der Kritik von Schülern und Eltern, die sich über höheren Lerndruck und schlechte Noten beklagen. In Überlingen am Bodensee hat sich Thomas Wagner in der Klassenstufe zwölf, in der seit Schuljahresbeginn erstmals die "Reform der Reform" verwirklicht wird, umgehört

Autor: Thomas Wagner |
    Der Gong kündigt das Ende der Großen Pause an: So macht Schule Spaß: Englischunterricht in der Klassenstufe zwölf im Internet-Raum des Gymnasiums Überlingen. Per Internet stellen die Schülerinnen und Schüler Recherchen zur Geschichte des "British Empire" an - eine willkommene Abwechslung im Schulalltag. Der nämlich ist , nach Einführung der neuen Oberstufenstruktur an den Allgemeinbildenden Gymnasien Baden-Württembergs, nun deutlich länger geworden.

    Also es verändert sich so viel, dass die Schüler nun mehr Unterricht haben als bisher, so in der Regel zwischen zwölf und 15 Prozent, aufgrund der Tatsache, dass sie mittlerweile fünf Fächer belegen müssen mit vier Stunden, worunter drei Kernkompetenzfächer sind, so ist die Bezeichnung, Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache muss jeder belegen, dazu muss er ein Pflichtfach und ein Neigungsfach belegen.

    So Lothar Fritz, Schulleiter am Gymnasium Überlingen. Fünf Fächer zu jeweils vier Wochenstunden treten an die Stelle der bisherigen zwei Leistungskurse zu jeweils fünf Stunden; die Wahlfreiheit wurde erheblich eingeschränkt. Und auch bei der Wahl der Grundkurse mit zwei Wochenstunden gelten erheblich strengere Regeln als bisher: Geschichte, Gemeinschaftskunde, Erdkunde, Religion und zwei Naturwissenschaften sind bis zum Abitur Pflicht; Abwahl nicht mehr möglich; hinzu kommt entweder Bildende Kunst oder Musik. Da sind schnell mal 35 Unterrichtsstunden pro Woche zusammen, Hausaufgaben und Pauken auf Klausuren nicht mitgerechnet. Klar, dass viele der betroffenen Schüler darüber motzen. Aber es gibt - überraschend - auch andere Stimmen. Antje Struckert, Zwölftklässlerin in Überlingen:

    Also ich denke, die Reform bringt eigentlich viele Vorteile, weil wir wirklich besser auf die Universitäten vorbereitet werden und der Standard an den Universitäten sehr stark gesunken ist, die Schüler Schwierigkeiten hatten, selbständig zu lernen, und einfach mit der Allgemeinbildung nicht mehr die Voraussetzungen für die Universität gebracht haben. Von daher finde ich, dass die Reform viele Vorteile bringt, so dass sich für uns eigentlich dieser Arbeitsaufwand lohnt.

    Dennoch üben die Schüler Kritik. Mit den fünf Fächern, die vierstündig unterrichtet werden, zeigt sich Isabel Pfaff, ebenfalls Zwölftklässlerin und Mitglied im baden-württembergischen Landesschülerbeirat, zwar einverstanden. Aber:

    Was mich nervt an der Sache ist, dass halt so Sachen wie BK, Bildende Kunst, oder diese zweite Naturwissenschaft, das sind diese Sachen, die man jetzt machen muss, die einfach jetzt noch zu diesem größeren Arbeitsaufwand dazukommen. Und ich meine, die sind nicht so nötig. Die kosten einfach nur Zeit und Arbeit.

    Anna-Lena Schott, die ebenfalls die zwölfte Klassenstufe besucht, ärgert sich darüber,...

    ...dass zudem Mathematik und Naturwissenschaften größerer Raum eingeräumt wird als den Sprachen, den Fremdsprachen, und der Schwerpunkt daher zwangsläufig eher auf den Naturwissenschaften liegt.

    Tatsächlich schreiben die neuen Regeln verbindlich bis zum Abitur zwei Naturwissenschaften, aber nur eine Fremdsprache vor. Wer zwei Sprachen wählt, bekommt im Gegenzug keine Naturwissenschaft "erlassen" - ein Nachteil, finden die sprachorientierten Schüler. Die Eltern sehen einen Nachteil vor allem in dem erhöhten Schulstress, den die "Reform der Reform" mit sich bringe.

    Den Nachteil, den ich sehe, ist, dass die Schüler jetzt ungeheuer viel Zeit in der Schule verbringen. Es bleibt dadurch weniger Zeit für andere Aktivitäten, die ja auch allgemeinbildend sind unter Umständen. Musik, Sport und so etwas, das wird zunehmend aufgegeben von den Schülern, weil sie's zeitlich einfach nicht mehr schaffen.

    So die Befürchtung von Elternvertreterin Renate Hanschke. Angela Ott, Vorsitzende des Gesamtelternbeirates am Gymnasium Überlingen, fürchtet gar um die Zukunftschancen der jetzigen Zwölftklässler: Mehr Druck, mehr Stress - das bedeutet schlechtere Noten bei Klausuren und Prüfungen.

    Es wurde ja auch von den Schülern jetzt schon mitgeteilt, dass sie Angst haben, dass sie in ihren Abschlüssen schlechter dastehen, als Gymnasiumsabgänger von anderen Schulen, dass jetzt die Noten schlussendlich schlechter aussehen.

    Die Befürchtung kommt nicht von ungefähr: Denn die neuen Regelungen gelten nur an den Allgemeinbildenden, nicht aber an den beruflichen Gymnasien Baden-Württembergs. Und: Schüler aus anderen Bundesländern schaffen, so die Befürchtung, im alten Kurssystem mit weniger Aufwand bessere Abschlussnoten. Deshalb befürchten die betroffenen Eltern bei Bewerbungen um Jobs und Studienplätzen nach dem Abi gravierende Nachteile für ihre Zöglinge. Ihre Forderung: Eine Reform der Reform der reformierten Oberstufe - doch ob die so schnell kommt, steht in den Sternen.