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Die reine Malerei

Er galt als der Vater Impressionisten, und er war auch der älteste unter ihnen: Der heute vor 175 Jahren auf den Antillen geborene Maler Camille Pissarro. Mit der delikaten Farbkunst Pissarros begann die Zeit der reinen Malerei, die von den Impressionisten verfeinert wurde und später in der Kunst von Bonnard, Matisse und Delaunay ihre Höhepunkte finden sollte.

Von Rainer Berthold Schossig | 10.07.2005
    Im Herbst des Jahres 1877 malte Camille Pissarro eines seiner wohl schönsten Bilder: Ein tiefer Blick in bunt gefärbte Gärten, die sich im ersterbenden Abendlicht zwischen unbedeutenden Häusern einen sanft geschwungenen Hügel hinaufziehen. Pissarro gab dem kleinen Bild den Titel "Die roten Dächer". Ihn interessierte nur dieses rostige Rot, das verstreut auf dem ganzen Bild, im Laub der Bäume, im aufgebrochenen Boden immer wiederkehrt und mit unendlich vielen müden Grüntönen einen melancholischen Komplementär-Kontrast bildet. Auch wenn Pissarro Menschen, Kühe oder Kutschen malte, so hatte er doch immer nur ein Thema: Die Farbe - ihre Wärme, ihre Kälte, ihre Weichheit, ihre Härte, ihr Gewicht, ihr Duft. All dem widmen sich seine Bilder - verhalten, und doch voller Hingabe. Noch radikaler könnte man sagen: Es ging Camille Pissarro nur um eines: Um die Malerei.

    " Noch nie schienen mir Bilder von meisterlicherer Größe zu sein. Man vernimmt in ihnen den tief tönenden Ruf der Erde, man spürt das machtvolle Leben der Bäume. Ein Blick auf solche Werke genügt, um zu erfassen, dass ein Mann in ihnen steckt, eine gerade und kraftvolle Persönlichkeit, die - unfähig zur Lüge - aus der Kunst eine reine und ewige Wahrheit macht. "

    So hat der Romancier Emile Zola schon anno 1868 über Pissarros Malerei geschwärmt, als "Père Pissarro", wie ihn seine Malerjünger später nannten, selber ein junger Mann war, und der Impressionismus noch in den Kinderschuhen steckte. Diese "gerade und kraftvolle" Persönlichkeit war in Wahrheit ein höchst exotischer Vogel, wie der Impressionismusforscher John Rewald bemerkt:

    " Als Camille Pissarro auf Saint Thomas, einer der westindischen Jungfern-Inseln, in der Nähe von Puerto Rico, geboren wurde, gehörte die Insel zu Dänemark. So war der Künstler tatsächlich sein ganzes Leben lang dänischer Bürger. Seine Mutter war eine Kreolin, sein Vater, Abraham Gabriel Pissarro, stammte von portugiesischen Juden ab. Jacob, einer seiner Söhne, der am 10. Juli 1830 zur Welt kam, wurde berühmt unter dem Namen Camille Pissarro. "

    Der Vater wollte, dass Jacob Kaufmann auf den Antillen würde, doch schließlich gab er dem Betteln des sensiblen Jungen nach und schickte ihn, mit einem Künstlerstipendium ausgestattet, nach Paris. Und hier beginnt alsbald die Erfolgsgeschichte des Camille Pissarro. Der Bekanntenkreis des jungen Einwanderers liest sich bald wie das "Who is Who" des französischen Impressionismus: Corot und Monet, Manet und Cézanne; später kommen Guillaumin, Gauguin und Seurat hinzu. Der deutlich jüngere Maler Paul Cézanne, mit dem Pissarro lange Zeit eine Ateliergemeinschaft hatte, spricht von seinem älteren Kollegen immer nur als dem "demütigen und riesengroßen Pissarro". Doch auch Pissarros Palette verdankt dieser Zusammenarbeit einen Zuwachs an Lebendigkeit und Freiheit.

    " Er tränkt seine geringsten Bilder mit Leben; und wenn man ein denkbar schlichtes Sujet von ihm, etwa eine mit jungen Ulmen umsäumte Straße betrachtet, fühlt man sich allenthalben von dem melancholischen Empfinden durchdrungen, das er selbst beim Anblick des Naturmotivs empfunden haben mag. "

    So der Kunstkritiker Theodore Duret über Pissarro. Doch für solches Lob kann der mehrfache Familienvater sich nichts kaufen. Erschütternd zu lesen, wie er noch 1877 verzweifelt darauf besteht, Bilder im Format von 73 x 60 cm nicht unter 100 Francs zu verkaufen. Ein Jahr später muss er, der Not gehorchend, gleich zwei Gemälde dieses Formats zu je 50 Francs weggeben. Resigniert schreibt er an einen Freund:

    " Wann komme ich endlich aus dieser Klemme heraus, wann kann ich mich ruhig meinem Arbeitsdrang hingeben? Meine Studien entstehen unfroh, weil ich denke, dass ich die Kunst aufgeben und einen anderen Broterwerb suchen muss. Traurig! - Aber, wozu braucht man Kunst? Kann man sie essen? - Nein. Na also! "

    Obwohl von seinen Künstlerfreunden verehrt, galt Pissarros Werk im Frankreich der Salonkunst nichts. Erst um 1900 konnte der 70-Jährige, den eine Augenkrankheit zunehmend am Malen hinderte, einige Früchte seiner künstlerischen Arbeit ernten. Weltweit stiegen sein Ruf und seine Preise. Dennoch blieb der hagere Maler mit dem flatternden, grauen Sauerkrautbart bis zu seinem Tode im Jahre 1903 ein stiller, ein sanfter Avantgardist. Mit seiner unaufgeregten, samtweichen Malkunst spekulierte er nicht auf den ersten, schnellen Blick. Camille Pissarro war unendlich bescheiden:

    " Ich kann immer erst auf die Dauer gefallen, sofern derjenige, der mich betrachtet, nur ein Körnchen Nachsicht besitzt. Für ein schnell darüber hinweg gleitendes Auge ist alles zu jäh; es erfasst nur die Oberfläche, hat keine Zeit, geht vorüber. "