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Die Reise der leeren Flaschen

Der Ich-Erzähler heißt Bolfazl, er ist ein politischer Flüchtling aus dem Iran und lebt jetzt mit seiner Familie in einem holländischen Dorf. Man hat es hier mit einem Stück Migrantenliteratur zu tun, und es versammelt so ziemlich alle Themen und Topoi, die in dieser Literatur eine Rolle spielen; als Stichworte könnte man Begriffspaare nennen wie Heimat - Fremde; Wärme - Kälte; Geselligkeit - Einsamkeit; Vergangenheit - Gegenwart. Bolfazl pendelt zwischen zwei Kulturen: die iranische Vergangenheit begleitet ihn in Form von Erinnerungen und von Geschichten aus seiner ehemaligen Heimat - dafür ist gegenwärtig, in den Niederlanden, alles für ihn neu, von den Wassergräben und den Kühen auf den Deichen bis zu den Nachbarn, die kaum bekleidet durch die Gegend laufen. Die erfahrenen Widersprüche sind nicht nur äußerlich, sondern beeinflußen natürlich auch Bolfazls innere Existenz. Er ist aus einem aktiven und geachteten Mann zu einem Nichts geworden, seine Frau kann ohne ihn auskommen, die Familie scheint auseinanderzufallen. Anfälle von Heimweh wechseln mit dem Wunsch, sich alsbald in Holland heimisch zu fühlen und Schlittschuhlaufen zu lernen. Kader Abdolah erzählt die Geschichte einer vorsichtigen Integration, die dahin führt, daß ein Flüchtling sich am neuen Wohnort zu Hause fühlt, weil er die Sprache gelernt hat, weil dort Bekannte und Freunde von ihm wissen, weil sie seine Geschichten kennen, und weil neue Geschichten dazukommen. Bolfazls erster Freund, ein homosexueller Nachbar, Zeichner und Bildhauer, verschwindet eines Tages, und es stellt sich heraus, daß er Selbstmord begangen hat. Dieser zweite Verlust - erst der der Heimat, dann der des Freundes, scheint den Protagonisten dahin zu bringen, im eigentlichen Sinn in Holland anzukommen; beinahe trotzig heißt es, Zitat: "Rene mag weg sein, ich jedenfalls bin da."

Sabine Peters |
    Kader Abdolah wurde 1954 im Iran in einer Familie von Schriftstellern geboren; er mußte aufgrund seiner politischen Aktivitäten fliehen und kam 1988 in die Niederlande. Abdolah, dessen Name ein Pseudonym aus denen zweier ermordeter Freunde ist, hat sich die fremde neue Sprache sehr bald zu eigen gemacht und auf holländisch zwei Erzählungsbände, einen Roman und eine Sammlung politischer Essays publiziert. Mit dem Titel des neuen Romans, "die Reise der leeren Flaschen" spielt der Autor auf eine Erinnerung seines Helden an sein Heimatdorf in den iranischen Bergen an: der Großvater verwahrte alle leeren Flaschen, die seine Vorfahren und Angehörigen aus diversen Anläßen ausgetrunken hatten; in ihnen ist die Vergangenheit aufgehoben. Auch wenn man die Flaschen wegwirft, etwa in einen Fluß, wie es Bolfazls Großmutter tut, sie verschwinden nicht, sie tauchen irgendwo wieder auf - kurz, die leeren Flaschen stehen für gelebtes Leben, das man nicht einfach zurückläßt.

    "Migrantenliteratur" ist längst keine Literatur der Nische mehr, die lediglich ein Minderheitenpublikum anspricht, eins, das ähnliche Erfahrungen kennt wie die jeweiligen Autoren. Es gibt inzwischen durchaus auch die einheimischen Leser, die vom eigenen stabilen Platz aus fasziniert sind vom modernen Nomadentum, zumal, wenn es nicht im Gewand der Betroffenheitsliteratur daherkommt, sondern wenn ein Autor Geschichten und Märchen aus dem Orient zu erzählen verspricht. Die Gefahr, Romane des Genres "Migrantenliteratur" auf ihre folkloristischen, exotischen Momente zu reduzieren, liegt nahe. Eine andere Gefahr des Genres liegt darin, daß es eine Tendenz zur Klischierung hat: der steinige Weg des Heimischwerdens im Fremden, der Weg durch Nacht zum Licht. Das heißt, wenn ein Autor sich der Thematik der Migration zuwendet, ist sein Gestaltungsspielraum ziemlich eng.

    Bei der Lektüre von Kader Abdolahs Roman hat man den Eindruck, der Autor hat trotz oder gerade wegen des geringen Spielraums seine Ausdruckskraft gesteigert. Dabei ist "die Reise der leeren Flaschen" ein leises Buch, das von Anklängen und Schwingungen lebt. Vielleicht kann man diese halben Töne als Ausdruck der Deterritorialisierung verstehen; ein flacher, fast armer Wortschatz, der aber in seiner Intensität zu vibrieren beginnt. Dem Satz von Humboldt, wonach die wahre Heimat eigentlich die Sprache sei, möchte man hinzufügen, daß es für Autoren aber immer auch darauf ankomme, in ihrer Sprache Nomaden und Fremde zu sein. Abdolah scheint sich, auch wenn er das Holländische natürlich beherrscht, diese Fähigkeit bewahrt zu haben; vielleicht hat die Suggestionskraft seines Romans auch nichts mit der noch neuen ungewohnten Sprache Niederländisch zu tun, sondern nur damit, daß hier ein Autor sorgsam auf engem Raum mit seinem Material hantiert. Man erfährt in diesem Buch vieles nicht, viele Geschichten enden abrupt, es sind Splitter, Bruchstücke von Leben. Die besten der hier vorgeführten Momentaufnahmen enthalten die ganze Spannung, die das Leben zwischen zwei Kulturen bedeutet. Einmal z.b. wird Bolfazl von seiner Mutter besucht; sie sieht im Nachbarhaus zwei nackte Männer miteinander im Bett liegen und muß sich ihrem Glauben nach waschen, um sich von dem unreinen Anblick zu reinigen. Die Mutter eilt ins Badezimmer, und dann heißt es, Zitat, ">Wasser, wo steht das Wasser? <, rief sie, während sie die Ärmel hochkrempelte. Ich drehte den Warmwasserhahn auf." Kader Abdolah beläßt es bei solchen Miniaturen, und er vermeidet auch den Kommentar. Sein Buch ist nicht streitbar; es geht dem Ich-Erzähler beispielsweise nicht darum, eine neue Identität in Abgrenzung von der der Holländer zu finden. Bolfazl findet seine Nachbarn in aller Milde komisch bedrohlich sind sie offenbar nicht für ihn. Als deutscher Leser kann man sich fragen, ob der im ganzen gelassen verlaufende Prozeß der Integration so vielleicht in den Niederlanden, nicht aber bei uns stattfinden kann - oder ob es dem Autor einfach nicht daran gelegen hat, auch bei den Holländern Fremdenfeindlichkeit aufzuzeigen.

    "Die Reise der leeren Flaschen" ist ein unaufgeregtes Buch, dessen Autor hier nicht als "Sprecher" der Migranten oder als "Repräsentant" ihrer Interessen auftritt. Man liest dieses Buch zuerst als Literatur mit einem eigenen Ton und einer eigenen Dynamik. Der Respekt vor Leuten, die gezwungenermaßen die Widersprüche zwischen zwei Lebensformen erfahren und im besten Fall produktiv machen, dieser Respekt stellt sich nebenher ein.