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Die Risiken der Bürgerlichkeit

"Spiegel"-Journalist Dirk Kurbjuweit macht bereits seit 1995 auch als Romanautor von sich reden. In seinem neuen Buch "Angst" verarbeitet er ein autobiografisches Erlebnis: Vor zehn Jahren wurde seine Familie Opfer eines Stalkers.

Von Ralph Gerstenberg | 02.05.2013
    Es beginnt mit dem Ende. Randolph Tiefenthaler besucht seinen Vater im Gefängnis. Der sitzt dort, weil er Tiefenthalers Nachbarn erschossen haben soll. Tiefenthaler selbst ist nicht unschuldig an der Tat. Wie es dazu kam? Tiefenthaler wird es erzählen - die Geschichte eines Mordes.

    Als einen klassischen Psychothriller will Dirk Kurbjuweit seinen Roman "Angst" jedoch nicht verstanden wissen, auch wenn die Geschichte, die er erzählt, durchaus an bekannte Sujets der Spannungsliteratur erinnert.

    "Ja, das stimmt, wobei ich Spannung ja auch schnell erstmal rausnehme, indem ich sage: Das ist die Tat, die steht am Anfang. Trotzdem, ich lese jetzt immer 'Psychothriller' - damit kann ich gut leben. Klar, hat es davon was, aber für mich ist es viel mehr, für mich ist es ein Bericht über die Risiken der Bürgerlichkeit."

    Der Ich-Erzähler Randolph Tiefenthaler, ein erfolgreicher Architekt, kauft für seine Familie eine Wohnung im Hochparterre eines Gründerzeithauses am südwestlichen Stadtrand von Berlin. Die Gegend ist gutbürgerlich, ein Villenviertel. Vor dem Kaufabschluss trifft man sich mit den Eigentümern der anderen Wohnungen, nur der Mieter der Souterrainwohnung, ein gewisser Herr Tiberius, fehlt bei der Zusammenkunft. Wäre er dabei gewesen, hätten die Tiefenthalers die Wohnung möglicherweise nicht gekauft.

    "Man sieht einen Menschen und denkt sofort: O Gott, mit dem möchte ich lieber nicht zusammenwohnen. Das sind natürlich dann nur äußerliche Attribute, die man sieht, aber er wirkte so seltsam auf mich damals, so befremdlich, dass ich tatsächlich dieses Gefühl hatte, ich hätte die Wohnung vielleicht tatsächlich nicht gekauft, wenn ich ihn gesehen hätte. Und glaube auch, dass man ihn uns deshalb nicht gezeigt hat. Insofern nehme ich mal an, dass die andern auch wussten, das ist ein schwieriger Typ, der da wohnt."

    Dirk Kurbjuweit macht keinen Hehl daraus, dass die Geschichte des zunächst unheimlich netten, Pizzas und Kekse backenden Mannes aus dem Souterrain, der sich bald darauf als wahnsinniger Stalker entpuppt, einen autobiografischen Hintergrund hat. Vor circa zehn Jahren war seine Familie den Drohungen und Verleumdungen, Belagerungen und Nachstellungen eines solchen Mannes ausgesetzt. Seine Frau und er wurden mit Anschuldigungen konfrontiert, ihre Kinder sexuell missbraucht zu haben. Alle Bemühungen, sich mit rechtsstaatlichen Mitteln dagegen zu wehren, liefen ins Leere.

    "Das ist bei Tiefenthaler und mir gleich: Wir sind unbedingte Verfechter des Rechtsstaats und glauben an ihn und liefern uns dem Rechtsstaat auch gerne aus. Es gibt ja diesen Deal, zu sagen: Wir geben das Gewaltmonopol an euch, wir verzichten komplett auf Gewalt. Und das macht ihr, der Staat. Ihr seid dafür zuständig. Das empfinde ich immer noch als einen der besten Deals der Menschheit, der gerade für friedliche Menschen eine Notwendigkeit darstellt, um in einem Staat, in einer Stadt existieren zu können. In dem Fall - das mussten Tiefenthaler und ich erleben - gibt es auch eine Lücke. Manchmal ist der Rechtsstaat nicht da, wenn man ihn braucht. Ich war oft bei der Polizei: Helft uns! Wir sind in Not, wir sind bedroht. Und es hieß immer: Solange er nicht gewalttätig wird, körperlich gewalttätig, können wir euch nicht helfen, können wir nichts machen."

    "Angst" heißt Kurbjuweits Roman. Und genau darum geht es: um existenzielle Ängste. Schon in frühester Kindheit hatte Tiefenthaler Angst, dass ein Familienmitglied vom Vater, einem Sportschützen und cholerischen Waffennarren, erschossen werden könnte. Nun hat er Angst, dass seiner Frau und seinen Kindern etwas von dem Mann im Souterrain angetan wird. Zudem fürchtet Tiefenthaler um seine bürgerliche Existenz, die er sich aufgebaut hat, auf die er stolz ist. Durch die schwerwiegende Anschuldigung des Kindesmissbrauchs und die Drohung des Stalkers, die Boulevardpresse darüber zu informieren, könnte das gesellschaftliche Ansehen der Tiefenthalers Schaden erleiden.

    "Das Bürgerliche hat immer was Fragiles, Prekäres. Es steckt nicht wie beim Adel eine tausendjährige Familiengeschichte dahinter, an der man sich festhalten kann. Im Bürgerlichen findet man sich halt zusammen, geschichtslos, und muss alles selbst sich erarbeiten, muss seine Familie selbst zusammenhalten, es gibt nicht diese Stützung von außen. Und dann ist auch wichtig für das Bürgertum: Reputation, der Ruf."

    In seinem Roman zeigt Kurbjuweit, wie groß die Angst des Aufsteigers vor dem Fall ist und wie dünn der Firnis der Zivilisation. Wenn der Rechtsstaat versagt, wird der brave Bürger zum Barbaren. Wenn die Justiz nicht eingreift, tritt die Selbstjustiz an ihre Stelle. Am Ende scheint Gewalt tatsächlich die Lösung zu sein. Tiefenthalers Welt, selbst seine Ehe, die vor dem Stalking in eine tiefe Krise geraten war, scheint gerettet zu sein.

    "Und da stellt er sich dann die Frage: Kann das Gute so aus dem Bösen kommen? Und: Habe ich jetzt tatsächlich das Gelingen meiner Ehe diesem Stalker zu verdanken. Das ist ja ein ganz fürchterlicher Gedanke und er treibt ihn sehr weit, indem er einmal sagt: Danke, Herr Tiberius! Vielen Dank dafür! Ja, das geht dann sehr weit in das Unerträgliche. Aber ich finde, so ein Roman, der muss dann auch wehtun. Der muss auch eine Zumutung sein. Ja, das sind so Passagen, wo ich sagen würde: Das ist eine Zumutung für alle."

    Dirk Kurbjuweit lässt seiner Hauptfigur viel Raum zum Räsonieren. Die bürgerliche Welt, die er beschreibt, erscheint wie ein zur Karikatur geratenes Klischee der Gediegenheit, und allzu viele Figuren fungieren als Stichwortgeber in Rotweinrunden. Die Zuspitzung der Handlung zur Mordtat ist ein guter Ansatz, um die eigene Erfahrung mit erzählerischen Mitteln zu abstrahieren.

    Leider geht Kurbjuweit diesen Weg zu zögerlich. Die Ängste, die Wut und die Verzweiflung der Stalkingopfer verlieren durch die Rekapitulation und das Reflektieren ihre emotionale Wucht. Dennoch wirft das Buch wichtige Fragen nach den Grenzen des Rechtsstaates auf, thematisiert Selbstjustiz als Problemlösung und zeigt Menschen in einer Ausnahmesituation, in die gewiss niemand geraten möchte.

    Dirk Kurbjuweit: "Angst"
    Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 18,95 Euro